37. Kapitel

Ember

Alles in mir wird schlagartig still. Ich nehme das Rauschen des Windes wahr, das Zirpen der Grillen, die schweren Atemzüge der beiden Männer, die mit mir auf der überdachten Veranda stehen – doch in meinem Inneren ist es vollkommen ruhig.

Wie in einem Vakuum …

… das größer und größer wird …

… bis es explodieren muss .

»Ist das wahr?«, presse ich hervor.

Mein Vater schweigt.

Holden steht schräg hinter mir, mühsam beherrscht, die Hände zu Fäusten geballt.

Keiner der beiden sagt ein Wort. Die Stille ist zum Zerreißen gespannt.

»Dad.« Meine Stimme überschlägt sich beinahe. »Ist das wahr? Heißt das, du hast Holden damals gesehen und mit ihm gesprochen? In der Nacht, als er verschwunden ist?«

Bitte sag Nein. Bitte, bitte sag mir, dass ich es einfach nur falsch verstanden habe. Bitte mach nicht alles kaputt …

Doch ganz egal, wie sehr ich ihn in Gedanken anflehe, die Schuld steht meinem Vater deutlich ins Gesicht geschrieben. Genauso wie die kaum verhohlene Wut.

Und dann, wie mit einem Fingerschnippen, hat er sein Pokerface wieder aufgesetzt. Das ausdruckslose Cop-Gesicht ist zurück.

»Das ist lange her und …«

»Nein«, unterbreche ich ihn. »Ich muss es wissen. Das bist du mir schuldig.«

Er zögert. Seufzt. Kämpft mit sich.

»Ja, ich habe mich in jener Nacht von deiner Mutter getrennt, habe ein paar Sachen gepackt und ins Auto geworfen. Unterwegs habe ich einen Wagen angehalten.«

»Warum?«, bohre ich nach.

»Weil er mir verdächtig vorkam.«

Holden schnaubt abfällig.

Ich schüttle ungläubig den Kopf. »Du wusstest genau, welchen Wagen du vor dir hast. Du hast ihn angehalten, weil es Holden war, nicht wahr?«

»Es ist nicht normal, mitten in der Nacht ohne Grund quer über die Insel zu fahren«, brummt er.

Es ist sogar normaler, als du denkst. Ich kann gar nicht zählen, wie oft Holden und ich in seinem Pick-up herumgefahren sind. Vor allem, um mich von daheim wegzubringen, nachdem der nächste Streit ausgebrochen war.

»Er hatte mehrere Taschen mit Drogen dabei«, fährt er unnachgiebig fort und starrt Holden zornig an. »Crystal Meth. Kiloweise.«

Übelkeit breitet sich in mir aus. Ich schließe die Augen, will es nicht wahrhaben, obwohl sich die Momente von Holdens Verhaftung wie ein schlechter Film vor meinem inneren Auge abspielen. Vor wenigen Wochen wurde er während einer Übergabe festgenommen – und freigelassen.

»Das war nicht mein Stoff – und das wussten Sie!«

»Oh, ich bin sicher, dass das nicht dein Zeug war«, stimmt Dad zu, doch in seiner Stimme schwingt ein zynischer Tonfall mit. »Nichtsdestotrotz habe ich dich damit erwischt. Du magst vielleicht kein Junkie gewesen sein, aber du warst ein Drogenkurier. Ein verdammter Krimineller. Damals genau wie heute.«

Zögernd öffne ich die Augen und zwinge mich dazu, meinen Vater anzusehen, mich seinem verurteilenden Blick zu stellen.

Er sagt die Wahrheit. Das ist das Erste, was mir auffällt.

Er. Sagt. Die. Wahrheit.

»Also hast du ihn erpresst«, stelle ich fest. »Sonst wäre Holden niemals ohne mich gegangen.«

»Nein«, bestätigt Holden und sieht mir dabei fest in die Augen. »Das wäre ich nicht.«

Genau deshalb habe ich ihn seit seiner Rückkehr nach Golden Bay ständig nach dieser Nacht gefragt. Deshalb war ich so hartnäckig und konnte weder loslassen noch vergeben und vergessen: Weil der Holden, den ich kannte, mich niemals einfach zurückgelassen hätte.

Nicht ohne einen guten Grund.

Und da ist es: das letzte Puzzlestück, das mir gefehlt hat, um zu begreifen, was vor fünf Jahren tatsächlich passiert ist. Um mir endlich ein vollständiges Bild von den Ereignissen machen zu können.

»Du hast ihn erpresst, damit er weggeht und …«

»Ich habe ihm einen Gefallen getan! Ich hätte ihn sofort in den Knast schicken können. Wäre dir das lieber gewesen? Stattdessen habe ich ihm eine Chance gegeben. Euch beiden!«

»Eine Chance?!«, wiederhole ich entsetzt.

Er meint das ernst. Dad glaubt wirklich, was er da sagt. Er ist überzeugt, das Richtige getan zu haben.

»Das war noch längst nicht alles«, schaltet sich Holden wieder ein. »Warum erzählen Sie Ember nicht den Rest? Wie Sie mir verboten haben, ihr Bescheid zu geben – oder überhaupt jemals wieder Kontakt zu ihr aufzunehmen.«

»Was?!« Ich starre ihn fassungslos an.

Doch Holden ist noch nicht fertig. Diesmal wendet er sich direkt an mich. »Er hat dein Handy überprüft. Er hat alle Nachrichten mitgelesen, deswegen wusste er auch von unserem Plan.«

Ich wirble zu meinem Vater herum. »Dazu hattest du kein Recht!«, stoße ich hervor. »Du hast … Du … Ich hätte Holden damals gebraucht. Als Mom … Ich habe ihn gebraucht

Holden war nach dem Notruf die erste Person, die ich in jener Nacht angerufen und der ich getextet habe. Nicht Dad, nicht Grandma, nicht Shae.

Ich habe mich bei Holden gemeldet, weil er der erste Mensch war, an den ich gedacht habe. Die eine Person, die mir Sicherheit gegeben hat, wenn alles um mich herum einzustürzen drohte. Der Mann, der mich über alles geliebt hat – und den ich geliebt habe.

Die ganze Zeit über habe ich mich gefragt, was damals vorgefallen sein mag, was ihn dazu getrieben haben könnte, einfach zu verschwinden und all meine Nachrichten und Anrufe zu ignorieren. Was der Auslöser dafür war, dass er mich von einem Moment auf den nächsten scheinbar ohne Grund aus seinem Leben verbannt hat.

Jetzt weiß ich es.

»Ember …« Dad streckt die Hand nach mir aus, aber ich weiche vor ihm zurück, auch wenn ich dabei mit der Schulter gegen Holden pralle.

»Ich kann nicht fassen, dass du das getan hast. Und dass du es jahrelang vor mir geheim gehalten hast. Wie konntest du mir überhaupt in die Augen sehen? Wie konntest du mich mit dem Schmerz allein lassen? Wie konntest du zulassen, dass ich mich all die Jahre schuldig wegen Moms Tod fühle? Du … Du hast mein Leben zerstört!«

Dad zuckt zusammen, als hätte ich ihn geschlagen. Schock zeichnet sich auf seinem Gesicht ab. Dann fasst er sich wieder. »Das meinst du nicht so. Du wärst nicht glücklich mit ihm geworden, glaub mir.«

»Das weißt du nicht!« Diesmal schreie ich die Worte. Schleudere sie ihm mit aller Kraft entgegen.

»Was ist denn hier draußen los?« Hinter uns geht die Tür auf und Grandma humpelt heraus, aber ich ignoriere sie, ignoriere alles um mich herum.

Das Vakuum in mir ist explodiert. Ich kann nichts mehr zurückhalten.

Keine Gedanken. Keine Gefühle. Keine Vorwürfe.

Nichts .

»Das kannst du gar nicht wissen, weil du kein verdammter Hellseher bist! Und ich werde nie erfahren, was hätte sein können, weil du mir diese Chance weggenommen und diese Zukunft für mich unmöglich gemacht hast.«

»Du warst erst sechzehn Jahre alt, und ich bin dein Vater. Es ist mein Job, auf dich aufzupassen, und genau das habe ich getan.«

»Dein Job?«, wiederhole ich höhnisch. »Ich sollte kein verdammter Job für dich sein. Ich bin deine Tochter! Deine Aufgabe wäre es gewesen, dafür zu sorgen, dass ich eine schöne Kindheit habe, in der ich mich sicher und geborgen fühle. Deine und auch Moms Aufgabe wäre es gewesen, euch eine Paartherapeutin zu suchen – oder euch gleich scheiden zu lassen. Aber nein, stattdessen streitet ihr euch jahrelang und brüllt euch an, weil die arme kleine Ember das ja bestimmt nicht mitkriegt. Newsflash! Ich hab es mitgekriegt! Ich hab alles mitgekriegt! Die ganze Zeit über. Wenn du also wirklich glaubst, du hättest mich vor irgendetwas beschützt, liegst du absolut falsch! Denn du hättest mich nicht vor Holden beschützen müssen, sondern vor euch und euren ewigen Streitereien!«

Ich merke nicht mal, dass ich kurz davor bin, auf ihn loszugehen, bis Holden einen Arm von hinten um mich schlingt und mich zurückhält.

Meine Augen brennen. Ich zittere am ganzen Körper. Rase vor Wut. Enttäuschung. Schmerz. Verzweiflung. Entsetzen.

Warum tut die Erinnerung an jene Nacht nach all der Zeit noch immer so weh?

Wann hört das auf?

Warum hört es nicht endlich auf?

Tränen laufen mir über die Wangen. Meine Sicht verschwimmt. Mein Magen verkrampft sich.

Ich kann das nicht. Ich kann das einfach nicht mehr.

»Ich muss hier weg.« Meine Worte sind nicht mehr als ein Wispern.

Holden verstärkt seinen Griff um mich. »Ich bringe dich von hier fort.«

Blind vor Tränen setze ich mich in Bewegung und stürme, dicht gefolgt von Holden, die Verandastufen hinunter.

»Ember Louise Jackson!« Dads Brüllen hallt durch die ganze Auffahrt.

Ich zucke zusammen und wirble herum.

Er steht breitbeinig auf der Veranda, Grandma direkt hinter ihm, die Hand vor den Mund geschlagen. Sein Gesicht ist knallrot vor Zorn, die Augen sind zusammengekniffen, die Ader auf seiner Stirn tritt deutlich hervor. »Wenn du jetzt mit ihm gehst …«

»Was dann? Hm?« Ich recke das Kinn. »Ich bin kein Kind mehr. Du kannst mir nichts verbieten!«

»Ich bin immer noch dein Vater!«

Langsam schüttle ich den Kopf. »Nur weil du Mom nicht kontrollieren konntest, heißt das nicht, dass du es bei mir kannst.«

»Ember!«

Ich bleibe kein zweites Mal stehen. Diesmal steuere ich auf direktem Weg Holdens Pick-up hinter meinem Truck an und steige ein. Sekunden später sitzt Holden neben mir und startet den Motor.

Ich muss weg, weil ich es keine einzige Sekunde länger hier aushalte.

Weil ich die Lügen und Geheimnisse nicht mehr ertrage.

Ich muss einfach nur weg.