Sein langer Hals liegt schlaff auf dem Eis, halb von Schnee bedeckt, nur sein Schnabel leuchtet orange, nicht zu übersehen. Ich merke, wie sich mein Magen zusammenzieht, weil ich es ziemlich ungerecht finde, dass dieser Schwan da sterben musste. Das hat er ja nicht gewollt, das war ein Versehen, und vielleicht hatte er noch einiges vor im Leben, weiß man ja nicht. Jetzt liegt er da so rum und wird wahrscheinlich erst im Frühling verwesen, wenn es wärmer wird. Was passiert eigentlich mit Schwänen, die ganz normal an Altersschwäche sterben? Warum sieht man nie irgendwo alte, tote Tiere rumliegen, immer nur welche, die vom Auto platt gefahren wurden?
Ich stehe noch einen Moment so da, die Hände in den Taschen, die Augen geschlossen und halte eine Schweigeminute für den Schwan, weil das ja sonst wohl kaum einer für ihn machen wird. Dann fällt mir wieder ein, warum ich eigentlich hier bin: mein Fahrrad.
Ich finde es an einen Laternenpfahl angeschlossen. Das muss Timo gewesen sein, er muss es gemacht haben, bevor wir gemeinsam mit der Frau weggefahren sind, auch wenn ich mich nicht mehr daran erinnern kann. Der Vorderreifen ist platt und die Gabel ein bisschen verbogen, aber das ist beides kein Ding, das kann ich reparieren, wenn ich es hier erst mal wegbekommen habe. Ich rüttle ein bisschen am Schloss, was natürlich sinnlos ist. Es ist ein gutes Schloss, keins von denen, die man in drei Sekunden mit dem Bolzenschneider öffnen könnte. Kurz stelle ich mir vor, wie ich eine Kettensäge anlasse, sie hochreiße, furchteinflößend lache und den ganzen Laternenpfahl umniete. Ich überlege, ob ich jemanden kenne, bei dem ich mir eine Kettensäge leihen könnte. Leider fällt mir keiner ein. Es lässt sich also nicht vermeiden: Ich muss zu Netto.
Mir ist kalt, obwohl ausnahmsweise mal die Sonne scheint, aber ich hab meinen Schal vergessen, also ziehe ich den Reißverschluss meiner Jacke unters Kinn und vergrabe meine Hände in den Taschen. Ein alter Mann, der zu seiner Daunenjacke Badeschlappen und Socken trägt, kommt mir entgegen, sein dicklicher Mischling mit kurzen Beinen trottet hinter ihm her. Der Hund hockt sich auf die Gehwegplatten und macht sein Geschäft. Als ich vorbeigehe, nickt der Mann mir zu, ich nicke zurück. Nach ein paar Schritten drehe ich mich nochmal um, sehe, wie er einen kleinen Plastikbeutel über den Haufen stülpt und ihn aufhebt. Auf dem Beton bleiben braune Reste zurück. Ich will den Weg durch den Marienhain nehmen, aber ich seh schon von weitem, dass auf den Bänken vorm Pavillon ein paar Typen rumhängen, an denen ich lieber nicht direkt vorbeiwill. Sie haben ihre Boombox voll aufgedreht, die Musik scheint hauptsächlich aus Grölen zu bestehen. Man versteht kaum etwas von den Texten, nur ein paar Worte zwischendurch, Ruinen, Sturm, Ehre, so was. Ich gehe außen rum. Es ist nicht so, dass ich Angst hätte, aber es lohnt sich halt auch nicht, mit denen aneinanderzugeraten. Als Kriegsreporterin sucht man ja auch nicht die Konfrontation, sondern berichtet über das, was ist. Einer von ihnen ruft etwas in meine Richtung, dann höre ich, wie eine Bierflasche auf dem Boden zerbricht, und gehe etwas schneller. Ich drehe mich nicht um, als ich sie hinter mir lachen höre.
Bei Netto herrscht übersichtlicher Nachmittagsbetrieb, und ich brauche nicht lange, um Timo zu finden. »Hast du mein Fahrrad angeschlossen?«, frage ich direkt und spare mir die Begrüßungsfloskeln. Timo hängt mit dem Oberkörper über einer der Tiefkühltruhen und tut mal wieder so, als könnte er mich nicht hören. Oder er hört mich wirklich nicht, kann natürlich auch sein. Irgendwer hat mal erzählt, dass ihm bei einer Prügelei das Trommelfell gerissen ist, keine Ahnung, wie das gehen soll. Aber vielleicht ist er seitdem auf einem Ohr taub oder so. Zur Sicherheit tippe ich ihm auf den Rücken. Er zuckt zusammen und taucht auf, eine Packung Fischstäbchen in der Hand. »Mein Fahrrad, hast du das angeschlossen?« Er schiebt die linke Seite der Kühltruhe zu und öffnet die rechte. Die Fischstäbchen lässt er draußen liegen.
»Ja, hab ich. Gern geschehen.«
»Und würdest du es vielleicht auch wieder aufschließen?«
Timo verschränkt die Arme und lehnt sich gegen die Tiefkühltruhe. Findet sich dabei wahrscheinlich ziemlich lässig. »Was krieg ich dafür?«
Keine Schelle kriegst du dafür. Was ist los mit dem? Vielleicht sollte ich doch die Idee mit der Kettensäge weiterverfolgen. Aber erst mal verschränke ich auch die Arme und schaue ihn einfach an. Wenn er was will, soll er es sagen.
»Hab um 17 Uhr Schluss.«
Also, geht doch.