Ich weiß nicht, ob wir überhaupt schon mal Bier im Haus hatten. Wenn meine Mutter was trinkt, dann so was wie Erdbeersekt oder Schokolikör, Hauptsache süß. Aber besonders oft kommt das nicht vor. Alleine trinken findet sie asozial, genau wie unter der Woche trinken, und außerdem hat sie natürlich Angst, ein schlechtes Vorbild für mich zu sein. Dabei hab ich sowieso längst beschlossen, dass ich das Zeug nie anrühre. Ist besser so, gibt genug Kriegsreporter, die damit irgendwann Probleme kriegen.
»Da steht Bier im Flur«, sage ich zu meiner Mutter, die in der Küche gerade eine Netto-Tüte auspackt. Würstchen im Glas, Frikadellen, Kartoffelsalat, Senf.
»Für den Umzug!«, sagt sie und strahlt mich an, als hätten wir beide seit Jahren auf diesen Tag hingefiebert.
»Ah«, sage ich.
»Bennos Kumpel helfen uns. Ich kenn die meisten noch gar nicht, aber ist doch toll, oder? Dass die alle mit anpacken?«
»Ganz toll«, sage ich und öffne den Kühlschrank. Er ist so gut wie leer.
»Was essen wir denn heute?« Ich trete einen Schritt zur Seite, damit meine Mutter das Elend sehen kann.
»Oh«, sagt sie, ehrlich betroffen, dann fängt sie an zu lachen und schüttelt dabei den Kopf. »Ich Trottel! Jetzt hab ich die ganze Zeit nur an den Umzug gedacht und nichts für uns besorgt. Magst du vielleicht noch mal los? Wir könnten es uns doch nett machen heute Abend, nur wir beide, ja? Ist doch quasi unser Junggesellinnenabschied!«
Kurz stelle ich mir vor, wie wir mit Krönchen im Haar auf dem Sofa sitzen und einem öligen Stripper 5-Euro-Scheine in den String stecken. Aber meine Mutter denkt wohl eher an Fernsehen, Tiefkühl-Lasagne und Tiramisu zum Nachtisch. Sie legt den Kopf schräg und lächelt mir aufmunternd zu. Ich hasse es, wenn sie das macht.
Als ich die Haustür hinter mir zuziehe, sehe ich rüber zu Frau Dohlberg. Sie sitzt wieder über ihren Tisch gebeugt unter der grellen Küchenlampe. Ich frag mich, ob sie sich manchmal einsam fühlt oder ob sie froh ist, dass sie ihre Ruhe hat. Vor ein paar Wochen hab ich sie getroffen, sie hat zwei volle Einkaufsbeutel getragen, die ziemlich schwer aussahen. Ganz langsam ist sie gegangen, ist immer wieder stehen geblieben zwischendurch und hat Pausen gemacht. Ich wollte sie erst fragen, ob sie Hilfe braucht, und ihr sagen, dass ich ihr auch mal was mitbringen kann vom Einkaufen, aber dann hat sie mir nur ganz kurz zugenickt und schnell wieder weggeschaut, da hab ich es dann doch gelassen.
Für einen Freitagabend ist ziemlich wenig los bei Netto. Die Aushilfe an der Kasse starrt mit leeren Augen vor sich hin und zählt wahrscheinlich innerlich die Sekunden bis zum Feierabend. Ich starte meine Stoppuhr und wette mit mir selbst, dass ich in zweieinhalb Minuten wieder hier raus bin. Bis zur Lasagne läuft alles bestens, die würd ich blind finden, aber dann sehe ich Frau Nienhoff am Kühlregal stehen. Ich will schon so tun, als ob ich sie nicht bemerkt hätte, weil es zu viel Zeit kosten würde, jetzt mit ihr zu plaudern, da spricht sie mich an.
»Na, dich schickt aber der Himmel!«
Ich versuche, nicht zu freundlich zu lächeln, will sie schließlich nicht ermutigen. Wette ist Wette.
»Könntest du so lieb sein und mir den Landliebe da runtergeben? Die stellen den hier immer so hoch, als wollten sie unter allen Umständen vermeiden, dass ihn jemand kauft.« Sie lacht, aber mir fällt auf, dass sie dabei traurig aussieht.
»Klar«, sage ich, stelle mich auf Zehenspitzen und hole ihr das Joghurtglas aus dem obersten Regal. »Bitte sehr und schönen Abend noch, Frau Nienhoff, ich hab es leider eilig.« Während ich mich von ihr verabschiede, schnappe ich mir mein Tiramisu und drehe in Richtung Kasse ab. 1:24, noch liege ich gut in der Zeit. Dann höre ich es klirren. Ich muss mich nicht umdrehen, um zu wissen, was das war. Glasscherben in Joghurt.
28:38. Ich konnte sie ja nicht einfach so stehenlassen. Abends passiert es ihr öfter, hat sie gesagt, da ist die Hand schon müde und im Moment sei sie auch etwas durch den Wind. Sie hätte besser aufpassen müssen und vielleicht lieber den Joghurt im Plastikbecher kaufen, hat sie gemeint, sich tausendmal entschuldigt und war dabei ganz zittrig. Ich hab gesagt, dass alles in Ordnung ist, dass mir das auch schon superoft passiert wär, und dann hab ich ihr den Korb abgenommen und ihre Einkaufsliste, und wir haben den Rest halt zusammen gemacht, keine große Sache. Aber meine Wette hab ich natürlich verloren.
Ich sehe schon von weitem, dass bei uns kein Licht brennt. Vielleicht ist sie im Bad, sage ich mir, oder sie hat sich kurz hingelegt, aber eigentlich weiß ich längst, was los ist, nicht erst, als ich den Schlüssel zweimal im Schloss drehen muss, und nicht erst, als keiner auf mein »Bin wieder da!« antwortet. Der Zettel liegt auf dem Küchentisch.
Benno braucht noch Kartons, bin noch mal los. Warte nicht auf mich und bitte sei nicht böse, wir holen das nach! Versprochen!!!
Das letzte Wort hat sie dreimal fett unterstrichen. Ich werfe den Zettel in den Müll, wo er hingehört.
*
vor dem Küchenfenster zurecht. Eigentlich müsste sie mal wieder gewaschen werden, aber das ist jetzt wohl nicht mehr nötig. In ein paar Tagen wird auch sie zusammengefaltet in einem Karton liegen. Das junge Paar hat die Küche nicht gewollt. »Nicht unser Stil«, hat die Frau gesagt, nachdem sie sich gerade einmal zwei Minuten umgesehen haben.
Sie lehnt für einen Moment die Stirn gegen die kühle Fensterscheibe, hofft, dass dadurch ihre Kopfschmerzen ein wenig gelindert werden. Drüben brennt schon wieder im ganzen Haus Licht, und im Wohnzimmer flackert der Fernseher. Vorhin hat sie die Mutter wegfahren sehen, Nachtschicht wird sie aber nicht haben, sie trug keine Schwesternkleidung.
Auf dem Tisch liegt die Zeitung von heute, die Traueranzeigen sind noch aufgeschlagen. Helga Nienhoff ist am Montag verstorben, sie saß bis zur vierten Klasse in der Reihe hinter ihr.
In tiefer Trauer
deine Kinder Monika, Jens und Birgit mit Familien
und deine Schwester Ingrid
Sie hat Helga seit Jahren nicht gesehen, sie soll im Pflegeheim gelegen haben. Aber der kleinen Inge läuft sie immer mal wieder über den Weg oder sieht sie auf ihrem Balkon sitzen, sogar im Winter. Die beiden haben es damals auch versucht, oder nein: ihre Mutter hat es versucht. Hat ihren Töchtern mit der Rasierklinge in die Handgelenke geschnitten, als die Russen kamen, da war die kleine Inge gerade mal acht. Wie die meisten hat sie es falsch gemacht, hat quer geschnitten statt längs, und so sind sie nicht verblutet. Aber bei Inge wurden die Sehnen verletzt, bis heute hat sie Probleme mit ihrer Hand.
Sie schlägt die Zeitung zu, fühlt sich rastlos und beginnt, von Raum zu Raum zu gehen, in leere Schränke zu schauen, Kisten wieder zu öffnen, die sie längst mit Klebeband verschlossen hatte. Es kommt ihr vor, als hätte sie etwas Wichtiges vergessen. Heute Nachmittag hat sie die Bilder von den Wänden genommen. »Selbstverständlich dürfen Sie Fotos Ihrer Lieben mitbringen!«, hatte die Heimleiterin bei der Besichtigung gesagt. »Aber bitte nur Rahmen zum Aufstellen.« Sie hat nicht überprüft, welche ihrer Bilderrahmen auch einen Pappständer haben, sie hat sie einfach in den Karton gelegt, ohne die Fotos herauszunehmen und ohne sie in Zeitungspapier zu wickeln. Niemand von denen ist hier, um ihr zu helfen. Keiner bis auf Steffan, der sich vermutlich auch bloß dazu verpflichtet fühlt, seiner alten Großtante zu helfen, weil er und sein Junge die Einzigen sind, die noch in Demmin wohnen. Vielleicht hätte sie selbst Kinder bekommen müssen, aber es hat sich nicht ergeben, und Liese hat ihr immer das Gefühl gegeben, eine Familie zu haben. Erst seit sie und Werner tot sind, denkt sie manchmal, dass man sie vergessen hat.
Sie nimmt die Rahmen noch einmal heraus, einen nach dem anderen, schaut in die lächelnden Gesichter. In jedem von ihnen steckt ein bisschen was von Liese, mal die Augen, mal die Nase oder die Kieferpartie. Ganz unten findet sie das Foto von Lotte auf Mutters Schoß, streicht mit dem Handrücken über das Glas. Vier Zähne hatte Lotte, zwei oben, zwei unten. Dabei ist es geblieben. Sie lässt alles liegen, die wieder ausgeräumten Rahmen, das Geschirr in der Küche, löscht bloß das Licht. Das Bild nimmt sie mit nach oben, stellt es auf ihren Nachtschrank. Dann zieht sie die obere Schublade auf, nimmt das Nadelkissen heraus und legt es neben ihre Mutter und Lotte.