61. Kapitel

Holden

Stunden später liege ich in meinem Zimmer im Bett, Ember in den Armen, während der Schweiß auf unserer Haut trocknet und wir langsam wieder zu Atem kommen. Es ist mitten in der Nacht, nur das Licht einer Straßenlampe scheint herein, und durch das offene Fenster dringt eine angenehm kühle Brise in den Raum.

Wir haben kaum ein Wort miteinander gesprochen, seit wir den Strand verlassen haben. In der WG sind wir sofort wieder übereinander hergefallen, als würden wir mit unseren Körpern das ausdrücken wollen, was mit Worten unmöglich ist. Als würden wir beide nicht loslassen können. Nicht loslassen wollen .

Gedankenverloren streiche ich mit den Fingern über ihren Arm, fahre über ihre warme, weiche Haut, weil ich nicht genug von ihr bekomme und sie berühren muss. Selbst wenn sie sich bereits dicht an mich schmiegt.

»Ich wäre nicht einfach gegangen«, breche ich das Schweigen zwischen uns und muss mich räuspern, weil meine Stimme so rau ist. »Mir ist wichtig, dass du das weißt. Ich hätte in jedem Fall vorher mit dir geredet und mich verabschiedet.«

Statt einer Antwort haut Ember mir fest gegen den Bizeps.

»Hey!« Ich zucke zusammen und starre sie entgeistert an. »Wofür war das denn?«

»Dafür, dass du wieder abhauen wolltest.«

»Von wollen kann nicht die Rede sein«, brumme ich und greife nach ihrer Hand, bevor sie noch mal zuschlagen kann. Stattdessen verflechte ich unsere Finger miteinander und lege sie auf meinem Brustkorb ab. »Ich versuche, das Richtige zu tun.«

»Wann hörst du endlich damit auf, das Richtige zu tun, und entscheidest dich stattdessen, das zu tun, was du wirklich willst?«

Meine Lippen verziehen sich ganz von selbst zu einem wehmütigen Lächeln. Ich wünschte, es wäre so einfach, aber das ist es nicht. Das ist es nie. Erst recht nicht, wenn die Sicherheit und das Leben der Menschen, die ich liebe, von diesen Entscheidungen abhängt.

»Ich glaube dir, dass du nicht einfach gegangen wärst, ohne vorher mit mir zu reden«, wispert Ember schließlich und sucht meinen Blick. »Aber ich muss dir vertrauen können. Keine Geheimnisse mehr. Kein Beschützen mehr, wenn ich nicht beschützt werden will. Du kannst mir keine Entscheidungen abnehmen, verstanden?«

Ich nicke langsam.

»Wenn es etwas zu entscheiden gibt, das uns beide betrifft, dann tun wir das gemeinsam, okay?«

»Versprochen.«

Ember heute Nacht in meinen Armen zu halten, obwohl sie weiß, was ich vorhabe und dass ich gehen muss , ist mehr, als ich je zu hoffen gewagt habe. Vermutlich, nein, sogar ziemlich sicher habe ich es nicht verdient nach all dem Mist, für den ich mitverantwortlich bin, aber – verdammt. Ich genieße es – wie kurz oder lang es auch immer andauern wird.

Wieder streiche ich mit den Fingerspitzen über ihre Haut, diesmal über ihren Rücken, weil sie halb auf mir liegt.

Sie seufzt genüsslich. »Denkst du manchmal darüber nach, wie unser Leben verlaufen wäre, wenn wir es damals geschafft hätten? Wenn wir Golden Bay zusammen verlassen hätten?«

»Früher ständig«, gebe ich zu und seufze tief. »Aber das hat so verflucht wehgetan, dass ich irgendwann damit aufgehört habe. Wir können die Vergangenheit nicht ändern.«

Ganz egal, wie verzweifelt ich es mir in den vergangenen Jahren gewünscht habe.

Ember nickt nachdenklich. »Ehrlich gesagt will ich die Vergangenheit auch nicht mehr ändern. Ich bin froh, wo ich heute bin.«

»In meinem Bett in meinen Armen?«

Sie lächelt langsam und setzt einen Kuss auf meine nackte Brust. »Ganz genau.«

Ich ziehe sie enger an mich. Wenn es nach mir geht, kann sie gar nicht nahe genug sein. »Geht mir auch so.«

Denn allen Umständen und Widrigkeiten zum Trotz sind wir jetzt hier. Ganz egal, was die Zukunft bringt, wir hatten diesen Sommer. Und wir haben diesen Moment.

»Gibt es noch etwas, das du mir sagen möchtest?«, fragt Ember leise. »Was du bisher nicht erzählt hast?«

Da ist kein Misstrauen in ihrer Stimme, obwohl ich es ihr nach all den Geheimnissen nicht verübeln könnte. Aber die Zeiten, in denen ich irgendetwas vor Ember geheim gehalten habe, sind vorbei. Also überlege ich einen Moment lang und will bereits den Kopf schütteln, als mir etwas einfällt. Vorsichtig mache ich mich von ihr los und stehe auf, um nach meiner Hose zu greifen.

»Holden …?« Sie setzt sich auf. Die dünne Bettdecke rutscht an ihr herunter, und ich werde einen Moment vom Anblick ihrer Brüste abgelenkt. Als sie es bemerkt, lächelt sie wissend.

Ich reiße mich aus meiner Trance, hole meinen Geldbeutel aus der Hosentasche und ziehe ein zerknittertes Foto heraus, das ich Ember hinhalte. Es ist eine Aufnahme von uns beiden, die ich schon länger mit mir herumtrage, als ich meinen Pick-up fahre.

Ember greift mit zitternden Händen danach. »Das hast du noch?«

Ich nicke, ohne zu zögern. »Am Anfang habe ich es mir jeden Tag angeschaut, deshalb sieht es so mitgenommen aus.«

Vorsichtig streicht sie über das Bild. Es zeigt uns auf einem Selfie, das ich gemacht habe. Mein Arm liegt um Embers Schultern. Keiner von uns schaut in die Kamera, weil wir nur Augen füreinander haben. Irgendwie habe ich es geschafft, den Moment einzufangen, kurz bevor wir uns küssen. Wenige Monate später habe ich es zweimal ausgedruckt und eins davon Ember zu Weihnachten geschenkt. Das andere habe ich behalten.

Zwischen heute und damals liegen mehr als sechs Jahre, und obwohl wir wieder ein Paar sind, könnten die Menschen auf dem Foto nicht weiter entfernt sein von den Personen, die wir heute sind.

»Ich hab das Foto auch noch«, gesteht sie und sieht zu mir hoch.

»Wirklich?« Ich setze mich wieder aufs Bett und schiebe die Kissen zurecht.

Ember zieht das Laken höher und lehnt sich an mich, das Foto noch in der Hand. »Meins hab ich in einer kleinen Holzschatulle aufbewahrt. Zusammen mit anderen Erinnerungsstücken, an die ich nicht mehr denken, die ich aber auch nicht verlieren wollte.«

Ich lege meine Hand um ihre und betrachte die beiden Teenies, die so glücklich aussehen. So sorgenfrei. Sie hatten nicht die geringste Ahnung, was das Leben für sie bereithalten würde.

»Fünf Jahre lang habe ich bereut, was ich getan habe. Ich hab versucht, meine Vergangenheit hinter mir zu lassen und dich zu vergessen, aber … ich konnte nicht. In meinen dunkelsten Stunden musste ich an dich denken. An uns. Der Gedanke an dich hat mich durch die zwei Jahre im Knast gebracht, auch wenn ich das Foto nicht behalten durfte. Aber ich wollte dich unbedingt wiedersehen und dir endlich alles erzählen. Das war das Einzige, was mich bei Verstand gehalten hat.«

Ich halte ihren Blick fest, versinke in ihren Augen, bis sie sich vorbeugt und meine Lippen mit ihren streift. Es ist kein richtiger Kuss, vielmehr eine Ahnung davon. Ein hauchzartes, viel zu kurzes Streichen. Sie gibt mir das Foto zurück, und ich lege es vorsichtig auf den Nachttisch neben mich, dann hebe ich den Arm an und Ember kuschelt sich an meine Seite.

Ich seufze tief. »Wir waren immer zum Scheitern verurteilt. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass wir heute überhaupt hier liegen und miteinander reden, ging von Anfang an gegen null.«

»Und trotzdem sind wir hier.«

Mit einem schiefen Lächeln greife ich nach ihrer Hand, um unsere Finger miteinander zu verflechten. »Es gibt niemanden, mit dem ich lieber hier wäre.«

»Ach wirklich?« Sie sieht mit einem Funkeln in den Augen zu mir hoch. »Was ist mit Beck? Oder Jayden?«

Ich blinzle perplex. »Was?«

»Du hast die zwei ins Vertrauen gezogen, und ihr habt diese halsbrecherische Aktion geplant und durchgezogen. Sie müssen dir wichtig sein, andernfalls hättest du sie nie um Hilfe gebeten.«

»Du hast recht. Beck und Jayden sind gute Freunde. Freunde, die ich nicht missen will. Aber das heißt nicht, dass ich scharf drauf bin, nackt und verschwitzt mit ihnen im Bett zu liegen.«

Ember lacht laut auf. »Danke für dieses Bild in meinem Kopf.«

Ich beuge mich zu ihr hinunter und beiße ihr spielerisch ins Ohr. »Gern geschehen.«

Sie lacht noch immer, und ich warte, bis sie sich beruhigt hat, um etwas hinzufügen.

»Das ist wichtiger.« Ich halte unsere miteinander verschränkten Finger hoch. »Das ist alles für mich.«

Ember lächelt weich und haucht mir einen Kuss auf die Lippen.

Ich habe keine Ahnung, wie spät es inzwischen ist. Wir sollten längst schlafen, trotzdem muss ich die nächsten Worte aussprechen. Diesmal muss ich es richtig machen.

»Ich kann nicht hierbleiben. Solange ich in Golden Bay bin, sind alle, die mir etwas bedeuten in Gefahr. Du bist in Gefahr, Em. Der Autounfall hätte auch ganz anders ausgehen können.«

»Ich weiß.« Sie wird schlagartig ernst. »Glaub mir, das weiß ich.«

»Ich kann nicht zulassen, dass so etwas noch mal passiert, und riskieren, dass du oder Gemma oder Mom …«

»Hey.« Ember richtet sich auf und legt die Hand an meine Wange. Mit dem Daumen streicht sie über die Bartstoppeln. »Das wird es nicht.«

Wir wissen beide, dass sie das nicht versprechen kann. Das kann keiner von uns.

»Ich werde gehen«, wiederhole ich. »Aber es ist ganz allein deine Entscheidung, was du mit dieser Information anfängst. Ob du in Golden Bay bleibst oder mit mir von hier verschwindest.«

Sie holt bereits Luft, um zu antworten, aber ich komme ihr zuvor.

»Du musst dich nicht jetzt sofort entscheiden. Um ehrlich zu sein, wäre es sogar besser, wenn du das machst, wenn ich nicht bei dir bin.«

Den Plan habe ich mir bereits in den letzten Tagen in Gedanken zurechtgelegt, aber ihn auszusprechen, fällt mir trotzdem verflucht schwer. Weil es dadurch wahr wird. Endgültig.

»Morgen rede ich mit meiner Familie und unseren Freunden und erzähle ihnen alles, dann nehme ich die letzte Fähre um Mitternacht.«