19. Kapitel

Holden

»Es ist lieb, dass du eingesprungen bist, nachdem Peter nicht konnte«, sagt Gemma, als wir aus der Praxis nach draußen treten.

Nach den angenehm klimatisierten Räumen ist die Luft draußen wie eine Wand aus Hitze und Feuchtigkeit. Aber was will man Anfang August auch anderes erwarten?

»Kein Problem«, erwidere ich, während ich mir die Sonnenbrille aufsetze. »Und dir geht’s wirklich gut?«

Meine Schwester lacht leise. Anscheinend findet sie meine Besorgnis amüsant. Wenigstens ist sie nicht mehr genervt davon, also verbuche ich das als Fortschritt.

»Du hast meine Ärztin gehört. Außerdem war das nur eine Vorsorgeuntersuchung. Dem Baby und mir geht es blendend. Mach dir keine Sorgen.«

»Leichter gesagt als getan«, murmle ich und setze mich in Bewegung.

Die Praxis liegt östlich vom Zentrum in einer wohlhabenderen Gegend Bayvilles, in der es nur so von Arztpraxen, Anwaltskanzleien und Steuerberatungen wimmelt. Entsprechend ruhig ist es, als wir die Straßen entlanglaufen. Wenig Autos. Keine Touristen. Kein Gewusel wie in der Stadtmitte oder an der Hafenpromenade im Westen.

Ich reibe mir über das unrasierte Kinn – und zucke zusammen, als ich die aufgeplatzte Stelle an meiner Unterlippe berühre. Autsch. Wenigstens verdeckt der Bart den Bluterguss an meinem Kiefer, aber die Lippe tut noch immer weh, dabei ist die Begegnung mit Embers Vater mittlerweile drei Tage her. Zum Glück haben Mom und Gemma die Wunde hingenommen, ohne unangenehme Fragen zu stellen. Doch die Sorge in ihren Augen verfolgt mich bis heute.

»Warum ist Peter eigentlich nicht wie geplant mitgekommen?«, frage ich und richte meine Aufmerksamkeit zurück auf meine Schwester.

Gemma wirft im Gehen einen schnellen Blick auf ihr Handy. »Ihm ist ein Termin mit einem neuen wichtigen Mandanten dazwischengekommen, aber ich habe ihm gesagt, dass wir uns in seiner Kanzlei treffen und von dort aus alle zusammen zu Mom zum Abendessen gehen. Außerdem hat direkt daneben dieser neue kleine Coffeeshop eröffnet, und ich brauche dringend Koffein.« Sie reißt die Hand hoch und drückt sie mir auf den Mund, bevor ich auch nur nach Luft schnappen kann. »Wehe, du sagst etwas gegen meinen Kaffee. Eine Tasse am Tag ist erlaubt, und ich hatte heute noch keinen. Lass mir diese Sucht!«

Schmunzelnd schiebe ich ihre Hand beiseite. »Das wollte ich gar nicht sagen.«

»Ich will auch nicht hören, wie widerlich du den Geschmack von Kaffee findest.«

»Auch nicht das, was ich loswerden wollte.« Beschwichtigend lege ich den Arm um ihre Schultern und führe sie den Gehweg hinunter. »Ich wollte nur sichergehen, dass du auf dich achtest und dich nicht übernimmst. Du könntest auch kurz warten, und ich hole den Pick-up und fahre …«

»Noch kann ich problemlos laufen. Außerdem sind wir fast da«, unterbricht sie mich trocken. »Und: Hast du mir nicht versprochen, nicht zum überfürsorglichen Bruder zu mutieren?«

»In deinen Träumen, Schwesterherz. Ich werde dich für die nächsten Monate in Watte packen. Und wenn das Baby erst mal da ist, werde ich mit meiner Nichte oder meinem Neffen das Gleiche tun.«

Und ihn oder sie vor der ganzen beschissenen Welt da draußen beschützen, so gut ich kann.

Gemma verdreht nur die Augen, gibt sich jedoch geschlagen. Allerdings entgeht mir das winzig kleine Lächeln nicht, das ihre Mundwinkel umspielt.

Na also.

Mein Handy meldet sich mit einem kurzen Vibrieren, und ich ziehe es hervor, um die neue Nachricht zu lesen.

Unbekannte Nummer, 17:51 Uhr

Tick Tack

Ich bleibe abrupt stehen, während Gemma einfach weiterläuft.

Was zur Hölle …?

Reifen quietschen. Ein Motor dröhnt auf. Aus dem Augenwinkel nehme ich eine Bewegung wahr. Alles geschieht wie in Zeitlupe – und gleichzeitig viel zu schnell.

»Gemma!« Ich renne los, auf die Straße, packe meine Schwester an der Taille und ziehe sie zurück.

Nur eine Sekunde, bevor das Auto sie frontal erwischt hätte.

»Oh mein Gott!« Sie zittert am ganzen Körper.

Wir sehen dem Wagen nach, der hinter der nächsten Kurve verschwindet. Kein Anhalten. Keine Entschuldigung. Nichts.

»Alles okay«, sage ich beruhigend und drücke meine Schwester fest an mich. Mein Puls rast, und ich bin mir ziemlich sicher, dass mir gerade für einen kurzen Moment das Herz stehen geblieben ist. »Alles ist gut. Ich hab dich.«

Ich spüre ihr Nicken an meiner Schulter.

»Bist du verletzt?« Behutsam schiebe ich sie auf Armeslänge von mir und betrachte sie prüfend von oben bis unten.

Sie legt schützend die rechte Hand auf ihren noch flachen Bauch und sieht an sich herunter. Ihr Gesicht ist leichenblass, ihre Augen sind vor Schock geweitet.

»N-Nein«, stößt sie schließlich hervor. »I – Ich … Ich denke … nicht. Mir ist nichts passiert.«

Schnelle Schritte nähern sich von der anderen Straßenseite.

»Gemma!« Eine Sekunde später ist Peter bei uns und nimmt seine sichtlich mitgenommene Frau in die Arme. »Ich hab das Auto gehört und euch durchs Fenster gesehen. Alles okay, Schatz?«

»Ja, aber jemand hätte sie beinahe angefahren«, antworte ich, weil Gemma noch immer unter Schock zu stehen scheint.

Peter reißt die Augen auf. »Wo ist der Fahrer? Ist er …«

»Er ist abgehauen.« Ich beiße die Zähne zusammen. Der verdammte Dreckskerl ist einfach weitergefahren, dabei muss er Gemma bemerkt haben. In ihrem bunt gemusterten Kleid ist sie nicht zu übersehen. Und dann noch die Nachricht an mich kurz vorher …

Das kann kein Zufall und auch kein unglücklicher Unfall gewesen sein. Das war Absicht.

Fuck . Allein beim Gedanken daran dreht sich mir der Magen um.

Peter wendet sich wieder an seine Frau. »Sicher, dass es dir gut geht? Sollen wir zurück zu deiner Ärztin gehen?«

Doch Gemma schüttelt den Kopf. »N-Nein, ich … ich denke nicht. Es ist nichts passiert. Zum Glück war Holden da.« Sie schenkt mir ein etwas zittriges, aber dankbares Lächeln. »Das war einfach nur ein gigantischer Schrecken. Normalerweise haben wir keine Raser auf der Insel.«

Nein, die haben wir nicht. Und ausgerechnet meine Schwester wird beinahe von einem unbekannten Auto mit viel zu hoher Geschwindigkeit auf offener Straße angefahren. In einem Viertel, in dem generell nur wenig Verkehr herrscht.

Wäre ich nicht bei ihr gewesen und hätte sie rechtzeitig weggezogen … Scheiße, ich will nicht mal an diese Möglichkeit denken. So wie der Typ gefahren ist, hätte das nicht mit einem Besuch in der Klinik geendet, sondern im Leichenschauhaus. Für Gemma und für ihr Kind.

Übelkeit breitet sich in mir aus, und ich balle die Hände zu Fäusten.

»Hast du gesehen, wer das war? Den Fahrer? Das Nummernschild?« Ganz der Anwalt feuert Peter eine Frage nach der anderen ab und zwingt mich auf diese Weise dazu, mich wieder voll und ganz auf die gegenwärtige Situation zu konzentrieren.

Ich räuspere mich. »Es war ein schwarzer Passat, aber er war zu schnell weg, um etwas zu erkennen, und Gemma hatte Priorität.«

Peter nickt, flucht jedoch unterdrückt. »Wir können Anzeige gegen unbekannt erstatten, aber …«

Aber wir wissen alle drei, dass das vermutlich nichts bringen wird. Wobei Peter meiner Schwester wahrscheinlich trotzdem dazu raten wird. Mit seinem Job kann er gar nicht anders.

»Es geht mir gut. Wirklich«, beteuert Gemma und schafft es sogar, wieder richtig zu lächeln. »Keine Ahnung, was das gerade war. Lasst uns einfach gehen. Ich möchte nicht, dass Mom sich unnötig Sorgen macht, wenn wir zu spät kommen.«

Peter nickt und legt ihr den Arm um die Schultern. Diesmal hat die Geste jedoch etwas Beschützendes an sich, was ich nur zu gut nachempfinden kann.

Ich sehe mich ein letztes Mal um und will mich gerade in Bewegung setzen, um den beiden zu folgen, als ich eine Gestalt am Ende der Straße bemerke.

Remi.