und starrt mit aufgestellten Ohren die automatische Schiebetür an. Immer wenn sie sich öffnet, kläfft er kurz. Wahrscheinlich verflucht er sein Herrchen, das ihn hier einfach in der Kälte abgestellt hat. Gleich ist es zehn nach fünf, und Timo hat sich immer noch nicht blicken lassen. Es nieselt, und ich könnte mir ungefähr tausend Sachen vorstellen, die ich lieber machen würde, als hier rumzustehen. Vielleicht hat er mir eine falsche Uhrzeit gesagt. Oder er hat’s vergessen. Oder er muss Überstunden machen, weil eine überraschende Kekslieferung kam.
Mein Handy vibriert kurz in meiner Jackentasche, und ich weiß schon, von wem die Nachricht ist, bevor ich sie öffne. »Nächsten Mittwoch, 14 Uhr? Kuss, Papa«. Mein Vater ist der einzige Mensch auf der Welt, der noch SMS schreibt.
Der Hund tippelt jetzt aufgeregt hin und her, wedelt mit dem Schwanz und fiept dabei. Ein Mann in Trainingsanzug kommt von den Kassen auf die Glastür zu, er hat eine Packung Wiener unterm Arm und eine Flasche Weißwein in der Hand. »Na, fein! Ja, fein hast du das gemacht!«, sagt er, geht in die Knie und gibt dem braven Jungen eine halbe Wurst.
»Von mir aus können wir los.«
Ich drehe mich um. Timo sitzt auf seinem Fahrrad, die Hände in den Taschen, als ob er es wäre, der hier die ganze Zeit gewartet hat. Mir wird klar, dass es einen Seitenausgang für die Mitarbeiter geben muss, und ich komme mir dumm vor. Wenn ich da früher dran gedacht hätte, dann hätte er sich jetzt nicht so aus dem Hinterhalt anschleichen können. Ich nicke, dann laufe ich einfach los, an ihm vorbei. Ich will vorneweg gehen, merke aber, dass er sich nicht in Bewegung setzt.
»Kommst du?«
»Willst du nicht mit drauf?«
Timos Fahrrad sieht aus wie aus dem letzten Jahrhundert. Die Lampe ist riesig, der braune Ledersattel auch, und ansonsten ist da nicht viel dran an dem Ding. Vor allem fehlt eins: der Gepäckträger. Timo rutscht auf seinem Sattel ein Stück nach hinten und macht eine einladende Geste, fast eine Verbeugung, die auf die Stange vor ihm weist. Erster Gedanke: Auf gar keinen Fall lass ich mich von dem hier auf seinem klapprigen Gefährt durch die Gegend gurken. Zweiter Gedanke: Bis zum Schwanenteich läuft man mindestens eine Viertelstunde, und dafür reicht unser Gesprächsstoff nicht. Also steige ich auf.
Der Fahrtwind weht mir kalt ins Gesicht. Timo tritt extrastark in die Pedale. Wahrscheinlich will er zeigen, dass ihm das Zusatzgewicht nichts ausmacht. Soll er mal. Man sitzt gar nicht so schlecht hier. Ich hab die Füße auf der unteren Stange abgestellt und halte mich am Lenker fest. Timos Hände sind links und rechts von meinen, bisschen als würde er mich umarmen, aber ich achte natürlich darauf, dass wir uns nicht mehr als nötig berühren. Ist ja kein Candle-Light-Dinner hier. Ich hab beschlossen, die Sache ganz professionell anzugehen. Als Kriegsreporterin kann man sich auch nicht immer aussuchen, auf wen man angewiesen ist. Da muss man manchmal auf sein Bauchgefühl hören und sich zur Not von Leuten helfen lassen, die erst mal nicht so vertrauenerweckend sind. Bauchgefühl ist superwichtig in dem Job, das sagen alle, und auf meiner Liste hab ich’s extra gefettet. Ich schließe die Augen. Ich muss nichts sehen, um zu wissen, wo wir lang fahren. Über den Bahnübergang, vorbei am Kino, am Goldenen Drachen, am Gardinenstudio und am Dönerladen. Zwischen Bäcker und Reisebüro biegen wir ab in die Totengräbergasse. Ohne zwischendurch anzuhalten, brettert Timo über die Straße, ich höre, wie kurz hinter uns ein Auto vorbeifährt, aber ich lasse die Augen weiter geschlossen, spüre, wie wir den Kantstein hochruckeln, langsamer werden und schließlich den neuen Fahrradweg runter zum Schwanenteich fahren. Timo hält an, nimmt die Hände vom Lenker, lehnt sich zurück. Ich öffne die Augen und springe ab. Wir stehen ziemlich genau an der Stelle, an der er mich vor einer Woche rausgezogen hat. Das Loch ist nicht wieder zugefroren. Es hat angefangen zu tauen, seit heute sind es wieder ein paar Grad über 0. Vielleicht geht der tote Schwan auch einfach unter, begräbt sich quasi selbst oder wird von Fischen gefressen. Es ist still, nur die Bäume rauschen leise.
»Wie hat es sich eigentlich angefühlt?«, fragt Timo plötzlich, starrt aufs Eis, grinst nicht. »Ich meine, als du unter Wasser warst. Hast du da irgendwas gesehen?«
Ich muss an den Schatten denken, der sich unter dem Eis entlanggeschoben hat, kurz bevor ich eingebrochen bin. Aber ich weiß nicht, ob es das ist, was Timo meint, und ich will mich hier auch nicht lächerlich machen. Also zucke ich nur mit den Schultern.
»Schon gut, vergiss es«, sagt er und schiebt sein Fahrrad Richtung Schnellstraße hoch. Ich beeile mich, hinterherzukommen.
»Warum willst du das wissen?«
Timo schaut stur geradeaus und schiebt weiter. »Interessiert mich halt.« Er macht eine kurze Pause. Es sieht aus, als würde er mit sich ringen, aber dann spricht er weiter, immer noch ohne mich anzuschauen. »Ich frag mich das einfach. Wie das ist, also, so zu sterben. Zu ertrinken. Du weißt schon … Wie die ganzen Leute damals.«
Ich brauche einen Moment, bis ich verstehe, was er meint.
»Egal, vergiss es einfach. Wirklich. Da ist dein Fahrrad.«
Er legt sein eigenes Rad ins matschige Gras neben den Laternenpfahl und fängt an, in seinem Rucksack zu kramen.
»Kannst es ja selbst mal ausprobieren«, sage ich und bin mir, noch während ich spreche, nicht ganz sicher, wie ernst ich das meine.
Timo lacht. »Ja klar.« Er hat den Schlüssel gefunden und beugt sich runter, um mein Fahrrad aufzuschließen. »Bitte sehr.« Die Dame spart er sich zum Glück.
»Ich mein ja nicht, dass du wirklich ertrinken sollst. Aber halt fast. Sodass es sich wie ertrinken anfühlt.«
Timo zieht die Augenbrauen zusammen. Merkwürdige Augenbrauen sind das, fällt mir jetzt auf, ganz hell, aber trotzdem dicht.
»Und wie soll das gehen?«
Diesmal bin ich es, die grinst.
»Schon mal was von Waterboarding gehört?«
*
vierzig schon in Rente gehen. Seitdem ist er zu Hause und macht weiß Gott was mit seiner Zeit, wahrscheinlich vor allem fernsehen. Wenn er bei ihr ist, sieht er oft müde aus, die Haut um seine Augen ist fast durchsichtig. Er raucht zu viel, hat sogar seinen Sohn angesteckt damit. Als sie den Jungen das erste Mal mit Zigarette gesehen hat, gerade mal vierzehn war er da, hätte sie ihm am liebsten einen Eimer Wasser über den Kopf geschüttet. Aber sie mischt sich nicht ein.
will Steffan am Telefon wissen, im Hintergrund kann sie seinen Fernseher hören. Sie sieht sich um. Überall stehen mittlerweile Kartons, halb offen oder schon zugeklebt, das Haus sieht zerpflückt aus. Es macht sie ganz unruhig, dieses Durcheinander, sie merkt es an ihrem Puls, immer öfter muss sie sich zwischendurch hinsetzen, und die Angst davor, die Knie würden wieder einknicken, ist bei allem, was sie tut, dabei. Sie ist nur langsam vorangekommen die letzten Tage. »Gut, gut«, sagt sie und dass er sich keine Sorgen zu machen braucht. Dabei ist sie sich gar nicht sicher, ob er sich überhaupt Sorgen um sie macht. Manchmal hat sie das Gefühl, sie sei vor allem eine Pflicht für ihn, und mit Pflichten konnte er noch nie besonders gut umgehen. Schon immer hat er sich schnell überfordert gefühlt, deswegen ist ihm auch die Frau weggelaufen, deswegen musste er mit Anfang»Ich hab jemanden, der dein Geschirr kaufen will«, sagt Steffan. »Passt es dir, wenn der morgen vorbeikommt?« Sie sieht zu der Kiste, die neben dem Kühlschrank auf dem Boden steht, in der das in Zeitungspapier verpackte Service liegt, alle Tassen, alle Untertassen, die Kaffeekanne, die zwei Servierplatten, die Sauciere, nicht aber alle Teller. Sie will es Steffan sagen, aber sie bekommt es nicht heraus, ihr Mund ist ganz trocken. »Bist du noch dran?«, fragt er. Abwechselnd sind das Knistern einer Verpackung und sein Kauen zu hören. »Ja, ja«, sagt sie schließlich, »muss ja.«