23. Kapitel

Ember

Ich hasse den sechsten August. Ich hasse ihn von dem Moment an, wenn die Uhr Mitternacht schlägt, bis zur letzten Sekunde des Tages. Ich hasse jeden Atemzug, jeden Gedanken, jeden einzelnen Moment an diesem Tag.

In den letzten Jahren habe ich alles dafür getan, um Golden Bay an diesem speziellen Tag fernzubleiben. Heute Nachmittag sitze ich jedoch in meinem Truck und starre auf den Friedhof, der sich hinter der niedrigen Mauer wie ein Schlachtfeld vor mir ausbreitet. Grabstein an Grabstein. So viel Leid. So viel Trauer.

Keine Ahnung, wie lange ich bereits hier sitze. Der Motor ist schon seit einer ganzen Weile aus und damit auch die Klimaanlage. Die Sonne strahlt noch immer brutal herab und heizt das Wageninnere von Sekunde zu Sekunde mehr auf. Mein Shirt klebt an meinem Rücken, Schweißtropfen sammeln sich auf meiner Stirn und zwischen meinen Brüsten. Trotzdem konnte ich mich bisher nicht dazu überwinden auszusteigen.

Ohne nachzudenken, greife ich nach meinem Handy. Das Erste, was mir entgegenspringt, sind nicht die neuen ungelesenen Nachrichten und auch nicht die besorgte Frage von Shae, die sich erkundigt, ob ich Gesellschaft haben oder lieber allein sein möchte.

Es ist seine Nachricht von heute Morgen.

Holden, 07:34 Uhr

Keine Sorge, ich hab nicht vergessen, was du gesagt hast und was das für uns bedeutet. Aber ich weiß auch, welcher Tag heute ist, und muss die ganze Zeit an dich denken. Wie geht’s dir? Wo bist du?

Die Worte verschwimmen vor meinen Augen. Ich blinzle mehrmals und werfe das Handy zurück auf den Beifahrersitz. Verdammt. Ich hätte das nicht schon wieder lesen sollen. Zurzeit bin ich sowieso viel zu emotional, aber dann noch diese Nachricht? Von Holden? Ausgerechnet heute?

Das bricht mich fast.

Schnell wische ich mir über die Augenwinkel, atme mehrmals tief durch und trinke einen Schluck aus der Wasserflasche, die ich im Fußraum auf der Beifahrerseite gebunkert habe. Nach ein paar Minuten fühle ich mich zwar ruhiger, aber kein Stück bereiter als zuvor, den Friedhof zu betreten.

»Komm schon, Em«, murmle ich und verpasse mir gedanklich einen Tritt in den Hintern. Bevor ich noch länger darüber nachdenken kann, taste ich nach dem Türöffner.

Ein kurzes Klicken. Sofort strömt schwül-warme Luft in den Truck, aber ich zwinge mich dazu, die Tür ganz aufzudrücken. Den ersten Fuß nach draußen zu schwingen, dann den zweiten. Aufstehen. Tür schließen, Auto verriegeln, über die Straße auf das Tor zugehen.

Ein Schritt nach dem anderen.

Ein. Schritt. Nach. Dem. Anderen.

Bis ich das eiserne Tor erreiche, ist mir übel, trotzdem mache ich keinen Rückzieher. Ich bin so weit gekommen, ich werde jetzt nicht umkehren. Wenn ich das tue, werde ich nie wieder den Mut fassen zurückzukommen. Dann werden dieser Friedhof und die Erinnerungen daran für immer ein riesengroßes Schreckgespenst bleiben – und das kann ich nicht zulassen. Ich bin zu lange vor meiner Vergangenheit weggelaufen, um jetzt aufzugeben.

Ein lautes Quietschen durchschneidet die Stille, als ich das Tor aufdrücke. Vögel stieben aus den Bäumen in der Nähe auf. Mein Puls schießt in die Höhe. Unwillkürlich schaue ich mich um, aber es sind keine anderen Menschen zu sehen, die ich damit hätte erschrecken können.

Die Kirche neben dem Friedhof ist alt, ich glaube sogar, sie war eines der ersten Gebäude, das damals von europäischen Siedlern hier auf Golden Bay errichtet wurde. Durch den beigefarbenen Sandstein, die kleinen weiß umrandeten Fenster und den winzigen Turm wirkt sie schlicht und unauffällig. Nur die Tür, die einst leuchtend rot war, hat früher die Blicke auf sich gezogen.

Heute finden sämtliche Messen, Feiern, Hochzeiten und Taufen nicht mehr hier, sondern in der Kirche im Zentrum von Bayville statt. Diese Kapelle wird nur noch für Beerdigungen genutzt.

Ich drücke das Tor so leise wie möglich hinter mir zu und verziehe beim erneuten Quietschen das Gesicht. Der Kies knirscht unter den Sohlen meiner weißen mit Blumen bedruckten Chucks. Zusammen mit den Hot Pants und der Bluse, die ich über dem Bauchnabel verknotet habe, ist das nicht gerade ein Outfit, was man als angemessen für einen Friedhofsbesuch bezeichnen würde. Aber es ist ja nicht so, als hätte ich heute Morgen, als ich die Kleidungsstücke aus dem Schrank gezogen habe, geplant, hierher zu fahren.

Wie immer habe ich mich stundenlang in die Arbeit am Haus gestürzt, die Musik heute etwas lauter aufgedreht als sonst, um jeden Gedanken in meinem Kopf zu übertönen. Dann bin ich in den Truck gestiegen, ewig herumgefahren … und beim Friedhof gelandet.

Vielleicht war es ein Fehler, ausgerechnet heute herzukommen. Nicht, dass ich an anderen Tagen freiwillig hier gewesen wäre. Ich habe diesen Ort seit fünf Jahren gemieden. Seit dem Morgen, an dem sie Moms Sarg hinabgelassen und so viel Erde darüber geschüttet haben, bis ein kalter, grauer Stein mit ihrem Namen darauf das Einzige war, was noch an sie erinnerte.

Kalt . Alles hier wirkt kalt, obwohl die Augustsonne knallt und ein heißer Wind weht. Trotzdem fröstle ich. Gleichzeitig beginnen sich Schuldgefühle in mir auszubreiten und wie ein schwerer Klumpen in meinem Magen zusammenzuballen. Ein Teil von mir bereut es, nicht eher hergekommen zu sein. Für Mom – aber auch für Grandpa, denn sein Grab habe ich genauso lange nicht mehr besucht wie ihres.

Zögernd folge ich dem Kiesweg, ohne darüber nachdenken zu müssen, welche Richtung ich einschlagen muss. Ich mag so viel von meinen Gedanken und Gefühlen dazu verdrängt haben, aber mein Körper erinnert sich und meine Füße tragen mich an all den anderen Gräbern vorbei zur richtigen Stelle.

Als ich die frischen Blumen vor dem Grabstein entdecke, schnürt es mir die Kehle zu. Ein bunter Sommerstrauß, wie sie ihn geliebt hat. Wie wir ihn damals oft zusammen auf den Feldern gepflückt haben.

Dad …

Mein erster Gedanke gilt ihm, aber womöglich war es auch Grandma. Ich weiß, dass sie regelmäßig das Grab von Grandpa Ernest besucht, wobei das seit ihrem Unfall deutlich schwieriger geworden sein muss. Wenn sie hier war, dann hat sie jemand hergefahren, vermutlich Dad oder eine ihrer Nachbarinnen. Mich hat sie nicht darum gebeten. Sie weiß, dass ich normalerweise nicht herkomme.

Aber heute, nein, in diesem ganzen Sommer, ist überhaupt nichts mehr normal .

»Hi, Mom.« Meine Stimme bricht.

Ich starre auf den hellgrauen Stein, bis die Buchstaben vor meinen Augen verschwimmen, doch sie haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt.

Manon Jackson.

Mutter. Ehefrau. Tochter. Freundin.

Geliebt und unvergessen

Sie ist nur siebenunddreißig Jahre alt geworden. Sechsunddreißig und zehn Monate, wenn man es genau nimmt. Ihren siebenunddreißigsten Geburtstag hat sie nicht erlebt. Sie war so alt wie ich heute, als sie mich bekommen hat, und sie hat nicht erlebt, wie ich dieses Alter erreicht habe. Sie wird nie mehr etwas aus meinem oder Dads Leben miterleben. Keine Erfolge, keine Niederlagen, keine besonderen oder alltäglichen Momente.

Nichts.

Ich blinzle heftig, doch das Brennen in meinen Augen ist ebenso hartnäckig wie das verräterische Kribbeln in meiner Nasenspitze. Jeder Teil von mir will auf dem Absatz kehrtmachen und wegrennen. All das hinter mir lassen. Aber ich kann nicht. Ich weigere mich, noch länger davor wegzulaufen, zumal es ohnehin nie funktioniert hat. Früher oder später haben mich der Schmerz und die Schuldgefühle ja doch immer wieder eingeholt …

Also zwinge ich mich dazu, stehen zu bleiben und auf den Stein zu starren.

»Hätte es etwas geändert, wenn ich es gewusst hätte?« Die Worte kommen mir nur in einem Flüstern über die Lippen, dennoch gewinnt meine Stimme mit jeder Silbe etwas mehr an Kraft. »Wenn ich gewusst hätte, wie schlecht es dir wirklich geht, Mom? Wenn ich offener zu dir und häufiger daheim gewesen wäre, damit wir mehr Zeit miteinander hätten verbringen können? Damit du dich mir hättest anvertrauen können? Hätte ich dich retten können, wenn ich damals nicht so lange auf Holden gewartet und nicht so sehr in meinem eigenen Herzschmerz gefangen gewesen wäre? Wenn ich früher aus meinem Zimmer gekommen wäre, um nach dir zu sehen? Wenn ich nie vorgehabt hätte, zusammen mit ihm von zu Hause wegzulaufen? Ist es meine Schuld?«

Ich weiß es nicht. Ich werde es nie erfahren.

Mittlerweile zittere ich am ganzen Körper, dennoch sprudeln die Fragen weiter aus mir heraus. Einmal damit angefangen, einmal ausgesprochen, kann ich nicht mehr aufhören. Als wäre plötzlich ein Damm in mir gebrochen. Und mit den Worten kommen auch all die Emotionen hoch, die zu empfinden ich mir nie erlaubt habe.

»Was?«, stoße ich hervor. »Was hätte ich tun müssen, um es zu verhindern? Damit du das nicht tust? Damit ich dich retten kann? Damit du Dad und mich nicht allein zurücklässt?«

Meine Knie geben unter mir nach, und ich sacke auf den Boden. Die Erde ist trocken, das Gras von der Sonne erwärmt, trotzdem ist mir selbst jetzt noch schrecklich kalt.

Ich kann kaum atmen, so wütend bin ich. So verzweifelt. Voller Schuld. Ich kann mir nicht mal ansatzweise vorstellen, was in ihr vorgegangen sein und wie sie sich gefühlt haben muss, um diesen Schritt zu gehen. Wie verzweifelt muss jemand sein, um diesen Ausweg zu wählen? Wie schlimm muss es um jemanden stehen, dass der Tod die einzige Lösung zu sein scheint? Und wie konnte es niemand kommen sehen? Wie konnte ich es nicht kommen sehen?

Sie war meine Mom. Sie war immer für mich da … bis … bis sie es nicht mehr war.

»Ich wünschte, ich hätte es gewusst«, flüstere ich heiser. »Ich wünschte, ich hätte gewusst, wie es dir geht. Ich wünschte, du hättest einen anderen Weg gewählt und Hilfe bekommen.« Heiße Tränen laufen mir über die Wangen und tropfen von meinem Kinn herab. Mit dem Handrücken wische ich sie fort, aber das macht es nicht besser. Es kommen immer mehr nach. »Ich wünschte, du wärst noch hier, Mom. Ich vermisse dich so sehr. Jeden Tag, jede Stunde, jede verdammte Sekunde. Es tut so weh, dass du nicht mehr da bist … und ich … ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun soll.«

Die Sonne wandert weiter, während ich vor ihrem Grab sitze und mir alles von der Seele rede. All die Fragen und Gedanken, all die Was-wäre-wenn-Szenarien, die ich nie erleben werde.

Doch egal, was ich sage, egal, wie groß der Schmerz ist und wie lange ich bleibe, es kommt keine Antwort. Niemand ist hier. Ich bin ganz allein. Allein mit meiner Trauer, dem Zorn, der Scham und den Schuldgefühlen, die ich unglaublich lange weggesperrt habe, sodass ich nicht weiß, was ich jetzt damit tun soll.

Wie lernt man, richtig zu trauern? Wer bringt einem bei, einen geliebten Menschen loszulassen? Wie soll man damit zurechtkommen, dass dieser Mensch kein Teil deines Lebens mehr ist und es auch nie wieder sein wird?

Und wie kann es nach all der Zeit noch immer so wehtun, dass ich an diesem Tag an nichts anderes denken, nichts anderes mehr fühlen kann? Es ist wie ein schwarzes Loch, das sich in mir ausbreitet und alles andere in sich aufsaugt, bis nichts mehr von mir übrig ist.

Da ist nur noch Schmerz. Und ich bin ganz allein damit.