65. Kapitel

Ember

Mein Herz hämmert so laut und schnell, dass ich sicher bin, dass es jeder der drei Männer hören kann. Einer sitzt neben mir auf dem Sofa, ein anderer steht an der Tür zum Flur, und der dritte läuft auf und ab. Sie sind alle bewaffnet. Pistolen, Messer, die Wache an der Tür sogar mit einem Maschinengewehr. Bei dem Anblick zieht sich alles in mir zusammen.

Sämtliche Lichter sind ausgeschaltet. Nur eine kleine Leselampe brennt und erhellt das Nötigste.

Sie haben Holden und Will am Hafen k. o. geschlagen, mich in ihr Auto gezerrt und uns in die Wohnung von Holdens Mutter gebracht. Zum Glück war sie nicht zu Hause, als diese Typen hier eingebrochen sind.

Einer von ihnen hat mich durchsucht, hat seine dreckigen Finger viel zu lange über meinen Körper gleiten lassen, dann mein Handy eingesteckt und meine Hände hinter meinem Rücken gefesselt.

Meine Atmung geht flach. Meine Handgelenke brennen, je länger ich versuche, mich aus den Fesseln zu befreien. Dad hat es mir als Zusatz zu den Selbstverteidigungskursen beigebracht, aber das ist so lange her und ich war mir damals sicher, dass er übertreibt. Dass ich dieses Wissen niemals brauchen werde …

Holden muss hier irgendwo sein. Ich habe seine Stimme gehört, wenn auch nur kurz. Was mit Will passiert ist, weiß ich nicht. Ich kann nur hoffen, dass es ihm gut geht und er nicht noch immer bewusstlos am Hafen liegt. Oder schlimmeres.

Es ist so still, dass ich jeden Atemzug hören kann. Meine eigenen und die der Männer. Jedes der vereinzelt vorbeifahrenden Autos, was den irrwitzigen Drang in mir weckt, ans Fenster zu rennen und um Hilfe zu schreien. Aber ich tue es nicht. Würde ich das versuchen, wäre ich schneller tot, als ich das Wort Hilfe aussprechen kann.

Keiner der Männer trägt eine Maske. Entweder ist es ihnen egal, dass ich ihre Gesichter sehen kann und sie später identifizieren könnte – oder es wird kein Später geben.

Ich schlucke hart, als sich der Geschmack von Galle in meinem Mund ausbreitet. Es muss einen Ausweg geben. Es muss . Doch bisher sitze ich noch immer hier wie eine Damsel in Distress und kämpfe mit den verdammten Fesseln.

Nur noch ein kleines bisschen …

Ich beiße die Zähne zusammen, versuche den Schmerz in meinen aufgeschürften Handgelenken zu unterdrücken und mich ganz darauf zu konzentrieren, mich zu befreien, ohne dass sie es merken.

Plötzlich kommt Bewegung in die Truppe. Der Mann an der Tür deutet auf mich.

»Aufstehen!«

Meine Knie zittern, aber ich tue, was er sagt. Durchquere das Wohnzimmer, in dem ich als Kind und Teenager so oft war, und gehe zögernd zu ihm.

Grob packt er mich am Oberarm und schiebt mich vor sich her, den Flur hinunter, Richtung Holdens Zimmer.

Als der Kerl mich in den Raum stößt, stolpere ich beinahe über meine eigenen Füße.

»Em!«

Beim Anblick von Holden mit blutender Platzwunde an der Schläfe, setzt etwas in mir aus. Mit einem letzten Ruck befreie ich mich aus den Fesseln, wirble zu meinem Entführer herum und verpasse ihm einen Kinnhaken, dann renne ich auf Holden zu, will ihm helfen, ihn …

Das leise Klicken einer Waffe lässt mich abrupt innehalten.

»Was für ein Wildfang.« Der Mann lächelt kalt, während er den Lauf der Pistole gegen Holdens Kopf drückt. Das muss Hendrick sein. »Keinen Schritt weiter. Sonst kannst du seine Überreste vom Boden aufkratzen.«

Mein Magen verkrampft sich vor Angst. Mein Puls schnellt in die Höhe. Obwohl sich alles in mir dagegen sperrt, tue ich, was er sagt, und bewege mich nicht mehr.

Der Typ, der mich festgehalten hat, ist wieder da. Mit einer Hand wischt er sich das Blut von der Lippe, mit der anderen reißt er mich grob zurück.

»Hey!«, mischt sich Jayden ein. »Es ist nicht nötig, ihr wehzutun.«

Jayden.

Ich starre ihn hilfesuchend an, aber er ignoriert mich, meidet meinen Blick komplett. Er steht einfach nur da und …

Oh Gott. Er arbeitet für sie. Nicht für meinen Dad, nicht für alles, was gut und richtig ist, sondern für diese Leute .

Wut und Fassungslosigkeit tosen durch mich hindurch. Am liebsten würde ich Jayden anschreien, aber ich ertrage seinen Anblick nicht länger. Und die Angst um Holden ist zu groß. Zu präsent.

Er steht noch immer reglos neben dem Bett, während Hendrick ihm die Waffe gegen den Kopf drückt.

»Bitte …«, flehe ich. »Bitte tun Sie das nicht!«

»Und warum nicht?« Hendricks Miene ist so ausdruckslos, so völlig emotionslos, dass ich schaudere. »Er hat mich verraten. Er wollte mir alles nehmen, was ich mir jahrzehntelang aufgebaut habe. Und wofür?« Angewidert verzieht er das Gesicht. »Für dich.«

»Nein, das …«

»Ember.« Holdens Stimme unterbricht mich. »Achte nicht auf ihn. Sieh nur mich an.«

Ich schüttle den Kopf. Weigere mich, ihn anzuschauen, weil ich weiß, was er sagen wird. Er will sich entschuldigen. Sich verabschieden. Und das ertrage ich nicht.

Ich kann ihn nicht verlieren. Nicht schon wieder. Nach allem, was wir füreinander durchgemacht haben, nach allem, was wir zusammen durchgestanden haben, soll es so enden?

»Em.«

Holdens ruhige Stimme zwingt mich dazu, den Kopf zu heben und seinen Blick zu suchen. In seinen Augen liegt eine Wärme, die ich hier und jetzt nicht erwartet habe.

»Ich liebe dich.«

Fassungslos starre ich ihn an. Doch wo Freude und pures Glück durch mich hindurchtosen sollten wie jedes Mal, wenn ich diese Worte aus seinem Mund höre, ist heute nur Verzweiflung. Nackte, unverfälschte Angst.

»Nicht … Sag das nicht so, als wäre es das letzte Mal.« Tränen steigen mir in die Augen, und meine Sicht verschwimmt. »Du hast versprochen, mich nicht wieder im Stich zu lassen, erinnerst du dich? Du hast es versprochen ! Wehe, du verlässt mich jetzt!«

Holdens Muskeln spannen sich an, aber er rührt sich nicht, versucht nicht, sich zu befreien. Er kann nicht. Wenn er auch nur eine falsche Bewegung macht, nur ein falsches Wort sagt …

Hendricks Mundwinkel wandern nach oben, doch der Ausdruck in seinen Augen bleibt eiskalt. »Dachtest du wirklich, du würdest so leicht davonkommen?« Er drückt den Lauf dermaßen fest gegen Holdens Schläfe, dass dieser den Kopf zur Seite drehen muss. »Oh nein. Du hast mir alles genommen, was mir wichtig war. Dafür hätte ich andere längst abgeknallt. Aber du? Du verdienst eine härtere Strafe.« Unvermittelt richtet er die Waffe nach vorne. Auf mich. »Jetzt nehme ich dir alles, was dir lieb und teuer ist.«

»Nein!«

Holdens Schrei geht in dem Schuss unter, der durch die Wohnung peitscht.