Aber da gehe ich erst später hin. Vorher mach ich noch meine Bückrunde. So nenn ich meine Schicht auf dem Friedhof. Ein- bis zweimal die Woche sammle ich Müll und Laub von den Gräbern, schmeiße vergammelte Blumensträuße auf den Kompost oder gieße die Pflanzen, wenn es ausnahmsweise mal nicht regnet. Dafür kann ich mir dann einen Zehner bei Frau Ratzlow abholen, das ist die Friedhofsverwalterin. Sie ist schon fast siebzig und könnte längst in Rente sein, aber ich denk mal, sie hat Angst, die Seiten zu wechseln.
Samstag ist der beste Tag für meine Runde. Da sind nämlich auch die Witwen da. Also die, die noch können. Die bringen neue Blumen oder zünden eine Kerze an und sehen mich, wie ich mich kümmer, und schon haben sie einen Schein in der Hand. Oder zumindest was zum Klimpern. Dann bedanken sie sich, weil ich das Beet geharkt habe, als sie neulich im Krankenhaus waren, die Hüfte wieder oder das Knie, man wird schließlich nicht jünger, und ich lächle mein schönstes Mach-ich-doch-gern-Lächeln. Ich kann gut mit alten Leuten, die mögen mich. Liegt vielleicht daran, dass sie nichts über mich wissen, sondern sich einfach selber was zurechtfantasieren. Das nette blonde Mädel mit der Gießkanne.
Heute ist wieder eine Bestattung. Hinten bei den Urnengräbern steht eine winzige Gruppe Schwarzgekleideter. Kein Drama also: Je kleiner die Zahl der Trauergäste, desto älter der Tote. Es sei denn, es war ein richtiger Unsympath, kann natürlich auch sein.
Ich fang immer an der gleichen Stelle an:
Heinrich Ehrlinger
1927—2001
Begrenzt ist das Leben, doch unerschöpflich ist die Liebe
Auf den Gräbern direkt an der Mauer liegt oft Müll. Die Leute schmeißen ihren Kram hier einfach rüber. Denke ich zumindest mal, erwischt hab ich dabei noch keinen. Ich weiß auch nicht, ob ich dann was sagen würde, bin ja nicht die Müllpolizei. Außerdem verdien ich damit mein Geld, also, was soll ich mich aufregen. Ich pflücke ein Snickers-Papier aus der kleinen Hecke, die Ehrlingers Grab eingrenzt, und stopfe es in den Müllbeutel, den ich mitgebracht hab. Weiter zu Erika Lindmann. Ich könnte hier alle Namen auswendig in der richtigen Reihenfolge aufzählen. Mit Geburts- und Todesdaten. Manchmal frage ich mich, ob ich mir damit nicht das Gehirn verstopfe.
Drüben setzt sich der kleine Trauertrupp in Bewegung. Einige von denen sehen echt so aus, als würde es sich gar nicht lohnen, den Friedhof nochmal zu verlassen.
»Einer aus dem Stift. Paarundneunzig. Wurde auch Zeit!«
Ich drehe mich um. Drei Gräber weiter steht Frau Nienhoff bei ihrem Mann. Also an seinem Grab natürlich.
»Frau Nienhoff!«, sage ich so, dass es gleichzeitig nach »Schön, Sie zu sehen« und »Seien Sie mal nicht so pietätlos« klingt. Das gefällt ihr, sie lacht.
»Irgendwann müssen wir alle.«
»Da haben Sie recht.«
»Na, du hast ja wohl noch ein bisschen Zeit.«
»Sie doch auch, Frau Nienhoff.«
Sie lacht wieder und fängt an, in den ausgebeulten Taschen ihres Anoraks zu kramen. Ich bücke mich währenddessen nach einem nassen Taschentuch, das die ersten beiden Buchstaben auf Otto Bodes Grabstein verdeckt.
»Da. Nimm.« Sie streckt mir ihre Hand entgegen, aber bevor ich bei ihr bin, öffnen sich ihre Finger plötzlich wie von allein, und der Fünfer segelt runter. Das hab ich schon ein paar Mal bei ihr erlebt. Keine Ahnung, was das soll, vielleicht hat sie sich einfach nicht mehr so ganz unter Kontrolle. Böse scheint sie es jedenfalls nicht zu meinen, sie guckt immer ganz zerknirscht, wenn das passiert.
Schnell hebe ich den Geldschein auf und nehme ihre knochigen Alte-Frauen-Hände in meine, drücke sie kurz. »Danke schön.«
»Na, ich weiß ja eh nicht mehr, wofür ich das noch ausgeben soll!«
Wieder lacht sie, und ich schüttele streng den Kopf, dann macht sie sich auf den Weg. Sie wohnt in einer der Platten hinter der Kirche, hat einen Balkon zur Straße, da hab ich sie schon oft sitzen sehen. Ist ziemlich stolz darauf, mit über achtzig noch allein zurechtzukommen. Kann ich verstehen. Ich glaube, Altenheim ist die Hölle. Stell ich mir vor wie ewig auf den Bus warten, ohne zu wissen, ob da überhaupt noch einer fährt.
Eine knappe Stunde brauche ich, um einmal alles abzulaufen. Die große Wiese mach ich zum Schluss. Manchmal lasse ich sie sogar ganz aus und sammle nur das Gröbste von den Rändern weg. Es ist nicht so, dass ich das Massengrab gruselig finde. Und Angst hab ich schon gar nicht. Sind schließlich alle tot. Aber ich stell mir immer vor, dass die da unten kreuz und quer liegen, die Füße des einen im Gesicht des anderen, und dann bekomme ich so ein enges Gefühl und würde am liebsten ein Stück rennen, einfach nur, weil ich’s kann. Mach ich natürlich nicht, ist schließlich ein Friedhof hier. In Hallenbädern und auf Friedhöfen wird nicht gerannt, sagt Frau Ratzlow immer. Ich hab sie mal gefragt, ob das nicht merkwürdig ist, hier jeden Tag zu arbeiten, wenn man weiß, dass um einen herum überall Leichen liegen. Da hat sie mich ganz erstaunt angesehen und heftig den Kopf geschüttelt. »Leichen sind nichts anderes als Kompost«, hat sie gemeint. Und dass die Toten sowieso hingehen würden, wohin sie wollen. Kann sein, dass man irgendwann ein bisschen komisch wird, wenn man zu lange auf dem Friedhof arbeitet. Ich mag Frau Ratzlow trotzdem. Wenn ich mir unter der Woche mein Geld bei ihr abhole, bleib ich meistens noch ein bisschen in ihrem Büro sitzen. Sie hat immer was zu erzählen: Wer zuletzt gestorben ist, ob es extravagante Wünsche für die Bestattung gab, ob auf der Trauerfeier mehr gefeiert oder getrauert wurde. Manchmal packt sie auch die alten Geschichten aus, die von ganz früher, die sie selbst nur gehört hat. Und sie hat viel gehört, in all den Jahren. Die Leute kommen auf den Friedhof, um sich zu erinnern, so hat sie mir das mal erklärt. Und wenn sie gerade schon dabei sind, dann wollen sie auch erzählen.
Ich bringe meinen vollen Müllsack zur Tonne. Der Deckel ist festgefroren, ich brauche richtig Kraft, um ihn zu öffnen. Neben der Tonne gibt es einen Wasserhahn für die Gießkannen, unter dem ich mir die Hände wasche. Das Wasser ist eiskalt. Ich sehe zu, wie meine Haut langsam rot wird, eigentlich eine gute Gelegenheit zum Kältetraining, aber ich drehe den Hahn wieder ab. Eine Sache muss ich nämlich noch erledigen.
Ein bisschen abseits, hinten bei den drei Kiefern, ist das Grab Nummer 46. Der flache, weiße Grabstein liegt leicht schräg in der Erde, drum herum eine kleine Rosenhecke. Sieht hübsch aus, wenn sie im Sommer blüht. Ich hocke mich hin, fege ein paar braune Kiefernnadeln vom Stein und lasse die Hand dann einen Moment auf der goldenen Schrift ruhen. Nur sein Name steht dort und die beiden Daten, die so nah beieinanderliegen, sonst nichts, kein Spruch, keine unerschöpfliche Liebe.
»Heute hab ich’s nicht so lang geschafft«, sage ich, ganz leise, damit wirklich nur er mich hört. »Wurde von Mama unterbrochen. Aber nächstes Mal mach ich gleich eine Dreiviertelstunde, das pack ich locker, meine Beine sind viel stärker geworden. Ich mach jetzt jeden Abend Wandhocke.« Ich höre Schritte auf dem Kiesweg und warte kurz, bis ich wieder allein bin. Schon klar, andere machen das auch, mit Toten sprechen, hab ich oft genug mitgekriegt hier, aber ich will nicht gestört werden, ist schließlich ein Privatgespräch. Die Schritte werden leiser, dann ist es wieder still. Ich lasse es trotzdem gut sein für heute, der Moment ist vorbei. »Mach keinen Blödsinn!«, sage ich zum Abschied, dann stehe ich auf und ziehe weiter zu Netto.
*
18 qm wohnt und in fremder Bettwäsche schläft. Aber stattdessen hat sie nur freundlich genickt und am Ende unterschrieben. Der Gedanke daran, das Haus in den nächsten Wochen ausräumen zu müssen, das Haus, in dem sie ihr ganzes Leben lang gewohnt hat, alles zu verpacken und wegzugeben oder, schlimmer noch, wegzuschmeißen, kommt ihr absurd vor. Sie setzt sich auf, schlägt die Decke zurück. Ein eisiger Wind weht ins Zimmer. Im Heim ist es ihr vorhin furchtbar warm vorgekommen, als ob die Heizungen in allen Zimmern voll aufgedreht wären, die Luft war ganz trocken und roch süßlich. Sie hatte an damals denken müssen, an die Tage und Wochen, in denen die Toten noch nicht weggeschafft worden waren und über der Stadt eine Glocke aus süßlichem Leichengeruch und dem Geruch nach Verbranntem hing. Sie steht auf, extralangsam, sie traut ihren Beinen nicht mehr, muss immer erst ein paar Schritte gehen, bis sie sich einigermaßen sicher fühlt. Im Heim wird immer jemand da sein, der ihr aufhilft, hat die Heimleiterin gesagt, sie kann auch einen Gehwagen benutzen, die Flure sind breit, und es gibt einen Fahrstuhl. Sie schließt das Fenster, stützt sich einen Moment auf der Fensterbank ab. Heute Vormittag hat sie sich bei Steffan untergehakt, ist die ganze Zeit an seinem Arm gegangen, so geht es ja auch. Im Fahrstuhl haben sie eine Frau getroffen, die auf der Sitzfläche ihres Gehwagens saß. »Welcher Stock?«, hat Steffan sie gefragt und wollte für sie drücken, aber sie hat nur »Meyer« gesagt und abwesend zur Tür gesehen. Als sie nach der Besichtigung wieder mit dem Fahrstuhl hinunterfuhren, saß die Frau immer noch darin, ist die ganze Zeit über hoch- und runtergefahren. Sie wird keinen Gehwagen benutzen, denkt sie, wo sollte sie hingehen in diesem Heim, was sollte sie vorhaben.
als sie aufwacht, ihre Glieder steif, es ist kalt im Zimmer, das Fenster steht immer noch offen, sie hat vorhin vergessen, es zu schließen. Sie braucht einen Moment, um sich daran zu erinnern, wo sie heute Vormittag mit Steffan war, dann fallen sie ihr wieder ein, die blassgelben Flure des Seniorenheims, und Unruhe macht sich breit in ihr. Man darf fast gar nichts mitnehmen. Die Zimmer sind klein, und es ist alles da, Möbel, Bettwäsche, Handtücher, Vorhänge. »Alles was man braucht«, hat die junge Heimleiterin begeistert gesagt, und sie hätte sie am liebsten gefragt, ob sie denn selbst auch auf