45. Kapitel

Holden
Knapp Zwei Jahre Zuvor

»Thorne!«

Beim Klang der aggressiven Stimme verkrampfte ich mich instinktiv, zwang mich jedoch dazu, ruhig am Auto weiterzuarbeiten und nicht aufzusehen. Keine Reaktion zu zeigen. Keine Angriffsfläche zu bieten. Trotzdem umklammerte ich das Werkzeug eine Spur fester, während ich mich über den Motor beugte und die Zündkerze festzog.

Der Geruch von Öl und Benzin hing schwer in der Luft. Zu festgelegten Uhrzeiten durften wir arbeiten. Da ich von Anfang an wenig Talent beim Wäschewaschen und bei anderen Aufgaben bewiesen, dafür umso mehr als Mechaniker gezeigt hatte, hatten die Wachen mich mit einer Handvoll anderer Männer für die Autoreparatur eingeteilt.

Abgesehen von den sporadischen Telefonaten mit Mom und Gemma waren das die einzigen Momente, in denen ich an etwas anderes denken konnte als an die ständige Gefahr und all die Fehler, die ich gemacht hatte.

Die einzigen Momente, in denen ich für kurze Zeit vergessen konnte.

Die wenigen Stunden, in denen ich mich nicht ständig in Acht nehmen musste.

Mittlerweile kannte ich die Zelle, die ich mir mit einem älteren Typen – ein Tätowierer – teilte, in- und auswendig. Fünf Schritte von der Tür bis zur hinteren Wand, drei Schritte von links nach rechts. Das war alles.

Wenn mich jemand gefragt hätte, was ich am meisten am Knast fürchtete, hätte ich nicht die Gefangenschaft an sich oder die anderen Kerle genannt. Es war die Tatsache, dass meine Erinnerungen langsam verblassten. Als hätte sich die Zeit hier drinnen wie eine dicke Staubschicht auf mein Gedächtnis gelegt. Ohne ein einziges Foto wurde Embers Gesicht von Tag zu Tag verschwommener. Ich klammerte mich an den Nachhall ihrer Stimme, ihres vertrauten Lachens, doch selbst das wurde immer leiser.

Ich wusste nicht mehr, wie sich eine Umarmung anfühlte. Eine nette Geste. Freiheit. Liebe.

Die wenigen Stunden, in denen ich an Autos arbeiten konnte, waren umso wertvoller, weil das die einzige Zeit war, in der ich mich wieder halbwegs menschlich fühlte.

»Heh!«, rief die Stimme erneut. »Thorne! Bist du taub, oder was?«

Ich fluchte innerlich. Grady war der Kopf einer Truppe, die sich im Knast um ihn versammelt hatte. Er war laut, groß, hatte überproportional trainierte Muskeln und eine furchteinflößende Fratze. Im Gegensatz zu ihm hatte sogar Remi Charme versprüht.

Langsam richtete ich mich auf, den Zündkerzenschlüssel fest in der Hand. Der Typ dürfte gar nicht hier sein. Wahrscheinlich hatte er eine der Wachen bestochen, damit sie ihn in die Werkstatt ließ.

Erst als ich mich umdrehte, bemerkte ich die vier Männer, die Grady begleiteten. Mein Puls schnellte in die Höhe. Mein Magen verkrampfte sich.

Mein Blick zuckte hin und her. Zwei andere Insassen, die an einem Auto arbeiteten. Keine Wärter.

Fuck.

»Was gibt’s?«, fragte ich und schaffte es sogar, einigermaßen ruhig zu klingen.

Grady baute sich zu seiner vollen Größe vor mir auf. Der Kerl war so riesig, dass ich den Kopf in den Nacken legen musste, um seinen Blick zu erwidern. Denn klein beigeben würde ich nicht. Das war in diesem Laden schlimmer als ein Todesurteil. Niemand wollte die Bitch von allen sein.

»Du hast mich beklaut.«

Ich runzelte die Stirn. Wovon zur Hölle redete er da?

»Ich hab nichts gestohlen.«

Er spuckte neben mir auf den Boden. Sein Speichel verfehlte meinen Schuh nur um Haaresbreite.

»Wenn ich sage, dass du mich beklaut hast, dann hast du das auch, kapiert?« Wut zeichnete seine Miene. Ohne meinen Blick loszulassen, erhob er die Stimme. »Habt ihr das gehört? Thorne ist ein verfickter Dieb! Und ein Lügner noch dazu!«

Die Männer aus seiner Truppe scharten sich um mich. Kurz sah ich zu den beiden anderen Insassen hinüber. Bisher hatten wir nicht sonderlich viel miteinander zu tun gehabt, aber wir waren ein Team. Zumindest hatte ich das gehofft. Jetzt wandten sie sich jedoch rasch ab, packten ihre Sachen und verließen die Werkstatt lautlos.

Ein kalter Schauder lief mein Rückgrat hinab. Jeder Muskel in meinem Körper war in Alarmbereitschaft. Das hier würde nicht gut enden.

»Du weißt genau, dass ich nichts gestohlen habe«, beharrte ich, packte das Werkzeug fester und ballte die freie Hand an meiner Seite zur Faust.

Ich würde nicht als Erster zuschlagen. Wenn ich das tat, würde die Hölle über mich hereinbrechen. Selbst wenn ich überlebte, hätte ich keine Chance mehr, wegen guter Führung früher entlassen zu werden.

Bis jetzt war nichts passiert. Noch hatte ich die naive Hoffnung, das Schlimmste verhindern zu können, auch wenn mein Verstand mich anbrüllte abzuhauen. Zuzuschlagen. Irgendwas zu tun.

Obwohl ich erst seit ein paar Monaten einsaß, hatte ich schon dreimal miterlebt, wie jemand angegriffen, verprügelt und niedergestochen worden war. Die Wärter interessierte das nicht weiter. Anfangs hatte ich noch versucht, mich einzumischen, hatte versucht, das Opfer zu verteidigen – und meine Lektion im selben Atemzug gelernt, als sich die Angreifer gegen mich gewandt hatten. Genau wie das vermeintliche Opfer wenige Stunden später auf der Krankenstation, als das kranke Arschloch mir zum Dank eine Nadel ins Auge hatte rammen wollen.

Ich fluchte innerlich. So viel zu Kameradschaft. So viel zu Hilfsbereitschaft.

Diesmal war ich das Opfer. Die einzige Frage war nur noch, was mich erwartete.

Schnell zuckte mein Blick zu den Händen der Männer. Sie waren leer. Keine Messer. Keine Rasierklingen. Keine in mühsamer Kleinarbeit geschnitzten Waffen.

Grady packte meine rechte Hand, riss sie in die Höhe und drückte so fest zu, dass sich die Plastikkanten des Werkzeugs in meine Haut bohrten. So fest, dass ich das Knirschen meiner Knochen hören konnte.

Reflexartig ließ ich den Zündkerzenschlüssel los. Er landete klappernd auf dem Boden neben uns.

Meine einzige Waffe. Meine einzige Chance, lebend aus dieser Sache rauszukommen.

Obwohl ich stets auf der Hut gewesen und auf das Schlimmste vorbereitet gewesen war, erwischte mich der erste Schlag unvorbereitet. In der einen Sekunde sah ich noch in die Gesichter der Männer, in der nächsten flog mein Kopf herum und ein unglaublicher Schmerz detonierte darin. Bevor mein Gehirn überhaupt realisieren konnte, was geschah, traf mich eine weitere Faust. Dann die nächste. Und die nächste. Wieder und wieder, bis der Schmerz alles andere betäubte.

Jeden Gedanken. Jedes Gefühl. Jede Erinnerung.

Da war nur noch Schmerz.

Hiebe prasselten auf mich ein. Ich röchelte. Spuckte Blut. Versuchte mich zu wehren. Vergeblich. Es waren zu viele von ihnen – und es gab niemanden, der das Risiko einging, mir zu helfen. Niemand, der sich ihnen entgegenstellen würde.

Hart landete ich auf dem Boden vor dem Wagen. Der Geruch von Öl so deutlich wie der Geschmack von Blut in meinem Mund.

Erst als mein Sichtfeld dunkler wurde und ich gekrümmt auf dem Boden lag, hörte ich die Schritte und Stimmen der Wärter. Sie ließen sich Zeit damit, die Gruppe auseinanderzutreiben, genauso wie damit, mich auf die Beine zu hieven und wegzuzerren.

»Komm schon!«

Ich konnte kaum einen Fuß vor den anderen setzen, aber sie zogen mich eisern weiter.

All die Zeit war ich für mich geblieben und hatte so wenig Kontakt zu den anderen Gefangenen wie möglich gehabt, um unsichtbar zu bleiben und niemanden gegen mich aufzubringen. Dennoch hatte ich es geschafft, mir Feinde zu machen.

Das hier war die Quittung dafür.

Auf halbem Weg erbrach ich mich. Einer der Wärter fluchte angewidert.

Ein harter Tritt in meinen Rücken. Grobe Hände, die mich wieder hochzogen. Mich weiterschleiften. Mittlerweile war es mir egal, ob sie mich in die Krankenstation oder ins Leichenschauhaus brachten. Schmerz pulsierte in meinem ganzen Körper, und mein linkes Auge schwoll bereits zu. Vielleicht war es auch die beginnende Bewusstlosigkeit, die mein Sichtfeld nach und nach einschränkte, bis alles um mich herum endlich schwarz wurde.

Mein letzter Gedanke galt nicht dem Schmerz. Nicht dem Knast, den Wärtern oder meinen Angreifern.

Mein letzter Gedanke galt ihr.

Ember.