Wenn eine Handgranate explodiert: auf den Boden werfen, Ohren zu und Mund auf. Das mit dem offenen Mund ist wichtig für den Druckausgleich, sonst platzt einem das Trommelfell, und ich denk mal, wenn man grad im Kriegsgebiet unterwegs ist, ist das nicht so praktisch.
Laptop auf dem Bauch. Wenn meine Mutter nicht da ist, seh ich keinen Grund, am Tisch zu essen. Sie besteht leider auf so was, wahrscheinlich weil sie dann das Gefühl hat, ihren Job gemacht und mich erzogen zu haben. Auf dem Laptop läuft eine Doku. Das gehört zu meinem Training, ist sozusagen der Theorieteil. Ich schau mir alles an, was es über Kriegsreporterinnen gibt, und notier mir in meinem Handy, was ich mir für später merken will. Zum Beispiel:Mein großes Ziel ist es, einmal am Hostile Environment Awareness Training teilzunehmen. Das ist ein Training von der Bundeswehr, extra für Leute, die in Kriegsgebiete müssen, also nicht als Soldaten, sondern als Ärzte zum Beispiel oder als Journalisten. Da lernt man dann eine Woche lang, wie man sich im Krieg zu verhalten hat, was man macht, wenn man unter Beschuss gerät, woran man Landminen erkennt und wie man Schusswunden und andere Kriegsverletzungen versorgt. Am letzten Tag wird man von Rebellen entführt und in einen dunklen Raum gebracht, da muss man dann stundenlang auf dem Boden knien und die Hände hinter dem Kopf halten, und wenn den Entführern irgendwas nicht passt, muss man sofort Liegestütze machen. Sie schreien rum und drohen, einen zu erschießen, und irgendwann muss man sogar eine Abschiedsbotschaft an seine Familie aufnehmen. Leider kann man da erst ab achtzehn mitmachen. Bisschen ärgerlich natürlich, aber immerhin hab ich so noch etwas Zeit, für die Teilnahmegebühren zu sparen. 1500 Euro kostet der Spaß.
Es klingelt. Dreimal kurz, einmal lang. Am liebsten würde ich so tun, als wäre ich nicht da, aber ich weiß, dass ich damit nicht durchkommen würde. Es klingelt wieder. Dreimal lang, dann kurz — kurz — kurz — kurz. Sie wird nicht aufgeben, so viel ist sicher. Also strample ich die Decke weg, stehe auf und öffne die Tür.
»Hast du geschlafen?«
Sarinas Mütze passt zu ihrem Schal, beides passt zu ihren Augen, und ich will zurück in mein Bett.
»Nachmittags schlafen ist nicht gut für dich, dann liegst du nachts wach, und dein ganzer Bio-Rhythmus kommt durcheinander. Das kann dich mehrere Jahre deines Lebens kosten.«
»Ich hab nicht geschlafen«, sage ich, lasse die Tür einfach offen und gehe zurück in mein Zimmer. Während Sarina im Flur Schuhe und Jacke auszieht, räume ich meinen Laptop und den Teller mit den Pizzarändern auf den Fußboden und krieche wieder unter die Decke.
»Hier riecht es nach Salami.«
Sarina reißt das Fenster auf, dann lässt sie sich neben mich aufs Bett fallen. Ihre Haare sind elektrisch aufgeladen von der Mütze, stehen in alle Richtungen ab. Wären wir jetzt in der Schule, hätte sie schon längst ihre Bürste in der Hand, aber wenn wir unter uns sind, ist ihr ziemlich egal, wie sie aussieht. Ich lehne mich mit dem Rücken an die Wand, kalte Luft strömt in den Raum. Sarina legt ihre Beine über meine. Das macht sie oft: irgendeinen Körperteil von sich auf mir ablegen.
»Was machst du da?«, frage ich. Sie hängt jetzt mit dem Oberkörper über der Bettkante.
»Musik an«, sagt sie und hebt meinen Laptop zu sich hoch.
»Gib her, ich mach schon.« Ich will ihr den Laptop wegnehmen, aber ihre Beine sind schwer, und ich komme nicht hoch. Sie berührt das Trackpad, der Bildschirm wird hell. Genau das wollte ich vermeiden.
»Hast du dir schon wieder diesen Kriegskram angeschaut?« Sarina ist nicht gerade ein Fan von meinen Zukunftsplänen. Genauer gesagt: Sie findet sie komplett bescheuert.
»Muss dich ja nicht interessieren«, sage ich und nehme ihre Beine endlich von mir runter. Sie setzt sich auf, ich angle mir den Laptop und suche nach Musik, die für bessere Stimmung sorgen könnte.
»Ich glaub dir eh nicht, dass du das ernst meinst«, sagt sie und zupft dabei Flusen vom Bettlaken. Ich scrolle durch meine Playlists, sehe aber gar nicht richtig hin. Sarina hat keine Ahnung, wie ernst es mir wirklich ist.
»Warum schmeißt du dich nicht einfach gleich vom Hochhaus?«
»Weil es in Demmin keine Hochhäuser gibt«, sage ich und ärgere mich sofort, dass ich auf ihre blöde Provokation eingegangen bin.
Sie zieht die Augenbrauen hoch. »Sich umzubringen sollte hier jedenfalls kein Problem sein.«
»Hast du schon Chemie gelernt?«, frage ich, nicht weil mich die Klausur nächste Woche ernsthaft interessieren würde, sondern weil ich dringend das Thema wechseln will.
»Ich kann mich grad nicht konzentrieren …«, sagt Sarina, und es ist klar, dass ich fragen soll, wieso. Ich tue ihr den Gefallen, Hauptsache, wir streiten nicht.
»Wer ist es diesmal?«
Sarina ist eigentlich immer in irgendwen verknallt. Schon in der Grundschule musste ich mit ihr vor der Jungsumkleide rumlungern, damit sie einen Blick auf Rafi in seiner Batman-Unterhose werfen konnte, sobald die Tür aufging. Ich war noch nie verliebt, und das soll auch so bleiben.
»Findest du nicht auch, dass Timo gute Schultern hat?«
»Der Timo, der jetzt bei Netto Paletten auspackt?«, frage ich, obwohl mir kein anderer Timo einfällt, den sie meinen könnte.
Sarina legt den Kopf schräg. »Scheint zumindest ein gutes Training zu sein.«
Ich verdrehe innerlich die Augen und frage mich, wie sie jetzt ausgerechnet auf die Idee kommt, auf Timo zu stehen. Soweit ich weiß, hat sie noch nie ein Wort mit ihm geredet. Aber wirklich wundern tut es mich auch nicht. Wahrscheinlich hat sie zu Hause so eine Art Panini-Heft mit allen Jungs aus Demmin im datefähigen Alter, und jetzt ist er einfach dran.
»In wen warst du eigentlich noch nicht verknallt?«, frage ich und bin selbst überrascht, wie schlecht gelaunt das klingt.
»In dich«, sagt Sarina und tritt mich in die Seite. Dann nimmt sie mir den Laptop wieder weg und macht ihre Musik an.
*
überall im ganzen Haus. Das macht das Mädchen oft, wenn es abends alleine ist. Das Auto steht nicht mehr in der Einfahrt, sicher hat die Mutter Spätschicht, sie arbeitet im Krankenhaus, als Schwester auf der Intensiv. Vor ein paar Jahren hatte sie dort mal liegen müssen, hatte sich eine Lungenentzündung eingefangen, in ihrem Alter kann so etwas das Ende bedeuten, und sie hatte sich schon fast mit dem Gedanken abgefunden, da wurde es doch wieder besser. Sie hat sich gut um sie gekümmert, die Nachbarin, hat ihr das Kissen aufgeschüttelt, hat gefragt, ob die Füße auch warm genug sind, und hinterher, als sie schon wieder zu Hause war, ist sie sogar noch einmal rübergekommen, um sich zu erkundigen, wie es ihr geht. Und deswegen hat sie auch den Ersatzschlüssel bekommen, für den Notfall. Steffan hat zwar auch einen, aber bei dem weiß man ja nie.
Sie spürt, dass sie hungrig ist, seit dem Frühstück hat sie nichts mehr gegessen. In der Küche öffnet sie den Geschirrschrank und nimmt einen der einfachen Teller heraus, die mit dem blau-weißen Muster, den Strohblumen. German Democratic Republic steht auf den Unterseiten, der Schriftzug ist nicht verblasst in all den Jahren. Sie nimmt eine Scheibe Brot aus der Tüte, beschmiert sie dick mit Butter. Sie isst immer die gleiche Sorte von Aldi, einmal die Woche geht sie dort einkaufen, schafft es immer noch allein, auch wenn sie in letzter Zeit länger gebraucht hat für den Weg. Es wäre einfacher, zum näher gelegenen Netto zu gehen, aber seit die Verkäuferin dort einmal unfreundlich war zu ihr, betritt sie den Laden nicht mehr. Manchmal fragt sie sich, ob sie nicht mal nebenan klingeln sollte, vielleicht könnte das Mädchen ihr etwas mitbringen vom Einkaufen. Aber seit sie der Mutter den Schlüssel gegeben hat, hat es nicht mehr viel Kontakt gegeben, und sie ist niemand, der sich aufdrängt.
Sie beißt in ihr Butterbrot, kaut mechanisch und denkt wie so oft, dass sie es eigentlich nicht mag, dieses abgepackte Brot, aber es hält sich besser, und so wie früher schmeckt es sowieso nirgends mehr. Bevor das alles passiert ist hier, vor dem Krieg oder besser: vor seinem Ende, gab es in Demmin noch richtige Bäcker, einen für Kuchen, einen für Brot. Ihre Mutter holte dort immer einen großen Laib, der reichte die ganze Woche. Sind alle abgebrannt damals, die Läden in der Altstadt, und heute hat ja kaum einer mehr eine Chance, es gibt zu viele Supermärkte für so eine kleine Stadt.
Das laute Zuschlagen der Haustür drüben reißt sie aus ihren Gedanken. Sie reckt den Hals ein wenig, sodass sie aus dem Küchenfenster sehen kann, ohne aufstehen zu müssen. Es ist die Freundin des Mädchens. Sie zieht ihre Mütze über das lange feine Haar und geht mit hochgezogenen Schultern die Straße runter, friert sicher. Viel zu dünn sind die Mädchen immer angezogen. Sie sieht ihr noch eine Weile nach, bis sie um die Ecke verschwunden ist. Der Apfelbaum im Vorgarten biegt sich im Wind, die alten Äste knarren. Für heute Nacht gibt es eine Sturmwarnung, haben sie vorhin im Radio gesagt.