36. Kapitel

Ember

»Kleines …« Dad starrt mich bittend an. Dann wandert sein Blick wieder zu Holden. »Lass uns das woanders …«

»Ist es nicht so?«, unterbreche ich ihn. »Du hast dich von Mom getrennt, deine Sachen gepackt und wolltest ausziehen.«

Falten erscheinen zwischen seinen Augenbrauen. »Woher …?«

»Deine Koffer«, beantworte ich seine Frage, bevor er sie aussprechen kann.

Holdens Kopf schnellt zu mir herum, aber ich ignoriere ihn. Meine ganze Aufmerksamkeit ist auf meinen Vater gerichtet. Ein weiteres fehlendes Puzzleteil rückt an seinen Platz.

»Nachdem die Rettungskräfte weg waren, hast du mein Zeug geholt, während ich draußen gewartet habe. Um zu Grandma zu fahren. Weißt du noch?« Meine Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, aber es fühlt sich kalt und bitter an. »Deine Sachen musstest du nicht packen. Die waren längst im Auto. Du wolltest uns in dieser Nacht verlassen. Nicht nur Mom, sondern auch mich.«

Ungläubig schüttle ich den Kopf. Wieso ist mir das nicht schon früher aufgefallen? Wie konnte ich dieses Detail vergessen? Wie konnte ich …

Nein. Stopp. Schluss mit den Selbstvorwürfen.

Ich war sechzehn Jahre alt, hatte ein gebrochenes Herz und gerade meine Mutter leblos in der Badewanne gefunden. Ich war traumatisiert und stand völlig neben mir.

Den Schmerz aus jener Nacht, über Holdens Verschwinden und Moms Tod, habe ich jahrelang verdrängt. Die bloße Vorstellung, diesem Schmerz einen weiteren hinzuzufügen, treibt mir die Tränen in die Augen, trotzdem kann ich nicht aufhören. Ich muss alles erfahren.

Mit zitternden Fingern wische ich mir über die Augenwinkel und suche Dads Blick.

»Ember …« In seiner Miene liegen so viel Bedauern, so viele Schuldgefühle, dass es mir die Luft abschnürt.

»Sag es. Sprich es aus. Ich weiß es doch sowieso schon.«

»Ich wollte dir nie wehtun, Kleines. Und ich wollte dich auch nie im Stich lassen.«

Ein ungläubiges Lachen kommt mir über die Lippen. »Aber das hast du.«

Seine Miene verhärtet sich. »Ich bin nicht der Einzige, der in dieser Nacht gehen wollte …« Sein Blick zuckt zu Holden und wieder zu mir zurück. »Oder denkst du, mir ist damals nicht aufgefallen, dass ich gar nicht allzu viel zusammensuchen musste, weil du schon Gepäck in deinem Zimmer stehen hattest?«

Ich erstarre von Kopf bis Fuß. Er hat gewusst, dass ich von Golden Bay abhauen wollte? Die ganze Zeit über?

Holden macht einen Schritt nach vorne und stellt sich neben mich. »So wollen Sie es ihr also verkaufen? Dass Sie es auf diese Weise herausgefunden haben?«

»Halt du dich da raus!«

»Ember hat die Wahrheit verdient«, beharrt Holden. »Entweder Sie sagen sie ihr selbst, oder ich tue es.«

Immer wieder sehe ich zwischen den beiden hin und her. Mittlerweile schrillen alle Alarmglocken in meinem Kopf. »Was ist hier los?«

Mein Vater macht einen zornigen Schritt auf Holden zu. »Was fällt dir eigentlich ein, du kleiner Scheißer? Ich habe dir eine Chance gegeben – und das ist der Dank dafür?!«

»Dad!« Sofort stelle ich mich mit erhobenen Händen zwischen die beiden.

»Hat dieser Junge nicht schon genug angerichtet?«, fährt er mich an. »Muss er sich jetzt auch noch zwischen uns drängen und dich gegen deine eigene Familie aufbringen? Was muss noch passieren, damit endlich in deinen Kopf reingeht, dass er nicht gut für dich ist?«

»Darum geht es doch gar nicht!«

»Ach nein? Worum dann?«

»Was ist in jener Nacht passiert? Ich habe ein Recht zu erfahren, was damals los war«, fordere ich, obwohl es mir bereits dämmert.

Die Vorahnung breitet sich wie ein Lauffeuer in mir aus – zu schnell, um sie aufzuhalten. Zu schnell, um ihr zu entkommen.

Ich will es nicht wahrhaben – und gleichzeitig muss ich es hören.

Aber es ist nicht Dad, der die schreckliche Wahrheit ausspricht.

Es ist Holden, den Blick fest auf den Mann gerichtet, der mich großgezogen, mich stets beschützt und geliebt hat. »Dein Vater hat mich damals gezwungen, Golden Bay zu verlassen.«