Wo wir hinwollen
Die Agrarwende ist in aller Munde – bei protestierenden Landwirtinnen und Landwirten, Politikerinnen und Politikern sowie NGOs und Verbraucherinnen und Verbrauchern. Fast alle wollen, dass sich etwas ändert.
117 Nur was genau und wie eine gute Zukunft aussehen kann, wird sehr unterschiedlich bewertet. Man kann sogar sagen, dass die Akteurinnen und Akteure weltweit diesbezüglich in zwei Lager gespalten sind.
Präzisionslandwirtschaft mit viel Technik
Ein Teil hofft, durch technischen Fortschritt das System zu erhalten, Emissionen trotz Wachstum zu reduzieren und ausreichend Nahrungsmittel produzieren zu können. Unter dem Stichwort »Climate-Smart Agriculture« werden derzeit viele Lösungen zum reduzierten Einsatz von Pestiziden und Düngemitteln, zu effizienter Wassernutzung sowie zur Reduktion von direkten Emissionen erforscht.
Sehr viel Geld von privaten Unternehmen, öffentliche Forschungsgelder sowie Kredite der Weltbank fließen in die Forschung und Entwicklung von Technologien in der Landwirtschaft. Die Agriculture Innovation Mission for Climate beispielsweise hat vier Milliarden Dollar für Innovationen versprochen, um Emissionen zu reduzieren.
118 Mit dabei sind unter anderem Großkonzerne wie PepsiCo und der weltgrößte Fleischproduzent José Batista Sobrinho Sociedade Anônima (JBS S. A.) sowie der internationale Handelsverband CropLife. Einen Systemwandel kann man von dieser hochkarätigen Besetzung vermutlich nicht erwarten, denn erklärtes Ziel ist auch die Umsatzsteigerung, sogenanntes grünes Wachstum: Um zum Beispiel Methanemissionen aus der Rinderhaltung zu verringern, werden Nahrungsergänzungsmittel entwickelt, die im Rindermagen die Methanproduktion verhindern sollen.
Der Landmaschinenhersteller John Deere sieht zwei Trends, die die Zukunft der Landwirtschaft ausmachen: Elektrifizierung der Maschinen sowie autonome Prozesse ohne menschliches Zutun durch Automatisierung und künstliche Intelligenz. Drohnen und selbstfahrende Traktoren könnten sehr präzise steuern, wo Pestizide oder Düngemittel benötigt werden, und so die benötigten Mengen reduzieren. Die Themen Ökosysteme und Biodiversität auf landwirtschaftlichen Flächen werden in diesem Kontext aber meist ausgeblendet.
Was ist regenerative Landwirtschaft?
Der Fokus liegt nicht auf den Pflanzen, sondern auf der langfristigen Verbesserung der Bodenqualität und wird durch die unten aufgeführten Maßnahmen erreicht (Hinweis: Es gibt nicht nur eine Vorgehensweise, eine individuelle Ausgestaltung muss jeweils an den Betrieb und die Bedingungen vor Ort angepasst werden).
Direktsaat: Um das Bodenleben nicht zu stören, soll wenig bis gar nicht gepflügt werden. Das verbessert langfristig die Bodenstruktur und die natürliche Bodenfruchtbarkeit, und auch für Lebewesen wird der Boden als Habitat attraktiver. Zudem wird Erosion minimiert.
Permanente Bodenbedeckung und Durchwurzelung: Zur Verbesserung der Wasseraufnahme und -speicherung verbleiben mindestens Ernterückstände als Mulch. Eine Kultur geht dadurch nahtlos in die nächste über.
Förderung der Biodiversität: Durch Mischkultur oder mindestens Zwischenfruchtmischungen und lange Fruchtfolgen werden viele unterschiedliche Pflanzen auf derselben Fläche angebaut, dadurch auch die Insektenvielfalt erhöht.
Integration von Tierhaltung: Wenn Rinder in angemessener Zahl auf Grünflächen weiden, sorgen sie für mehr Kohlenstoffspeicherung im Boden und für vielfältigere Ökosysteme.
Verzicht von künstlichen Produktionsmitteln: All die oben genannten Prinzipien führen dazu, dass Pflanzen widerstandsfähiger sind und deshalb auf viele chemische Produkte verzichtet oder deren Einsatz minimiert werden kann.
Regenerative und solidarische Landwirtschaft
Das andere Lager fordert einen tiefgreifenden Wandel der Nahrungsmittelproduktion und der Ernährungsweise. Die Idee dahinter ist, den Boden mit organischer Substanz anzureichern (siehe
»Was ist regenerative Landwirtschaft?«), um dadurch zum einen Wasser länger im Boden speichern zu können und zum anderen gute Erträge zu erzielen. Außerdem sollen Mischkulturen, Hecken und Blühstreifen für eine hohe Biodiversität sorgen, die dann wiederum den Einsatz von Pestiziden mindert, da ein natürliches Gleichgewicht entsteht. Auf kleiner Fläche können so relativ viele Nahrungsmittel angebaut werden, die einen hohen Nährstoffgehalt haben und deshalb sehr gesund sind.
Diese Lebensmittel werden dann im Idealfall produziert und vertrieben und direkt an die Verbraucherinnen und Verbraucher vermarktet. Letztere sollen nicht wie an der Supermarktkasse einen vom Weltmarkt und der Börse abhängigen Preis bezahlen, sondern einen am Anfang des Jahres mit ihren Produzentinnen und Produzenten abgemachten festen Abnahmebetrag – unabhängig davon, wie hoch die Ernte ausfällt oder wie die Preise sich entwickeln. Das liefert den Landwirtinnen und Landwirten Planungssicherheit und ermöglicht ökologischeres Wirtschaften ohne Druck von außen.
Was in der Theorie für manche ideal klingen mag, bedeutet in der Praxis einen kompletten Systemwandel. Denn diese Art der Landwirtschaft erforderteinen höheren Einsatz menschlicher Arbeitskraft mit weniger Maschinen, außerdem eine Abkehr von kurzfristiger Gewinnmaximierung durch hohe Erträge hin zu einer langfristigen Sicherung mittlerer Erträge – aber das auch in Dürre- und Krisenjahren. Dafür ist nicht nur ein Umdenken bei staatlichen Förderungen notwendig, sondern auch in der landwirtschaftlichen Betriebslehre wichtig. Bei Verbraucherinnen und Verbrauchern sind außerdem Kreativität beim Zubereiten der saisonal verfügbaren Nahrungsmittel und der Austausch mit den Produzentinnen und Produzenten gefordert. Ungesunde und energieintensive Fertigprodukte werden vermieden, fleischhaltige Produkte sollten deutlich weniger oft auf dem Teller landen. Unsere Gesellschaft muss dabei nicht komplett auf Fleisch verzichten, den Konsum jedoch auf ein Maß beschränken, das verträglich für Böden und Biodiversität ist.
Einige Expertinnen und Experten sehen diese Zukunftsvision als Idealismus mit Nischendasein an. Welche der beiden Visionen Realität wird, hängt letztendlich stark davon ab, wie sehr sich die Verbraucherinnen und Verbraucher engagieren werden. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass in Zukunft ein größerer Teil der Flächen wieder konventionell, aber mit hochtechnologisierten Maschinen bewirtschaftet wird.
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