55. Kapitel

Ember

Als ich die Augen das nächste Mal öffne, bin ich nicht mehr allein im Zimmer. Mein ganzer Körper verspannt sich instinktiv, und eine Welle Schmerz, gedämpft durch die Medikamente, fährt durch mich hindurch.

»Schhh. Alles ist gut«, raunt eine vertraute Stimme an meinem Ohr.

»Holden …?«, murmle ich verschlafen.

Er liegt hinter mir auf dem Bett, den Arm um mich gelegt, und drückt mir einen Kuss aufs Haar. »Ich bin hier.«

Ich taste nach seiner Hand, und er verschränkt seine Finger mit meinen. Er ist wirklich hier. Das ist kein Traum. Keine Halluzination.

»Wie bist du reingekommen?«

Er schnaubt leise. »Dein Dad wollte mich nicht zu dir lassen, also musste ich kreativ werden.« Er nimmt meine Hand und deutet Richtung Fenster. Genauer gesagt auf die Zweige der Tanne, die gerade mal bis zum Sims reichen und definitiv nicht dafür gemacht sind, dass jemand sie erklimmt. Holden muss sich ein ganzes Stück aus eigener Kraft hochgezogen haben.

»Du bist reingeklettert? Wie früher?« Auf einmal bin ich hellwach.

Für einen Moment sind sich Vergangenheit und Gegenwart näher als jemals zuvor. Ich kann mich an unzählige Male erinnern, die Holden über den Ahornbaum vor meinem Fenster in mein Zimmer geklettert ist, wahrscheinlich genauso oft wie ich rausgeklettert bin und mich weggeschlichen habe, um ihn zu sehen.

Dass Holden das heute getan hat, bringt all die Erinnerungen zurück. Die guten, die schlechten, aber vor allem die schönen. Die besonderen Momente, die nur uns allein gehört haben.

Langsam drehe ich mich zu ihm um, auch wenn mein bandagierter Arm genau wie mein restlicher Körper mit einem dumpfen Pochen gegen die Bewegung protestiert. Beim Aufprall muss ich mit dem Arm gegen das Fenster oder Lenkrad geknallt sein und ihn mir verstaucht haben. Dazu sind ein paar Kratzer, Prellungen und blaue Flecken gekommen. Ein geringer Preis dafür, wie der Unfall noch hätte ausgehen können.

Ich schaudere unwillkürlich.

Holden hebt seinen Arm und die Decke an, um es mir leichter zu machen, dann legt er beides wieder über mich. Jetzt kann ich ihm ins Gesicht sehen, auch wenn es dunkel im Zimmer ist. Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist, aber ich muss stundenlang geschlafen haben.

Der Blick aus seinen blauen Augen ist unergründlich. Sorge und Angst liegen darin, aber auch unglaublich viel Erleichterung. Und Liebe. Ich bin so froh, dass er mir das zeigt, dass er mich daran teilhaben lässt und mir nichts mehr vorenthält, dass es mir die Kehle zuschnürt. Denn ich halte auch nichts mehr vor ihm zurück.

Als ich seine warme Hand an meiner Wange spüre, schließe ich wohlig die Augen.

»Wie fühlst du dich?«, fragt er rau.

»Mir geht’s gut«, behaupte ich. »Nur müde. Und Muskelkater.«

Ich hatte Glück. Ich hatte sogar so viel Glück, dass ich es kaum fassen kann. Anscheinend habe ich das Lenkrad in letzter Sekunde reflexartig zur Seite gerissen, sodass die komplette Beifahrerseite mit den Bäumen kollidiert ist – und nicht ich. Wenn jemand bei mir im Wagen gesessen hätte … Bei der bloßen Vorstellung breitet sich Übelkeit in mir aus. Aber ich war allein. Und ich habe überlebt. Mit einem Schock, ein paar Prellungen, einer Wunde am Kopf und ziemlichen Nackenschmerzen, aber ich lebe noch. Nur das zählt.

Stirnrunzelnd öffne ich die Augen. »Woher wusstest du von dem Unfall?«

»Von Taleisha. Sie war im Dienst, als die Feuerwehr dort ankam, und hat dabei geholfen, dich aus dem Wagen zu befreien. Sie hat mich angerufen, sobald du auf dem Weg in die Klinik warst.«

Nicht Dad oder Grandma haben ihm Bescheid gesagt. Nicht das Krankenhauspersonal. Wenn Taleisha nicht gewesen wäre, hätte Holden erst viel später von dem Unfall erfahren und sich die ganze Zeit über Sorgen gemacht.

»Tut mir leid«, murmle ich und lege meine Hand auf seine an meiner Wange.

»Dir muss überhaupt nichts leidtun, Baby.« Seine Lippen streifen meinen Mund für einen winzigen Kuss. »Ich bin so verdammt froh, dass dir nichts zugestoßen ist.« Seine Stimme bricht, und ich höre ihn tief durchatmen.

»Ich auch. Für einen Moment dachte ich, dass es vorbei ist«, gebe ich zu. »Tut mir leid, dass ich mich nicht sofort gemeldet habe …«

»Schon gut. Ich hätte sonst nach dir gesucht. Genau wie du nach mir.«

Seine Worte entlocken mir ein Lächeln, auch wenn nichts an dieser Situation oder an dem Vorfall mit Holden vor knapp einer Woche lustig ist.

»Ich bin nur froh, dass es dir gut geht«, fährt er fort. Seine Lippen streifen meine bei jeder Silbe. Eine kribbelnde Wärme rieselt durch meinen Körper. Nicht auf erregende Weise, sondern so sanft wie das Kommen und Gehen der Wellen an einem ruhigen Tag.

Holdens Nähe, seine Wärme, der vertraute Geruch und seine Worte helfen mir dabei, mich wieder zu entspannen. Die Erschöpfung tut ihr Übriges, nur mein Verstand kann nicht mehr abschalten, jetzt, da ich wach bin.

Bisher habe ich es vermieden, allzu genau über den Unfall nachzudenken. Als die Polizei mich im Krankenhaus in Dads Beisein befragt hat, stand ich zu sehr unter Schock, um mich an den genauen Unfallhergang zu erinnern, doch jetzt merke ich, wie sich der Nebel, der sich in meinem Gedächtnis über das Ereignis ausgebreitet hat, nach und nach lichtet.

Ich weiß noch genau, wie wütend ich auf Dad war, als ich in den Truck gestiegen bin. Ich erinnere mich an das Ruckeln und wie schwer der Wagen beim Abbiegen zu lenken war, habe dem jedoch keine größere Bedeutung beigemessen. Das Ding ist schließlich schon ein paar Jahre alt. Doch jetzt, mit etwas Abstand, kommt mir das seltsam vor.

»Holden?«

»Ja?« Mit dem Daumen streichelt er über meinen Kiefer.

»Was, wenn es kein Unfall war …?«

Sein ganzer Körper verspannt sich, und ich könnte schwören, dass ich sein Herz heftiger unter meiner Hand pochen spüre. »Wie meinst du das?«

»Der Truck war irgendwie … schwerfällig«, sage ich, während ich mich an jedes noch so kleine Detail zurückzuerinnern versuche. »Das Lenken war anstrengend, doch das hätte auch einfach am Wagen selbst oder an der regennassen Straße liegen können. Ich war ganz oben im Norden, an der scharfen Kurve vor Shipwreck Bay, als es plötzlich einen Knall gegeben hat. Instinktiv habe ich ins Landesinnere und von den Klippen weg gelenkt, auch wenn auf der anderen Seite Bäume standen.«

Holden flucht leise und hält mich eine Spur fester, als müsste er sich davon überzeugen, dass ich wirklich am Leben, dass ich noch bei ihm bin.

»War vorher schon etwas mit der Lenkung? Dem Motor oder den Reifen?«

»Nein, ich … Warte. Doch. Das ist mir schon während der Fahrt zu Grandma aufgefallen, aber da dachte ich noch, ich suche nur nach einer Ausrede, um das Gespräch mit Dad weiter vor mir herzuschieben. Das übrigens beschissen gelaufen ist. Egal, was ich sage, es prallt an ihm ab. Er versteht es einfach nicht und denkt immer noch, er hätte das Richtige getan. Als ich weggefahren bin, war ich zu wütend und abgelenkt, um zu bemerken, dass etwas nicht stimmt.«

Bis es zu spät war.

Holden nickt nachdenklich. Auch wenn er nichts mehr zu dem Thema sagt, merke ich, wie es in ihm arbeitet.

Behutsam dreht er sich auf den Rücken und zieht mich mit sich, bis ich den Kopf auf seine Brust betten und den verletzten Arm vorsichtig auf seinem Bauch ablegen kann.

»Ruh dich aus«, murmelt er und streicht über meinen Rücken. »Ich bleibe bei dir, bis du wieder eingeschlafen bist. Und dann finde ich heraus, wie das passieren konnte.«

Die letzten Worte klingen wie ein Versprechen, aber ich bin zu erschöpft, um darauf zu reagieren. Meine Gedanken werden träger, zäher, meine Atemzüge ruhiger. All meine Sinne sind auf Holden ausgerichtet, auf seine Nähe, seine Wärme, das gleichmäßige Pochen seines Herzens unter meinem Ohr, das mich einlullt wie eine Melodie, die nur ich hören kann.

Viel zu spät wird mir klar, dass seine Worte nicht nur wie ein Versprechen klangen – sondern auch wie eine Drohung.