Ich muss dringend auf Klo, aber jemand duscht, und dieser Jemand ist nicht meine Mutter. Die steht in der Küche und rührt zufrieden summend in einem Topf. Es riecht angebrannt. Ich klopfe gegen die Badezimmertür. »Dauert das noch lange?« Statt einer Antwort höre ich ein lautes, ausgedehntes Schnauben, fast ein Tröten. Der Typ rotzt in unsere Dusche. In meinem Kopf sehe ich den gelben Glibber am Haarsieb hängen bleiben.
»Essen ist in zwei Minuten fertig!«, ruft meine Mutter aus der Küche.
Ich klopfe nochmal, diesmal mit der Faust. Keine Reaktion. Ich muss an Sarinas Geheimklo denken, und es fehlt nicht viel, dass ich nach draußen gehe und bei uns in den Garten pisse. Ist schließlich eine Fähigkeit, die man nicht verlernen sollte, überall pinkeln zu können. Sonst hat man in Kriegsgebieten gar keine Chance, wenn man keinen Pimmel hat. Das Wasser wird abgestellt, die Ringe des Duschvorhangs surren über die Metallstange. Ich klopfe nochmal, nur zur Sicherheit. Endlich dreht sich der Schlüssel im Schloss. »Bad ist frei«, sagt Benno fröhlich und drängt sich nur mit dem kurzen Bademantel meiner Mutter bekleidet an mir vorbei. Ich halte mir den Handrücken vor die Augen, als würde ich von einem grellen Licht geblendet werden, aber er sieht es gar nicht mehr, ist schon im Schlafzimmer verschwunden. Die Luftfeuchtigkeit im Bad ist tropisch. Ich reiße das Fenster auf. Auf dem Badewannenrand steht eine neue Shampooflasche. Natürliche Pflege mit Kamille-Extrakt für empfindliche Kopfhaut. Born to be wild.
Meine Mutter und Benno sitzen am Esstisch, als würde hier gleich ein Knorr-TV-Spot gedreht werden. Ich setze mich dazu. Wäre das hier wirklich ein Set, würde jetzt jemand »Cut!« schreien und fragen, wer das schlecht gelaunte Mädchen gecastet hat. Aus dem Topf dampft es. Ich beuge mich darüber, identifiziere Nudeln, beim Rest bin ich mir nicht ganz sicher.
»Was ist das?«
Meine Mutter nimmt meinen Teller und lädt mir eine große Kelle auf, erst dann antwortet sie. »Käsenudeln. Mit Champignons und Zucchini.«
Ich inspiziere die klebrige Masse mit meiner Gabel. »Hast du dir das selbst ausgedacht?«
Benno hält meiner Mutter seinen Teller hin wie ein artiger Junge. »Sieht super aus!«
So ein Kriecher. Leider scheint meine Mutter das Geschleime nicht zu stören. Sie lächelt und wird sogar ein bisschen rot.
»Nichts Großartiges«, sagt sie, als sie ihm auffüllt, und wahrscheinlich kapiert er gar nicht, dass das keine Bescheidenheit ist, sondern eine Warnung.
Seit ein paar Tagen ist Benno durchgehend hier. Der richtige Umzug ist erst in einer Woche, aber im Zimmer meiner Mutter hab ich schon zwei Reisetaschen gesehen, und im Schuhregal stehen mittlerweile drei Paar Männerschuhe. Ich geh mal davon aus, dass das seine sind, auch wenn ich es nicht schlecht fänd, hätte meine Mutter einfach noch zwei andere Lover. Würde gerne sehen, wie Benno darauf reagiert. Wir essen schweigend, es schmeckt okay, bisschen zu salzig. Benno macht ab und zu »Mhm«. Er isst schnell, lädt die Gabel schon wieder voll, bevor er geschluckt hat, ein fließender Vorgang. Meine Mutter stochert, macht sie oft. Besonders wenn sie selbst gekocht hat, durchpflügt sie das Essen, als wär sie auf der Suche nach etwas, woran man sich einen Zahn ausbeißen könnte.
»Papa hat geschrieben«, sage ich schließlich. Meine Mutter schaut nicht von ihrem Teller hoch, teilt ein winziges Stück Zucchini mit der Gabel, spießt eine Hälfte auf, steckt sie sich in den Mund und tut so, als würde sie diesen mikroskopisch kleinen Gemüsepartikel kauen müssen. »Er ist übermorgen in der Nähe.«
Sie nickt, sieht mich jetzt an. Ich kenne diesen Gesichtsausdruck, bemühte Neutralität. »Trefft ihr euch?«
»Klar«, sage ich und weiß, dass ich sie damit enttäusche. Sie hat es nie so gesagt, aber ich glaube, sie fänd es besser, wenn ich genauso wütend auf ihn wäre wie sie.
Benno räuspert sich, nimmt einen großen Schluck Apfelschorle, unterdrückt ein Aufstoßen. »Wir wollen am Wochenende die Garage ausräumen«, sagt er.
Ich schaue zu meiner Mutter, aber sie starrt jetzt wieder feige auf ihren Teller. »Wie, ausräumen?«, frage ich, nicht Benno, sondern sie. Seit ich mich erinnern kann, betritt sie die Garage nur, um den Rasenmäher rauszuholen, ansonsten tut sie so, als würden die Kisten, die sich an der hinteren Wand stapeln, nicht existieren.
Meine Mutter schweigt, Benno antwortet. »Ich brauch ein bisschen Platz für mein Lager und für meine Maschine. Und deine Mutter hat gemeint, dass ihr sowieso mal ausmisten müsstet.« Jetzt hebt sie den Blick, etwas Bittendes liegt darin. Benno redet einfach weiter, ohne zu merken, dass sich niemand für ihn interessiert. »Vielleicht können wir auch alle zusammen auf den Flohmarkt im Frühling. Mit dem alten Kram noch ein bisschen Geld machen. Wär sicher lustig!« Sie hat es ihm also noch nicht erzählt. Was in den Kisten ist. Dass es kein Kram ist. Dass sie das nicht einfach so verkaufen kann und dass nichts, wirklich nichts daran lustig wäre. Ich überlege noch, ob ich einfach aufstehen und gehen sollte, vielleicht dabei noch den Stuhl umschmeißen, da kommt meine Mutter mir zuvor.
»Noch jemand Salz?«, fragt sie, steht auf und verschwindet in ihrem Zimmer.
Benno und ich haben schweigend aufgegessen, dann haben wir schweigend den Tisch abgeräumt, und erst dann hat Benno sich getraut, nach meiner Mutter zu schauen. Ich bin in mein Zimmer und hab mir meine Lieblingsdoku angemacht, die über Anja Niedringhaus. An manchen Stellen kann ich sogar mitsprechen, so oft hab ich sie schon gesehen »’türlich glaub ich, es ist ganz wichtig, sich die Angst zu erhalten, ich bin ja nicht Dschango. Das muss alles sehr gut geplant sein. Aber manche Dinge kann man auch nicht planen, und dann muss man sich eben manchmal auf sein Gefühl verlassen.« Sie wurde in Afghanistan erschossen. In der Doku sieht man ihre Schwester, bei deren Familie sie gewohnt hat, wenn sie nicht als Kriegsreporterin unterwegs war. Die beiden hatten ein sehr enges Verhältnis, das sagt die Schwester, aber man merkt es auch, man merkt richtig, dass sie immer noch ganz traurig ist und ihre Schwester vermisst.
Manchmal stelle ich mir vor, wie es sein wird, wenn ich bei einem meiner Einsätze als Reporterin umgekommen bin. Wie bei meiner Mutter das Telefon klingelt. Wie sie gerade fernsieht und erst mal nicht abhebt, weil es nach 20 Uhr ist und sie findet, dass man nach 20 Uhr nicht mehr erreichbar zu sein braucht. Wie sie sich dann schließlich doch aufrafft, weil das Telefon nicht aufhört zu klingeln, und dann extragenervt rangeht. Und dann sagt jemand zu ihr: »Frau Schramm, es tut mir sehr leid. Ich habe eine traurige Nachricht für Sie.« Dass ich dann auch bei den drei Kiefern begraben werden will, hab ich extra in mein Testament geschrieben.