51. Kapitel

Ember

»Das ist keine Einweihungsparty«, sage ich, als Taleisha und Zion mit großem Picknickkorb und lauter Behältern ankommen. »Das ist euch klar, oder?«

»Schade eigentlich.« Zion grinst und zieht mich mitten im Flur zur Begrüßung in eine seiner typischen Bärenumarmungen. Ich schwöre, es gibt niemanden, der einen besser drücken kann als dieser Kerl.

»Ist das Haus denn nicht fertig? Es sieht fertig aus.« Als Nächstes legt Taleisha die Arme kurz um mich.

Seit sie das letzte Mal hier war und Holden versorgt hat, ist fast eine Woche vergangen. Ihm geht es zum Glück wieder gut, auch wenn der Bereich rund um sein linkes Auge noch immer grüngelb verfärbt ist. Aber wenigstens heilen die Wunden, und es gab keine weiteren Vorfälle. Keine weiteren Schlägertypen, die ihm auflauern oder an die Tür klopfen. Ich will mich an die Hoffnung klammern, dass es eine einmalige Sache war. Eine letzte Rechnung, die zu begleichen war. Doch wenn ich ehrlich bin, glaube ich nicht daran. Spätestens wenn Hendrick tatsächlich verurteilt wird und ins Gefängnis kommt, wird er wieder auf Rache aus sein, schließlich wird Holden vor Gericht gegen ihn aussagen.

Und Remi … dieser Typ war mir von Anfang an unheimlich, selbst als er sich als Retter ausgegeben hat, der mein gestohlenes Handy gefunden hat. Irgendetwas an ihm bereitet mir Gänsehaut. Und nicht zu wissen, wo er sich herumtreibt und was er als Nächstes vorhat, macht mir genauso viele Sorgen wie Holden.

»Hey.« Shae schnippt vor meinem Gesicht herum. »Erde an Jackson. Erde an Jackson.«

Ich schiebe ihre Hand beiseite und umarme sie ebenfalls zur Begrüßung.

Shae hält mich einen Moment länger fest. »Alles okay?«, fragt sie. Leise genug, dass es niemand außer uns hören kann.

Ich nicke lächelnd und löse mich von ihr. Diese Frau würde für mich durchs Feuer gehen – im wahrsten Sinne des Wortes – , und ich würde das Gleiche für sie tun. Jederzeit. Ohne zu zögern.

»Ich war nur in Gedanken«, erkläre ich, ohne näher darauf einzugehen.

»Offensichtlich.«

»Wo soll das ganze Zeug hin?«, fragt Zion, der gerade eine Kiste mit noch mehr Dosen, Obst und so vielen Packungen Keksen und Chips hereinschleppt, dass er kaum noch etwas sehen kann.

Shae reißt die Hand hoch. »Mir nach! Ich kenne den Weg.«

»Du wohnst ja auch schon halb hier«, kommentiert Taleisha amüsiert, folgt ihr jedoch den Flur hinunter.

Ich schnappe mir ein paar Decken und Kissen aus dem Wohnzimmer und gehe durch die Küche in den Garten hinter dem Haus.

Holden und Beck sind bereits dort und damit beschäftigt, die große Leinwand aufzubauen. Da Holden sich noch immer lieber nicht in der Stadt blicken lassen will, um seine Familie nicht zu erschrecken und die Gerüchteküche nicht weiter anzuheizen, konnten wir uns in letzter Zeit nicht mit unseren Freunden und Freundinnen treffen. Also haben wir sie kurzerhand für einen Filmabend im Freien zu uns geholt.

Beck hat Getränke aus dem Turner’s mitgebracht. Jayden hat irgendwo Leinwand und Beamer ausgegraben und ist noch mal losgezogen, um ein fehlendes Kabel zu besorgen.

»Etwas weiter nach links«, kommandiert Shae. Sie hat die Hände in die Hüften gestemmt und die Augen zusammengekniffen. »Nein, zu viel. Zurück.«

Die Männer folgen ächzend ihren Anweisungen. Als sie sie die Leinwand immer wieder nur um ein, zwei Zentimeter verrücken lässt, bin ich mir ziemlich sicher, dass sie die beiden nur trollt. Allen voran Beck, der mittlerweile ziemlich genervt wirkt.

»Das reicht«, behauptet er schließlich und richtet sich auf. »Es ist gut so, wie es ist.«

Ich wechsle einen belustigten Blick mit Holden.

»Es ist nicht perfekt.« Kritisch legt Shae den Kopf schief. »Aber ich schätze, damit werden wir alle leben müssen.«

»Genau wie mit deiner Anwesenheit«, kontert Beck prompt.

»Wie bitte?! Ich bin ein Highlight dieser Veranstaltung, das weiß jeder.«

»Eher ein Downer, aber ich schätze, damit werden wir alle leben müssen

Ich presse die Lippen fest aufeinander, um nicht aufzulachen, aber mir entwischt dennoch ein verräterisches Prusten.

Shae wirbelt herum und funkelt mich an, doch zum Glück klingelt es in dieser Sekunde an der Tür.

»Das sind sicher Camille und Will.« Schnell deute ich hinter mich. »Ich geh schon!«

»Holden ist bestimmt auf meiner Seite«, höre ich Shae noch sagen, als ich das Haus betrete. »Wo wir doch wieder so gute Freunde sind!«

Diesmal hält mich nichts zurück. Ich lache laut, auch auf die Gefahr hin, dass sie mich hören. Shaes Tonfall klingt gleichzeitig honigsüß und mörderisch. Armer Holden. Armer Beck. Mit dieser Frau würde ich mich niemals anlegen wollen.

Vor der Haustür warten tatsächlich Camille und Will, sie mit einem großen Blumenstrauß in den Händen, er mit einer Flasche Wein. Jayden taucht auf, bevor ich die Tür überhaupt schließen kann, und hat das fehlende Kabel dabei. Der Filmabend kann starten.

Wenige Minuten später haben wir es uns alle im Garten auf dem Berg aus Decken und Kissen gemütlich gemacht. Über uns funkeln die Sterne am Himmel, im Hintergrund sind leises Grillenzirpen und das Rauschen der Wellen zu hören. Vor uns flimmert der erste Film über die Leinwand – eine Actionkomödie, auf die wir uns alle einigen konnten.

Ich liege zwischen Holden und Shae und nippe an meinem Frozen-Erdbeer-Daiquiri, den Shae extra für uns zubereitet hat. Holden hat den Arm um mich gelegt und spielt mit meinen Haaren, während er den Film anschaut.

Nach allem, was passiert ist, kann ich kaum glauben, wie entspannt ich bin. Ganz davon zu schweigen, dass ich nie damit gerechnet hätte, einen solchen Abend je zu erleben, so wie die Dinge zwischen Holden und mir nach seiner Verhaftung standen. Aber ich bin froh darum, wie alles gekommen ist.

Als der erste Film zu Ende ist, holen wir uns Getränkenachschub. Nachdem die anderen wieder in den Garten gegangen sind, bleiben Shae und ich allein in der Küche zurück – und sie lässt sich verdammt viel Zeit mit den nächsten Erdbeer-Daiquiris.

Fragend ziehe ich die Brauen hoch. Sie muss nichts sagen, ich merke ihr an, dass sie etwas auf dem Herzen hat.

»Hier.« Sie schiebt mir mein Glas, das sie am Rand mit einer frischen Erdbeere dekoriert hat, über die Kochinsel zu.

»Danke.« Ich mustere sie abwartend.

Es kann sich nur noch um Sekunden handeln, bis sie loslegen wird.

Drei …

Zwei …

»Bist du sicher, dass du das willst?«, platzt sie heraus und deutet mit dem Kopf Richtung Garten. »Dass er das wert ist? Vor nicht allzu langer Zeit hab ich dich seinetwegen getröstet, nachdem du eine Wand eingeschlagen und schluchzend zusammengebrochen bist.«

Ich verziehe das Gesicht. Das ist keine besonders angenehme Erinnerung, aber eine, die zu mir gehört. Zu unserer Geschichte.

»Du hast gesagt, dass ich ihn immer geliebt habe«, erinnere ich sie leise. »Du hattest recht. Ich hab nie damit aufgehört, ganz egal, wie wütend ich war und wie sehr ich ihn gehasst habe.«

»Das hab ich befürchtet.« Shae seufzt tief. »Aber mal ehrlich: Da draußen gibt es Milliarden anderer Männer. Ich bin sicher, dass du einen Bruchteil davon haben könntest.«

»Wow, danke, Shae.« Ich werfe ihr einen zweifelnden Blick zu.

Sie zuckt mit den Schultern. »Mathe war nie meine Stärke.«

Ich schmunzle kurz, werde jedoch schnell wieder ernst. »Inzwischen weiß ich, was er getan hat. Was er für mich getan hat. Er hat mir alles erzählt.«

»Das hast du neulich erwähnt, aber …« Sie schüttelt langsam den Kopf. »Bist du sicher, dass du ihm nach allem wieder vertrauen kannst? Dass du dich ernsthaft wieder auf ihn einlassen willst?«

Ich fürchte, dafür ist es ein bisschen zu spät. Dennoch nehme ich mir Shae – und mir selbst – zuliebe einen Moment, um ernsthaft darüber nachzudenken. Über diese Fragen und Shaes berechtigte Sorge. Wären unsere Rollen vertauscht, würde ich genauso reagieren wie sie.

»Ja«, bekräftige ich schließlich und hole tief Luft. »Und, ganz ehrlich? Hätte ich das damals gewusst … Ich hätte nicht eine Sekunde gezögert, sondern wäre ihm sofort gefolgt.«

»Das ist so süß, dass ich gleich Zahnschmerzen davon kriege«, murmelt sie und nimmt einen großen Schluck von ihrem Drink.

Ich schmunzle nur. Manche Geschichten haben kein Happy End, weil sie nicht enden. Holden und ich waren immer miteinander verbunden, selbst als fünf Jahre, Tausende von Kilometern und viel zu viele Geheimnisse zwischen uns lagen.

Ich weiß noch genau, wie ich für Gemmas Hochzeit zurück nach Hause kam. Was ich damals geglaubt, gehofft und mir vorgenommen habe. Heute könnte ich nicht weiter von dieser Frau entfernt sein. Das Einzige, was gleich geblieben ist, ist mein Vorhaben für diesen Sommer.

Shae folgt meinem Blick durch die Küche. »Du bist wirklich fertig, oder?«

In den letzten Tagen hat sie mir dabei geholfen, den Dachboden auszuräumen, staubzusaugen und die Böden zu wischen, während Holden und ich uns um letzte Details gekümmert haben. Hier noch einen Anstrich ausbessern, da noch einen Tür- oder Fenstergriff ölen. Trotzdem fühlt es sich nicht an, als wäre die Renovierung tatsächlich abgeschlossen.

»Die Wand im Flur oben könnte einen weiteren Anstrich vertragen«, überlege ich laut. »Die Fensterläden sind auch noch nicht perfekt und …«

»Ember«, unterbricht mich Shae und sieht mich durchdringend an. »Es wird Zeit, loszulassen.«

Mein erster Impuls ist zu protestieren. Wahrscheinlich könnte ich noch ein Dutzend Kleinigkeiten finden, die ich ausbessern oder verändern will, wenn ich es wirklich darauf anlege, aber Shae hat recht. Im Großen und Ganzen ist alles erledigt. Die Fassade ist gestrichen, die kaputten Holzdielen der Veranda sind ersetzt. Die Räume haben neue Wandfarben, und die Holzböden sind abgeschliffen. Auch im Obergeschoss ist alles erledigt, und mein altes Zimmer erstrahlt in neuem Glanz, sodass mir nichts anderes übrig bleibt, als Dad Bescheid zu geben, dass ich meinen Teil des Deals erfüllt habe. Die große Aufgabe, die ich mir für diesen Sommer vorgenommen habe, ist beendet – und bald auch dieser Sommer.

»Ich kann kaum glauben, dass es wirklich fertig ist.« Shae kommt um die Kochinsel herum und legt den Arm um mich. »Du hast dir dieses riesige Projekt vorgenommen und es knallhart durchgezogen.«

»Ich hab mich eher reingestürzt, um alles andere zu vermeiden.«

»Girl!« Shae schnippt mir gegen die Schulter. »Du hast es geschafft! Das warst ganz allein du!«

»Ich hatte ein bisschen Hilfe.« Ich grinse, als sie erneut Luft holt. »Aber du hast recht. Bis auf ein paar allerletzte Schönheitskorrekturen ist es fertig. Jetzt müssen wir einen Käufer finden, damit sich der ganze Aufwand gelohnt hat.«

»Das werdet ihr. Auch wenn ich es schade finde, nicht mehr alle paar Tage hier übernachten zu können.«

Ich lächle wehmütig, weil es mir genauso geht. Ganz leise, still und heimlich ist dieser Ort für uns beide zu einem neuen Zuhause geworden.

Als ich Anfang Juni hergekommen bin, habe ich die Renovierung nur angefangen, um Dad zu helfen – und mir selbst ebenfalls, indem ich meinen Anteil vom Verkaufspreis bekomme. Es war als Konfrontationstherapie gedacht, um mich meiner Vergangenheit und all den Ereignissen zu stellen, die hier stattgefunden haben. Allem voran Moms Tod.

Allerdings merke ich jetzt, wie schwer es mir fällt, mich davon zu trennen. Nicht nur von diesem Projekt, sondern auch von diesem Haus. Denn jetzt stecken nicht mehr nur all die schönen und schrecklichen Momente mit Mom und Dad, Grandma und Grandpa, Holden, Shae und all meinen Schulfreunden und -freundinnen von früher in diesen Wänden, sondern auch unendlich viele schöne und schreckliche Momente von diesem Sommer.

Als ich mich nach dem Betreten des Bads im Obergeschoss der schrecklichsten Erinnerung meines Lebens gestellt habe und zusammengebrochen bin. Das Bad, in dem meine Mutter sich umgebracht hat – und in dem Shae mich getröstet hat.

Als ich meine Emotionen zugelassen und die Wand herausgeschlagen habe.

Die Sturmnacht mit Holden.

Das gemeinsame Streichen und die Übernachtungen mit Shae.

Der Abend, als ich Holden geküsst und wir uns das erste Mal geliebt haben.

Die Sternschnuppennächte in der Hängematte.

Die Routine, die sich in den letzten Tagen mit Holden ganz leise, still und heimlich eingeschlichen hat. Wir hatten nie die Chance, zusammen zu wohnen, doch zu meiner Überraschung ist uns das hier ganz leichtgefallen.

Auch der Filmabend heute wird eine der besonderen, intensiven Erinnerungen sein, die ich mit diesem Haus und diesem Sommer verbinde.

»Wie geht es jetzt weiter?«, fragt Shae.

Ich atme tief durch. »Ich muss mit Dad reden.«

Bisher habe ich das vermieden, habe nur Grandma wissen lassen, dass es mir gut geht und ich fürs Erste weiterhin im alten Haus übernachten werde. Doch jetzt bleibt mir nichts anderes mehr, als es zu Ende zu bringen und mich der Konfrontation mit meinem Vater zu stellen.

Und ich weiß schon jetzt, dass es nicht schön wird.