28. Kapitel

Ember

»Wohin fahren wir?«, frage ich rund zwanzig Minuten später. Nur mit Mühe unterdrücke ich ein Gähnen und klammere mich an den Thermobecher in meinen Händen.

Dad wirft mir einen kurzen Blick von der Fahrerseite aus zu und konzentriert sich dann wieder auf die Straße. »Das siehst du gleich. Es ist eine Überraschung.«

Ich mustere ihn verwundert, lehne mich dann jedoch im Beifahrersitz zurück und nippe an meinem Maple Latte, während Golden Bay an uns vorbeirauscht.

Es ist eine gefühlte Ewigkeit her, seit wir das letzte Mal etwas zusammen unternommen haben. Entweder war er zu beschäftigt mit seiner Arbeit oder ich mit der Renovierung am Haus und dem Aushilfsjob im Blumenladen. Und nach unseren langen Tagen waren wir in der Regel beide zu erledigt. An diesem Morgen hat Dad uns jedoch ein paar Bagels geschmiert und Kaffee gekocht, während ich geduscht und mich angezogen habe. Dann hat er mir den Becher in die Hand gedrückt und mich Richtung Auto gescheucht.

Nachdenklich betrachte ich ihn von der Seite. Seit er mich morgens vor dem Polizeirevier mit einem harten Nein abgespeist hat, haben wir nicht mehr über Holden und die Geschehnisse jener Nacht geredet. Vielleicht sollte ich wütend auf meinen Vater sein, aber ich kann nicht. Ich weiß, dass er sich nur Sorgen macht und sich stets an die Regeln hält. Trotzdem werde ich ihm sicher nicht davon erzählen, wo ich letzte Nacht war, und erst recht nicht, mit wem ich sie verbracht habe …

Innerlich verfluche ich mich dafür, dass meine Gedanken immer wieder zu Holden wandern. Tagsüber, wenn ich mich mit anderen Dingen beschäftigen sollte, genauso wie nachts in meinen Träumen. Ich kann nicht nicht an ihn denken …

»Danke, dass du da warst.«

»Jederzeit.«

Frustriert schließe ich die Augen. Das Chaos in mir war nie größer als jetzt. Sehnsucht und eine kribbelnde Wärme in meinem Inneren prallen auf harte Tatsachen und gesunden Menschenverstand. Es war einfacher, als ich ihn noch gehasst habe. Vielleicht sollte ich das auch jetzt wieder tun, aber ich kann nicht. Erst recht nicht, nachdem er mich die ganze Nacht in den Armen gehalten hat, als ich nicht allein sein wollte.

Ich habe nicht die geringste Ahnung, was ich noch denken und fühlen soll, daher kommt mir der spontane Ausflug mit Dad nur recht.

Allerdings frage ich mich, ob er mich auf die ganzen Rechnungen und Mahnungen ansprechen wird, die ich daheim gefunden habe. Ob Grandma ihm davon erzählt hat? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das für sich behalten hat.

Ich öffne die Augen in dem Moment, in dem wir in der Nähe der Lighthouse Bay scharf nach links abbiegen. Aber statt geradeaus auf die Straße und Umgebung zu schauen, bleibt mein Blick an Dads Fingern hängen, die das Lenkrad in perfekter 9-und-3-Uhr-Position festhalten. Sie sehen etwas aufgeschrammt aus, ganz so, als hätte er sich vor ein paar Tagen verletzt.

»Was ist mit deiner Hand passiert?«

»Nichts weiter«, murmelt er, ohne mich anzuschauen, und zuckt dann mit den Schultern. »Nur eine unbedeutende Auseinandersetzung.«

Unwillkürlich runzle ich die Stirn. Holden hat etwas Ähnliches gesagt, und er hatte eine aufgeplatzte Unterlippe. Dad wird doch wohl nicht …?

Nein. Das kann ich mir nicht vorstellen. Das würde er nicht tun. So ist mein Vater nicht. Auf keinen Fall.

Trotzdem muss ich nachhaken, und sei es nur, um diesen winzigen Zweifel in mir auszumerzen. »Dad …?«

Diesmal sieht er mich an, mit einer Mischung aus Besorgnis und leisem Amüsement. »Ich mache diesen Job schon länger, als du auf der Welt bist, Kleines. Ein gewisses Risiko gehört nun mal dazu.«

Vielleicht hat jemand auf dem Polizeirevier randaliert, rede ich mir ein. Womöglich ist bei einer Verhaftung etwas schiefgegangen, oder eine Prügelei in einer Bar ist aus dem Ruder gelaufen und er musste einschreiten. Es gibt unzählige Möglichkeiten. Die Ursache muss eine andere sein als die, die ich mir gerade ausmale.

Dad geht nicht weiter auf das Thema ein, sondern fährt ruhig weiter. Ich ahne bereits, was unser Ziel ist, und das Schild, das nun vor uns auftaucht, bestätigt meine Vermutung: Wir sind im Golden Bay Nationalpark.

Rechts von uns breiten sich schier endlose Wälder mit Ahornbäumen, Tannen, Fichten und Kiefern aus. Links von uns dominieren bewaldete Berge mit dem Crystal Falls Wasserfall und dem berühmten Aussichtspunkt Paradise Point das Landschaftsbild.

Ich kann gar nicht anders, als zu lächeln. »Wir waren ewig nicht mehr hier.«

»Dann ist es höchste Zeit.« Dad stellt den Wagen ganz vorne auf dem kleinen Parkplatz ab und steigt aus.

Im Gegensatz zu mir, die völlig unvorbereitet in dieses Abenteuer geschubst wurde, ist mein Vater wie immer bestens vorbereitet. Er holt zwei Rucksäcke von der Rückbank und reicht mir einen. Ich werfe einen kurzen Blick hinein: Wasserflasche, Regenjacke, Bagel, Snacks, ein kleiner Erste-Hilfe-Kasten und sogar meine alte Kamera. Was gut ist, weil ich mein Handy daheim vergessen habe. Aber vielleicht ist es gar nicht so schlecht, noch einen Tag lang offline zu sein und nichts von der Welt da draußen mitzubekommen. Vor allem nicht von gewissen Personen, an die ich nicht denken will. Nicht wenn alles so zwischen uns ist. Was auch immer so bedeutet.

Schnell ziehe ich meine Wanderschuhe an, die Dad ebenfalls eingepackt hat, dann machen wir uns auf den Weg.

Das Zwitschern von Vögeln und das Summen von Bienen begleitet unsere Schritte ebenso wie das immer lauter werdende Tosen des Wasserfalls, je näher wir ihm kommen. Sonnenlicht fällt durch die dichten Baumkronen und wirft Muster auf den moosbewachsenen Boden. Die Luft im Nationalpark ist angenehm kühl in diesem heißen Sommer.

Ich atme tief durch und inhaliere den klaren Duft von Nadelbäumen und frischem Holz, der mir ein Lächeln aufs Gesicht zaubert.

So früh am Morgen mitten in der Woche begegnen wir keinen anderen Menschen auf dem Wanderweg, was mir nur recht ist.

Zwischen den hohen Bäumen fühlt man sich, als wäre man in eine andere Welt gestolpert, obwohl das Meer nur ein paar Autominuten entfernt ist. Früher sind Mom, Dad und ich oft zusammen wandern gegangen, haben alles erkundet und unsere Lieblingsspots gefunden.

Der Gedanke an Mom versetzt mir einen Stich. Aber es ist nicht der vertraute, alles vernichtende Schmerz, der mir den Boden unter den Füßen wegreißt, sondern vielmehr ein Ziehen in meiner Brust. Ein schweres, bittersüßes Gefühl, weil es eine schöne Erinnerung ist und mir im selben Atemzug klar wird, wie viel von meiner Mutter bereits aus meinem Gedächtnis verblasst ist. Ihr Gesicht sehe ich nur noch verschwommen vor mir, und auch ihre Stimme habe ich nicht mehr deutlich im Ohr. Manchmal kann ich in Gedanken ihr Lachen glasklar hören. Und manchmal … nicht mehr.

»Ember!« Dad ist vorausgelaufen und winkt mir von einem erhöhten Punkt des Pfades aus zu.

»Ich hatte ganz vergessen, wie schön und friedlich es hier ist«, sage ich, als ich zu ihm aufschließe.

»Ab und zu ist es gut, sich an solche Orte zurückzuziehen und die Natur zu genießen.«

»Du meinst, so wie du jeden Monat mit dem alten Boot zum Angeln rausfährst?«

Ein Lächeln zuckt über sein Gesicht. »Ganz genau. Körper und Geist brauchen diese Ruhemomente. Und ein Erfolgserlebnis hier und da schadet auch nicht.«

Wir verfallen in einen gleichmäßigen Schritt, während wir weiter dem Weg folgen, der sich den Berg hinaufschlängelt. »Ein Erfolgserlebnis? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ihr jemals etwas gefangen habt.«

»Ember.« Ein tadelnder und gleichzeitig belustigter Tonfall schwingt in diesen zwei Silben mit. »Beim Angeln geht es nicht darum, Fische zu fangen.«

Ich verdrehe die Augen, weil ich diesen Spruch seit meinem fünften Lebensjahr ständig zu hören bekomme, muss aber auch grinsen. »Schon klar.«

»Eines Tages wirst du deine Leidenschaft fürs Angeln entdecken und endlich begreifen, wovon ich rede.«

Ich lache überrascht auf. »Glaub mir, das wird nie passieren.«

Angeln ist so ziemlich das Langweiligste, was ich mir vorstellen kann, und das weiß Dad. Ich liebe es, ihn damit aufzuziehen, aber ich bewundere ihn auch dafür, dass er es seit Jahrzehnten durchzieht. Früher wöchentlich, inzwischen nur noch einmal im Monat fährt er zur selben Uhrzeit zum alten Haus, macht das Boot startklar und paddelt aufs offene Meer hinaus. Dort trifft er sich mit Taleishas Dad, und sie verbringen die nächsten Stunden damit, aufs Wasser zu starren und über das Leben zu philosophieren. Oder zu schweigen. Genau weiß ich das natürlich nicht, weil ich nie dabei war, aber in meiner Vorstellung läuft es so ab.

Nein, danke. Da schleife ich lieber alte Holzdielen ab, bis mir der Rücken wehtut, oder streiche Wände wie früher zusammen mit Grandpa.

Als wir die höchste Aussichtsplattform am Paradise Point erreichen, brennen meine Beine vor Anstrengung und ich bin völlig aus der Puste, aber der Aufstieg hat sich gelohnt. Vor uns breitet sich Golden Bay in ihrer ganzen Schönheit aus. Von den tiefgrünen Wäldern, den Bergen und dem Maple Lake im Norden bis nach Bayville auf der einen und Lille Port auf der anderen Seite. Ich kann sogar die Sonnenblumenfelder zwischen Bayville und unserem alten Haus erkennen, genau wie die beiden Leuchttürme, einer bei der Stadt, der andere auf der Ostseite der Insel in der Lighthouse Bay.

Ganz in der Nähe rauschen die Wassermassen des Crystal Falls in die Tiefe. Sprühnebel schwebt über dem darunterliegenden Crystal Lake und kühlt die Luft.

»Wow«, stoße ich hervor und drehe mich langsam im Kreis. Das letzte Mal war ich vor ein paar Wochen mit Shae im Nationalpark, aber wegen ihrer Höhenangst sind wir nicht bis hier hochgewandert. Allerdings erinnere ich mich an ein anderes Erlebnis, genau hier am Paradise Point.

»Weißt du noch, wie wir an meinem zehnten Geburtstag hier raufgekommen sind?«

Morgens hat Mom uns Pancakes gemacht, dann sind Grandma und Grandpa mit frisch gebackenen Zimtschnecken vorbeigekommen und Grandpa hat mir mein erstes Schnitzwerkzeug geschenkt. Nachmittags sind wir zum Nationalpark gefahren, wo meine Eltern eine Schnitzeljagd für mich und meine Freunde und Freundinnen organisiert hatten. Das Ziel war genau diese Aussichtsplattform, auf der wir zum Schluss ein Picknick veranstaltet haben. Es war der perfekte Tag. Einer meiner schönsten Geburtstage, um genau zu sein.

»Natürlich.« Mein Vater lächelt versonnen. »Du hast den ganzen Tag gestrahlt.«

Wir setzen uns in einvernehmlichem Schweigen hin, trinken Wasser und packen die Bagel aus.

Wahrscheinlich sollte ich ihn auf die vielen Rechnungen und Mahnungen ansprechen, die ich gefunden habe, oder generell auf die Schulden, aber als ich den Mund öffne, kommt etwas ganz anderes heraus: »Ich war gestern beim Friedhof. Zum ersten Mal seit …« Etwas in mir sperrt sich dagegen, aber ich zwinge die Worte trotzdem hervor. »Seit Moms Beerdigung.«

Er hält inne. »Es ist gut, dass du dort warst, Kleines.«

»Fährst du öfter hin?«

»Manchmal«, gibt er zu. »Gestern habe ich ihr Blumen mitgebracht.«

Also waren sie doch von ihm, nicht von Grandma.

»Du sprichst nicht über sie«, taste ich mich weiter vor. »Über Mom, meine ich. Wir haben kein einziges Mal darüber geredet, was damals passiert ist.«

Zwar hat er mir nicht das Gefühl gegeben, es wäre meine Schuld gewesen, dass wir sie nicht rechtzeitig retten konnten – aber er hat mir auch nie das Gegenteil versichert. Er hat nie deutlich gemacht, dass es nicht meine Schuld war.

Dad seufzt leise und reibt sich über das Kinn. »Es ist nicht leicht. Ich will keine alten Wunden aufreißen.«

Deine oder meine?

Die Frage liegt mir auf der Zunge, aber ich spreche sie nicht aus. Nach jener Nacht wurde Mom dieses riesige Tabuthema. Hin und wieder hat Grandma sie erwähnt, Dad niemals. Es war, als würde er leugnen, dass sie je existiert hatte. Als wäre es besser, alles zu vergraben und zu vergessen, statt darüber zu reden.

»Schon gut«, höre ich mich murmeln, obwohl es das Gegenteil von dem ist, was ich eigentlich sagen will. Aber ich möchte ihm nicht wehtun oder den friedlichen Ausflug mit diesem Thema kaputtmachen. Nicht am Jahrestag von Moms Tod.

Ihr Todeszeitpunkt war nach Mitternacht, also steht der siebte August auf ihrem Grabstein, doch der Tag davor, genauer gesagt die Nacht, ist am schlimmsten für mich. Vom siebten August vor fünf Jahren weiß ich nur noch, wie betäubt ich war. Leer. Wie eine gläserne Hülle des Mädchens, das ich einst gewesen war. Und es hätten nur noch ein, zwei weitere Risse gefehlt, bis das Glas gesprungen und nichts mehr von mir übrig geblieben wäre. Nichts außer Scherben.

Durch das Schweigen zwischen uns nehme ich das Tosen des Wasserfalls und das Zwitschern der Vögel noch deutlicher wahr. Die Sonne strahlt vom Himmel herab und malt einen kleinen Regenbogen in die herabfallenden Fluten. Es ist ein idyllischer Ort. Vielleicht zu idyllisch für ein Gespräch wie dieses.

Schließlich räuspert sich Dad. »Als deine Mom starb, da war ich … Ich war nicht mehr ich selbst, Ember.«

»Ich weiß«, erwidere ich leise und betrachte den steinigen Boden.

In den Wochen nach Moms Tod habe ich Dad kaum zu Gesicht bekommen. Und wenn ich ihn doch mal kurz im Flur und schließlich auf der Beerdigung gesehen habe, wirkte er wie ein Geist. Als hätte er zwar nicht sein Leben verloren, dafür aber sein Herz und seine Seele. Als wäre nur noch eine Fassade des Vaters übrig, den ich bis dahin gekannt hatte.

Einige Wochen später wirkte er wieder ganz wie der Alte und hat alles darangesetzt, Zeit mit mir zu verbringen, mir ein gutes Leben und all das zu ermöglichen, was ich mir wünsche.

Schade nur, dass ich nie so richtig gewusst habe, was ich eigentlich will. Bis heute nicht. Wobei … wenn ich ganz ehrlich zu mir bin, dann stimmt das nicht. Ich ahne, was ich möchte, aber ich habe beschissene Angst davor. Deswegen ist es leichter, so zu tun, als würde ich nichts davon wollen.

»Es war, als wärst du plötzlich weg gewesen. Genau wie sie.«

Ich wage es noch immer nicht, ihn anzuschauen, denn ich weiß, dass meine Worte ihm wehtun – und ich hasse mich dafür. Das Letzte, was ich will, ist, ihn zusätzlich zu verletzen. Vor allem nicht, wenn er sich mir gegenüber gerade zum allerersten Mal ein klein wenig öffnet.

»Es tut mir leid, Kleines.« Seine Stimme zittert, seine Augen werden glasig. »Ich hätte für dich da sein und dir ein Vater sein sollen, aber ich habe mich von meiner eigenen Trauer und meinen Selbstvorwürfen zerfressen lassen. Das entschuldigt nichts, aber du sollst wissen, dass es mir schrecklich leidtut.«

Ich nicke langsam, weil ich ihm glaube. Und ich kann ihm kaum einen Vorwurf daraus machen, wie er mit dem Verlust umgegangen ist, wenn ich doch selbst nicht gerade den gesündesten Weg gewählt habe, um mit meinen Emotionen und Erinnerungen klarzukommen.

»Ich …«, beginne ich, muss mich dann jedoch räuspern, weil meine Stimme belegt ist. »Ich dachte immer, wenn ich früher nach ihr gesehen oder den ganzen Abend mit ihr verbracht hätte, dann hätte sie nie … Wenn ich rechtzeitig bemerkt hätte, dass etwas nicht stimmt, hätte ich sie retten können. Und dann wäre all das niemals passiert. Aber das habe ich nicht.« Ich schlucke hart und spreche zum ersten Mal die Worte laut aus, die sich in jener Nacht wie eine eiserne Faust um mein Herz gelegt und nicht mehr losgelassen haben. »Es ist meine Schuld, dass Mom gestorben ist, oder?«