21. Kapitel

Ember

Taleisha winkt mir entgegen, als ich am Strand ankomme, und reckt eine Weinflasche wie eine Trophäe in die Höhe.

»Hi!«, rufe ich und laufe zu ihnen hinüber.

Shae, Taleisha und Camille haben es sich auf zwei großen Picknickdecken im Sand gemütlich gemacht. Zwischen ihnen stehen ein Korb, ein paar Gläser und Getränke. Irgendeine von ihnen hat ihre Sonnenbrille hingeworfen, eine andere die Armbanduhr abgelegt.

Ich stoße als Letzte dazu, weil ich nach meiner vormittäglichen Schicht im Blumenladen bis zur letztmöglichen Sekunde am Haus gearbeitet habe und so versunken war, dass ich beinahe unser Treffen vergessen hätte. Inzwischen habe ich die ganze Wand oben eingerissen, bis ich die darunter liegenden Holzbalken befreit habe. Das ehemalige Schlafzimmer habe ich dann auch noch komplett gestrichen. Fehlt nur der Boden, dann ist dieser Raum fertig und ich bin meinem Ziel einen großen Schritt näher gekommen.

Die drei springen auf, und ich umarme sie nacheinander, wobei mir nicht entgeht, dass mich Shae einen Moment länger und fester drückt. Kurz begegne ich ihrem prüfenden, besorgten Blick, dann legt sich ein Lächeln auf ihr Gesicht.

»Was hab ich verpasst?« Ich lasse mich auf die Decke fallen, verstaue den Autoschlüssel in meiner Handtasche und ziehe mir die Sandalen aus. Mit einem zufriedenen Seufzen vergrabe ich die Zehen im Sand.

»Ach, nichts Wichtiges«, winkt Shae ab. »Wir haben nur über Gott und die Welt gesprochen, die aktuelle Politik auseinandergenommen, in Aktien investiert, den Klimawandel beendet und …«

»Sehr witzig«, unterbreche ich sie lachend.

»Du hast gar nichts verpasst.« Camille sieht beschwichtigend zwischen uns hin und her. Ausnahmsweise trägt sie das lange hellblonde Haar nicht zu einem dicken Zopf geflochten, der sie wie Elsa, die Eiskönigin wirken lässt, sondern zu einem Knoten hoch auf ihrem Kopf gebunden.

Shae streckt ihr die Zunge raus. »Spielverderberin.«

»Ich bin echt froh, dass wir alle Zeit hatten.« Taleisha gießt Wein in die Gläser und verteilt sie. »Keine Sorge, der ist alkoholfrei«, fügt sie hinzu, da ich nicht die Einzige bin, die mit dem Wagen da ist.

»Auf uns!«

»Auf die Freundschaft!«

»Auf diesen Abend!«

Wir stoßen miteinander an und nippen am Wein.

Ich atme tief durch und lasse den Blick umherwandern. Vor uns breitet sich das Meer endlos aus, mit sanften Wellen, die kommen und gehen. Hinter uns ragen die Klippen der Insel auf. Abgesehen von unseren Stimmen, dem Rauschen der Wellen und ein paar kreischenden Möwen ist es völlig still. Die meisten Leute fahren zum Golden Bay Beach, genauer gesagt zum Golden View am westlichsten Punkt der Insel, um sich den spektakulären Sonnenuntergang anzuschauen. Wir haben uns in einer kleinen, unscheinbaren Bucht nahe des Leuchtturms, ein Stück nördlich von Bayville eingefunden. Dieser Ort ist in keinem Reiseguide aufgeführt, und selbst Einheimische kommen nur selten hierher, also haben wir den Strand heute Abend ganz für uns allein.

Ich richte den Blick auf die drei Frauen um mich herum, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Taleisha mit dem herzlichen Lachen, den kunstvollen Braids, den langen Fingernägeln und dem trainierten Körper, dem man ihre zwei Jobs ansieht. Shae mit den sarkastischen Sprüchen, der dunkelbraunen Mähne, dem Inuyasha-Shirt und der Kamera in den Händen. Und Camille mit dem eisblonden Haar, dem geblümten Kleid und der sanften, ruhigen Art.

Rein äußerlich haben wir nicht viel gemeinsam. Die Rettungsschwimmerin und Feuerwehrfrau, die Blumenhändlerin mit abgebrochenem Studium, der willensstarke Freigeist und die Verlorene. Doch in diesem Moment wird mir überdeutlich bewusst, wie sehr sie mir in den letzten Jahren gefehlt haben. Shae, Taleisha und Camille, die einfach … da sind.

Sicher, in Montréal hatte ich viele Bekannte, ein paar Freundschaften und mit Safiya eine nette Mitbewohnerin, aber niemand kannte mich dort so gut wie diese drei Frauen. Niemand wusste um meine Vergangenheit mit Holden oder das, was mit meiner Mom passiert ist – und für eine Weile habe ich diese Anonymität genossen. Heute bin ich erleichtert, dass ich mich nicht erklären muss. Zumindest was die Sache mit Holden angeht …

»Wie geht’s dir?«, fragt Camille und kann den mitfühlenden Unterton in ihrer Stimme nicht ganz unterdrücken.

Natürlich wissen alle Bescheid. Die ganze Insel weiß Bescheid.

»Manchmal besser, manchmal schlechter«, gebe ich ehrlich zu.

Der Impuls, ihnen von dem kurzen Treffen mit Holden vor dem Poison Ivy zu erzählen, ist da, aber irgendetwas hält mich zurück. Und mir wird klar, dass ich diesen Moment mit Holden nicht teilen will. Ich will ihn nicht analysieren und darüber reden, sondern für mich behalten. Ganz egal, wie unvernünftig das auch sein mag.

»Es ist okay«, füge ich hinzu, als ich in ihre betroffenen Mienen blicke. »Wirklich.«

Wen auch immer ich davon zu überzeugen versuche, es funktioniert nicht. Meine Stimme zittert, und ich hasse es, dass meine Augen feucht werden. Ich hasse alles an dieser Situation.

Taleisha greift nach meiner Hand. »Es tut mir leid … Wenn du willst, lade ich ihn von der Hochzeit aus, dann musst du ihm dort nicht über den Weg laufen.«

Ich blinzle überrascht – und gerührt angesichts dieses Angebots.

Shae schnaubt. »Und wir ignorieren die Tatsache, dass er schon seit Ewigkeiten mit deinem Verlobten befreundet ist?«

Taleisha zuckt mit den Schultern. »Damit muss Z leben.«

Ich drücke ihre Hand. »Das ist lieb, und ich weiß es wirklich zu schätzen, aber das musst du nicht tun. Ich will nicht der Grund dafür sein, dass Zion bei eurer Hochzeit auf einen seiner ältesten Freunde verzichten muss. Außerdem bist du doch auch mit Holden befreundet.«

»Ja, bin ich. Aber wenn ich irgendwie dafür sorgen kann, dass sich keiner von euch unwohl fühlt, werde ich das tun.«

Ich kann nicht anders, als zu lächeln. »Die ewige Retterin.«

Taleisha schnauft hörbar. »Pah, wenn ich die ewige Retterin bin, dann bist du einfach zu nett für diese Welt.«

Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber das ist Taleishas und Zions großer Tag. Das Letzte, was ich tun werde, ist, ihn durch mein persönliches Drama zu ruinieren. Außerdem dauert es ohnehin noch eine ganze Weile bis zur Hochzeit. Monate. Vielleicht sogar Jahre. Hoffentlich habe ich mich bis dahin wieder genug im Griff, um Holden gegenüberzutreten, ohne dass es wehtut. Oder wenigstens genug Zeit, an meinem aufgesetzten Lächeln zu arbeiten.

»Wie weit seid ihr eigentlich mit den Vorbereitungen?«, frage ich, um uns alle von diesem Thema abzulenken.

Aber vor allem, um mich selbst von meinen Gedanken abzulenken. Denn wenn sie nicht ständig um Holden kreisen, dann um die Rechnungen, die ich bei Grandma gefunden habe – und um den sechsten August, der bald ansteht. Die Erinnerung an diese Nacht ist genauso in mein Bewusstsein eingeritzt wie das Todesdatum in den Grabstein, den ich vor fünf Jahren das erste und einzige Mal gesehen habe. Der Grabstein mit Moms Namen darauf.

Ich atme zittrig durch und gebe mir alle Mühe, mich auf das zu konzentrieren, was Taleisha erzählt, und etwas Konstruktives beizutragen. Schon bald wechseln die Themen, wandern zu Taleishas Rettungseinsätzen, Shaes Fototouren über die Insel und enden bei unseren Plänen für den kommenden Herbst und Winter.

»Als ich dich das letzte Mal gefragt habe, hast du gesagt, du bleibst nur den Sommer über«, erinnert Taleisha mich. Ein fragender Tonfall schwingt in ihren Worten mit.

Ich wechsle einen Blick mit Shae. Die zuckt mit den Schultern. Anscheinend bin ich nicht die Einzige, die keinen Plan von der Zukunft hat.

»Am zwölften August ist die Deadline für die Semesteranmeldung«, erzähle ich zum vermutlich ersten Mal. »Bis dahin muss ich mich entschieden haben, ob ich zurückgehe und mein Studium beende oder … nicht.«

Verwirrte Blicke von Taleisha und Camille. Nur Shae wirkt kein bisschen überrascht, da sie längst Bescheid weiß.

Ich nutze die Gelegenheit, um mich an Camille zu wenden. »Darf ich dich was fragen?«

Sie blinzelt. »Klar. Immer.«

»Taleisha hat vor einer Weile erwähnt, dass du dein Studium abgebrochen und danach im Blumenladen deiner Familie angefangen hast …«

Ein gequältes Lächeln huscht über ihre Züge. »Das stimmt. Ich dachte, wenn ich als erste Person aus meiner Familie studiere, mache ich meine Eltern stolz und erreiche was im Leben, aber es hat mich nicht glücklich gemacht.«

Ich nicke, dankbar für ihre Offenheit und weil ich das nur zu gut verstehen kann. »Und die Arbeit im Rose & Bloom? Macht die dich glücklich?«

»Ein bisschen. Aber es ist nicht das, was ich für den Rest meines Lebens tun will. Ich …« Mit dem Finger malt sie Muster in den Sand und weicht unseren Blicken aus. »Ich würde gerne etwas anderes ausprobieren. Ein Biologiestudium mit Schwerpunkt Botanik zum Beispiel, vielleicht liegt mir das mehr. Oder ich mache eine Ausbildung als Landschaftsgärtnerin oder gehe in die Forstwirtschaft.« Sie lächelt scheu. »Die Möglichkeiten sind endlos, ich muss mich nur trauen.«

»Dann solltest du das tun.« Taleisha nickt ihr ermutigend zu.

»Zumindest wenn du das nötige Kleingeld dafür hast«, fügt Shae pragmatisch hinzu.

»Ich habe fast mein ganzes Gehalt aus dem Blumenladen angespart. Ich könnte bald etwas Neues anfangen, und das ist schön und erschreckend zugleich.«

»Verstehe ich gut«, murmle ich und atme tief durch. »Seit ich aus Montréal weg bin, überlege ich, ob ich überhaupt zurückgehen soll. Die Kosten sind enorm, und eigentlich kann ich es mir nicht leisten, aber es wäre unklug, kurz vor dem Abschluss einfach hinzuschmeißen, oder nicht? Waren die ganzen Jahre dort dann nicht umsonst?«

Macht mich das nicht zu einer kompletten Versagerin, die ihr eigenes Leben nicht gebacken kriegt? Die letzte Frage spreche ich nicht aus, dennoch bin ich mir sicher, dass alle sie mir ansehen können.

Unwillkürlich muss ich an Holdens Worte denken, als ich ihm davon erzählt habe. Es ist nur wenige Wochen her und fühlt sich dennoch an, als wäre es ein Traum gewesen. Keine Realität.

Egal, wie du dich entscheidest, du hast nicht versagt.

Du bist deinen Weg gegangen und hast getan, was du tun musstest, um zu überleben. Um weiterzumachen.

Es ist nicht armselig, wenn es nicht das ist, was du tun willst.

Ich atme tief durch, doch seine Worte hallen trotzdem in meinem Kopf nach, genau wie seine Stimme in meinen Ohren und seine Berührung auf meiner Haut. Wie kann das derselbe Mann sein, der so viel vor mir verheimlicht hat?

»Es ist deine Entscheidung.« Camille klingt ungewohnt nachdrücklich. »Und egal, wie du dich entscheidest, es sollte immer deine Entscheidung sein. Tu das, was für dich richtig ist, Ember. Nicht für uns, nicht für deine Familie oder sonst jemanden. Es ist dein Leben.«

Ich lächle gerührt. »Danke. Ich glaube, den Reminder habe ich gebraucht.«

Wir bleiben auf den Decken sitzen, während die Sonne langsam am Horizont untergeht, den Himmel in ein leuchtend orangerotes Feuer taucht und ihre letzten Strahlen auf das Meer wirft.

»Leute …?« Shae setzt sich auf, die Kamera sofort in der Hand.

Ich folge ihrem Blick und halte unwillkürlich die Luft an. Ist das …?

Tatsächlich. Da ist eine Bewegung im Meer.

»Ein Buckelwal«, flüstere ich und springe auf, um näher ans Wasser zu laufen und einen besseren Blick auf das große Tier zu erhaschen. Er muss um die zwölf, dreizehn Meter lang sein. »So einen hab ich ewig nicht mehr gesehen.«

Er taucht gerade unter, bis nur noch die Fluke zu sehen ist. Wenige Meter weiter erscheint ein zweiter Wal und wirft sich mit einer Drehbewegung in die Fluten. Dann noch einer. Und ein vierter.

»Wow …« Camille bleibt neben mir stehen, genau wie Taleisha. Ein Lächeln begleitet ihre Worte. »Sie reisen nur zweimal im Jahr durch diese Gegend, während ihrer Wanderung von den Polarmeeren in die karibische See.«

Ich bin mir sicher, das in der Schule gelernt zu haben. Ich bin mir auch sicher, ein solches Schauspiel schon mal beobachtet zu haben, doch das nimmt diesem Augenblick nichts von seinem Zauber.

Die Wale stoßen zischend die Luft aus, tauchen nacheinander unter und springen immer wieder ins Wasser. Und wenn ich ganz genau hinhorche, meine ich neben dem Rauschen der Wellen und dem Kreischen der Möwen ein klein wenig von ihrem Gesang bis an den Strand hören zu können.

Neben uns schießt Shae fleißig Fotos und Videos, und auch Taleisha zückt ihr Handy, um diese Erinnerung festzuhalten. Ich stehe einfach nur da und beobachte, wie sich die gigantischen Wale im Licht der untergehenden Sonne ins Meer werfen.

Und obwohl ich es nicht mag, so emotional zu sein wie aktuell, störe ich mich diesmal nicht an den Tränen, die mir in die Augen schießen. Denn trotz allem bin ich in diesem Moment mit den richtigen Leuten am richtigen Ort. Ich bin genau dort, wo ich sein sollte.

Und das brauche ich gerade mehr als alles andere.