Hab ich mir von der Klassenreise nach Polen letztes Jahr mitgebracht. Passt genau rein, und ich kann ihn nicht aus Versehen ausgeben. Ziemlich praktisch. Ohne Wagen einkaufen gehen ist mir nämlich zu heikel. Entweder friert dir der Arm ab, weil du einen Beutel Tiefkühlpommes druntergeklemmt hast. Oder die Schokolade schmilzt, weil du sie die ganze Zeit gegen deinen Körper drücken musst. Oder dir fällt der ganze Kram runter inklusive Pesto im Glas, und dann bekommst du erst mal einen Wischmopp in die Hand gedrückt und darfst dich schön zum Lauch machen.
Der Laden ist natürlich bummsvoll. Alle machen ihre Wocheneinkäufe. Aber ich hab da kein Problem mit, im Gegenteil. Schließlich muss ich das irgendwann können, in chaotischen Situationen klarzukommen. Ich werd nämlich mal Kriegsreporterin. Okay, Netto ist nicht Krieg, aber irgendwo muss man ja anfangen. Kann schließlich später auch nicht einfach sagen: Ups, das ist mir jetzt zu wuselig hier, ich komm morgen noch mal wieder. Nee. Da heißt es dann Augen auf und durch.
In der Gemüseabteilung ist alles dicht. Die Leute lassen ihre Wagen im Weg stehen, während sie in aller Ruhe die Avocados betatschen. Ich biege direkt in den Brotgang ein, Gemüse brauch ich eh nicht. Mittlerweile weiß ich, ohne hinzugucken, wo der Sandwichtoast liegt, kann es mir also im Vorbeigehen in den Wagen schmeißen und direkt zum Kühlregal durchziehen. »’tschuldigung, ’tschuldigung, ’tschuldigung, darf ich mal?«, nuschelnd greife ich an unentschlossenen Rumstehern vorbei und sammle Käse, Schinken, Milch und Pudding ein. Dann parke ich meinen Wagen bei den Tiefkühltruhen, während ich Nudeln, Pesto und Nutella besorge. Erst kurz vor Schluss lade ich Pizza und Eis ein, soll schließlich nicht auftauen. Letzter Stopp: Chipsregal. Ich nehme einen kleinen Umweg, weil ich aus den Augenwinkeln eine Kinderwagen-Blockade wahrnehme, biege in den Knabbergang ein und werde plötzlich ausgebremst. Vor dem Regal mit meinen Lieblingschips steht ein Hindernis, für das ich noch keine Strategie entwickelt habe: Timo. Mit einer fetten, in Plastikfolie eingeschweißten Palette.
Timo war in der Klasse über mir, bis er letztes Jahr geschmissen hat. Oder geflogen ist, da gibt es unterschiedliche Versionen. Man erzählt sich so einiges über ihn. Dass er im Unterricht geraucht hat. Dass er was mit Frau Wolter hatte. Dass er mit dem Hausmeister zusammen Drogengeschäfte organisiert hat. Dass er Fahrradschlösser in unter einer Minute knacken kann. Solche Sachen. Soweit ich weiß, wohnt er in Bangladesch. Das ist das Plattenbauviertel hinter der Schule, keine Ahnung, warum das so heißt, aber alle nennen es so. Ich denk mal, mindestens die Hälfte der Geschichten über Timo sind ausgedacht. Jetzt arbeitet er jedenfalls offensichtlich bei Netto und steht hier im Weg rum.
Ich überlege kurz, ob ich die Chips wirklich brauche. Sind ja auch ungesund und so. Aber dann entscheide ich mich doch dafür, zu kämpfen.
»Kann ich mal?«
Timo sieht mich kurz an. In seinem Gesicht liegt absolut kein Ausdruck. Unmöglich zu sagen, ob er mich gehört hat. Ohne zu antworten, wendet er sich wieder seiner Palette zu, holt einen Cutter aus der hinteren Hosentasche und fängt an, die Folie damit aufzuschlitzen.
»Ich muss nur kurz an die Chips ran.«
Timo geht langsam in die Hocke, der Cutter gleitet mit ihm nach unten, trennt das Plastik mit einem sauberen Schnitt. Sieht fast ein bisschen elegant aus. Er kommt wieder hoch und reißt die Folie mit den Händen ab. Stapelweise Kekspackungen kommen zum Vorschein. Leider keine Chips.
»Hallo?«
Er sieht mich wieder an. Und grinst. Warum grinst er bitte?
»Nicht so ungeduldig.«
Er kann also sprechen. Schön. Leider sagt er jetzt nichts mehr, sondern steckt seinen Cutter wieder ein und fängt in Zeitlupe an, die Kekse ins Regal zu räumen. Ich schätze, wenn er in dem Tempo weitermacht, braucht er locker eine Stunde für die Palette. Warten ist also keine Option. Einfach abziehen natürlich auch nicht. Bleibt nur eins: Angriff. Ich schnappe mir den Hebel des Hubwagens. Kann ja so schwierig nicht sein, das Ding zu bewegen. Mit meinem ganzen Gewicht stemme ich mich darauf und beuge mich gleichzeitig nach rechts. Der Wagen setzt sich in Bewegung, aber dummerweise in die falsche Richtung. Die Palette rammt links das Regal, ein paar Kekspackungen gehen zu Boden.
»Bist du bescheuert oder so?«
Timo fragt das gar nicht wütend, sondern eher belustigt. Ich entscheide mich trotzdem für einen schnellen Rückzug, schnappe mir eine Tüte Chips, werfe sie in den Wagen und drehe ab. An der Kasse halte ich die Stoppuhr an: 8:37. Nicht schlecht für einen Samstag.