72. Kapitel

Ember

Zwei Tage, bevor wir nach Montréal aufbrechen, ist die Auffahrt voller Autos, das Haus von außen mit Lichterketten geschmückt, und fröhliche Popmusik schallt bis nach draußen.

»Ich kann nicht glauben, dass du das getan hast!«, rufe ich, als wir das Haus betreten. Mittlerweile haben Shae und ich uns komplett eingerichtet, doch jetzt sieht es völlig anders aus.

Bunte Girlanden hängen an den Wänden, über den Türen und am Treppengeländer. Luftballons schweben an der Decke und am Boden. Luftschlangen schlingen sich um Vasen mit frischen Blumen – natürlich von Camille – , und es gibt genug Essen, um die ganze Insel damit zu füttern.

»Wie hast du …?« Sprachlos schaue ich mich um.

»Ich hatte ein bisschen Unterstützung«, gesteht Holden. »Genauer gesagt eine Menge. Jeder wollte helfen.«

Alle sind da. Taleisha und Zion, Will, Beck, Shae, Camille und ihre Freundin Meghan. Alte Schulfreunde und -freundinnen, die ich ewig nicht mehr gesehen habe. Im Wohnzimmer neben dem Kamin entdecke ich sogar Ivy, die ihr Café sonst nie verlässt. Jetzt beißt sie genüsslich in ein Stück Quiche.

Grandma hat ihre berühmten Zimtschnecken und Maple Cookies mitgebracht und unterhält sich angeregt mit Holdens Mutter Carol, die eine klassische Poutine mit Pommes, vegetarischer Soße und Käsebällchen beigesteuert hat.

Dad ist nicht gekommen. Unsere Beziehung ist noch immer angespannt, und es wird eine Weile dauern, bis ich ihm wieder vertrauen kann. Bis wir das, was zwischen uns zerbrochen ist, reparieren können. Ich bin ihm unglaublich dankbar, dass er uns zur Hilfe gekommen ist, weiß aber auch, dass er das nicht nur mir zuliebe und schon gar nicht wegen Holden getan hat, sondern weil es sein Job ist. Weil sein Job schon immer über allem stand. Aber vielleicht können wir eines Tages wieder einfach nur Vater und Tochter sein …

Jayden wurde inzwischen zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, genau wie die anderen korrupten Polizisten und Leute von der Staatsanwaltschaft, die sich von Hendrick haben bezahlen oder erpressen lassen. Keiner von ihnen wird in allzu naher Zukunft freikommen. Und selbst wenn Jayden eines Tages wieder entlassen wird, bezweifle ich, dass er je nach Golden Bay zurückkehren wird. Er hat uns alle ausgenutzt, belogen und betrogen. Hier gibt es nichts mehr für ihn. Nur noch die Erinnerung an einen Mann, an einen Freund , der er in Wirklichkeit nie war.

Gemma entdeckt mich als Erstes und kommt mit ausgestreckten Armen auf mich zu. Mittlerweile ist ihre Schwangerschaft kein Geheimnis mehr, da die kleine Rundung ihres Bauches deutlich zu sehen ist.

»Willkommen zu Hause, Ember!«

Ich schlucke, um den Kloß in meinem Hals loszuwerden, komme aber nicht dagegen an. Zu Hause.

Peter umarmt mich als Nächstes und klopft Holden auf die gesunde Schulter.

»Danke«, wispere ich und stelle mich auf die Zehenspitzen, um Holden zu küssen. »Du weißt nicht, wie viel mir das bedeutet.«

Sein Blick ist so zärtlich, dass sich mein Herz schier überschlägt. »Doch«, sagt er leise und streicht mir eine Haarsträhne hinters Ohr. »Das weiß ich.«

Lächelnd greife ich nach seiner Hand und ziehe ihn mit mir, geradewegs ins Partygeschehen hinein. Wir essen, trinken, feiern und stoßen mit allen an.

Irgendwann höre ich Shae lautstark mit jemandem diskutieren und folge den Stimmen in die Küche. Sie steht breitbeinig da und starrt Beck so mörderisch an, dass es an ein Wunder grenzt, dass der arme Kerl noch nicht tot umgefallen ist.

»Ich entführe sie kurz«, mische ich mich ein und hake mich bei ihr unter, dann ziehe ich sie mit mir zurück ins Wohnzimmer. »Lass dich nicht ständig von ihm provozieren.«

»Ich kann nicht anders!«, stöhnt sie. »Am liebsten würde ich ihm einen Drink ins Gesicht schütten. Nein, besser noch einen Eimer lebender Krabben, die sich alle an ihm festbeißen.«

Ich pruste los. »Das ist ziemlich brutal – sogar für deine Verhältnisse.«

Sie zuckt mit den Schultern, aber ich kann ihr ansehen, dass es ihr nicht so egal ist, wie sie tut.

»Wie wär’s mit einem Drink, den wir niemandem ins Gesicht schütten, und danach stürzen wir uns auf die Tanzfläche?«, schlage ich vor.

Ihre Augen leuchten auf. »Erdbeer-Daiquiri?«

»Erdbeer-Daiquiri.«

Glücklicherweise ist es nicht Beck, der uns die Drinks mixt, sondern Will. Als er uns die Gläser in die Hand drückt und verschwörerisch zuzwinkert, scheint Shae die Konfrontation mit Beck schon wieder vergessen zu haben.

Wir stoßen miteinander an und trinken einen großen Schluck. Der Geschmack von frischen Erdbeeren und Rum breitet sich in meinem Mund aus und entlockt mir ein zufriedenes Lächeln. Als Kinder haben Shae und ich uns immer Erdbeershakes gemacht und so getan, als wären wir Erwachsene, die Alkohol trinken. Jetzt sind wir erwachsen und tun genau das. Aber vor allem sind wir zusammen hier. Beste Freundinnen, egal wie nah oder weit entfernt wir voneinander sind. Und ein kleiner egoistischer Teil von mir hofft, dass Shae langfristig in Golden Bay bleibt und wir nie mehr so weit voneinander entfernt sein werden wie in den letzten Jahren, denn sie hat mir unglaublich gefehlt.

Mit den Drinks in der Hand stürzen wir uns auf die Tanzfläche, stoßen zu Zion und Taleisha, Camille und ihrer Freundin Meghan, und Gemma, die es irgendwie geschafft hat, meine Grandma zum Tanzen zu überreden. Sie ist ihre Krücken zwar los, trotzdem hält Gemma sie an den Händen fest, während die beiden sich zur Musik bewegen.

Plötzlich wandert Shaes Blick an mir vorbei, und ein Grinsen breitet sich auf ihrem Gesicht aus. Sie deutet hinter mich, und als ich mich umdrehe, stockt mir der Atem.

Holden steht direkt vor mir, in Jeans und einem schwarzen T-Shirt, mit Dreitagebart und Narbe an der Augenbraue. Und obwohl er keinen Smoking trägt wie bei unserer ersten Begegnung nach all der Zeit, hat er noch immer dieselbe Wirkung auf mich.

Insbesondere, als er mir die Hand hinhält und seine Lippen sich zu einem winzigen Lächeln verziehen. »Darf ich um diesen Tanz bitten?«

Mit pochendem Herzen lege ich meine Hand in seine und lasse mich an ihn ziehen. »Was ist mit deiner Armschlaufe passiert?«

»Die brauchte mal eine Pause.« Auf meinen alarmierten Blick hin fügt er schnell hinzu: »Keine Sorge, ich lege sie nachher wieder an. Aber diesen Tanz wollte ich mir nicht entgehen lassen.«

Kaum ausgesprochen, führt er mich so schwungvoll wie damals auf Gemmas und Peters Hochzeit in eine Drehung und zieht mich ruckartig an sich. Ich lande lachend wieder in seinen Armen.

Unfassbar, wie viel Zeit seit damals vergangen zu sein scheint, dabei sind es nur ein paar Monate. In diesem Sommer hat sich mein Leben völlig verändert.

Nein, das ist nicht ganz richtig. Ich habe mich verändert. Der Rest hat sich dadurch ergeben. Und so schmerzhaft diese Veränderungen manchmal auch waren, möchte ich keine einzige davon missen. Weder die schönen Momente, das Lachen und Feiern mit meinen liebsten Menschen, das Backen und die Gespräche mit Grandma, noch die vielen Küsse und intimen Augenblicke mit Holden oder die traurigen Situationen. Die bitteren Tränen, die ich geweint habe, und die Verzweiflung, die mich beinahe zerstört hätte.

All das hat mich an diesen Punkt gebracht, an diesen Ort, mit diesen Menschen.

Ausgerechnet jetzt ertönen die ersten Klänge eines langsamen Lieds, das mir viel zu bekannt vorkommt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Shae ihre Finger im Spiel hatte. Erst recht, als ich den Song als »Perfect Duet« erkenne. Das gleiche Lied, das auch auf Gemmas und Peters Hochzeit gespielt wurde, nur diesmal im Duett von Ed Sheeran und Beyoncé.

Das gleiche Lied, zu dem ich damals mit Holden getanzt habe.

»Woran denkst du?«, fragt er.

»Daran, dass dieses Lied perfekt passt.«

Er lächelt und führt mich in eine langsame Drehung.

»Und daran, dass es all das wert war«, füge ich hinzu, sobald ich wieder in seinen Armen lande.

»Ja …?«, will er eine Spur leiser und ernster wissen.

Ich nicke ohne das geringste Zögern.

»Das ist gut, denn ich muss dich noch etwas Wichtiges fragen.«

Mein Herzschlag beschleunigt sich. »Okay …?«

Zu meiner Überraschung spricht er nicht sofort weiter, sondern scheint sich kurz sammeln zu müssen. Er sieht zur Seite und atmet tief durch, dann erst öffnet er den Mund – aber ich komme ihm zuvor.

»Ja.«

Er blinzelt perplex. »Du weißt doch gar nicht, was ich sagen wollte.«

»Spielt keine Rolle«, erwidere ich und streiche ihm lächelnd über den Nacken.

»Ach wirklich?« Er beugt sich näher zu mir, bis sich unsere Nasenspitzen berühren und unsere Atemzüge vermischen. Bis der Rest der Welt in den Hintergrund tritt und ich nur noch ihn wahrnehme. Ihn und all die wundervollen kribbeligen Gefühle, die er in mir auslöst.

»Wirklich. Denn egal, was du mich fragen willst, meine Antwort wird immer Ja lauten, weil du es bist.«

Ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus, so warm und strahlend, dass ich gar nicht anders kann, als es zu erwidern. Genau wie seinen Kuss, als er sich das letzte Stück zu mir hinunterbeugt und seine Lippen auf meine presst.

Genau hier, in meinem alten neuen Haus, vor den Augen all unserer Freunde, Freundinnen und Familien.

Genau hier in Golden Bay, wo alles vor vielen Jahren angefangen hat.

»Eigentlich wollte ich nur wissen, ob ich die letzte Zimtschnecke von deiner Grandma haben kann«, murmelt er an meinen Lippen. »Und da du schon Ja gesagt hast …«

Ich werfe den Kopf zurück und lache so laut auf, dass sich mehr als nur ein paar Leute zu uns umdrehen. Früher wäre mir das unangenehm gewesen, heute ist es mir völlig egal.

»Du bist unmöglich.«

Schalk blitzt in seinen Augen auf. »Es sind wirklich gute Zimtschnecken.«

»Ich weiß!«

Schließlich ist das mein Lieblingsdessert, und ich bin mir ziemlich sicher, dass Grandma sie vor allem für mich gebacken hat.

Trotzdem nicke ich. »Du kannst die letzte haben.«

»Danke.« Grinsend beugt sich Holden erneut zu mir hinunter, um mir etwas ins Ohr zu flüstern. Eine neue Frage. Das, was er eigentlich vorschlagen wollte.

Vor Aufregung beschleunigt sich mein Puls. Bei der bloßen Vorstellung schießt glühende Hitze durch meinen Körper und sammelt sich zwischen meinen Schenkeln.

»Keine Angst«, raunt er an meinem Ohr und knabbert leicht daran. »Ich sorge dafür, dass uns niemand hört.«

Bei den Bildern, die der Satz in meinem Kopf auslöst, muss ich mir fest auf die Unterlippe beißen, um jedes Geräusch zu unterdrücken, das mich verraten könnte.

»Das ist total riskant«, wispere ich.

»Ich weiß.« Sein warmer Atem streift meinen Hals, und ich reagiere mit einer prickelnden Gänsehaut darauf.

Langsam lege ich den Kopf in den Nacken und suche seinen Blick. Seine Pupillen sind geweitet, sein Atem geht schneller, und in seinen tiefblauen Augen sehe ich nichts als Verlangen, Liebe und Abenteuerlust.

»Wir ziehen das wirklich durch, oder?«, frage ich leise.

Was auch immer er in meiner Miene liest, lässt ihn lächeln.

»Wir ziehen es durch.« Spielerisch hält er mir seine Hand hin, und ich lege meine, ohne zu zögern, hinein. »Bereit?«