als ich in unsere Straße einbiege. Vor unserem Haus steht ein schmutzig weißer Lieferwagen ohne Aufschrift. Ein Typ im Blaumann kommt aus der Garage und trägt eine Kiste raus. Mein Herz fängt an, schneller zu pochen, ich denke, Einbrecher, ich denke, Polizei, ich denke, der darf mich nicht sehen, sonst gerät er in Panik und macht was Dummes. Dann sehe ich meine Mutter und Benno, auch sie tragen eine Kiste aus der Garage, gemeinsam, obwohl sie nicht besonders schwer aussieht. Sie stellen sie zusammen auf die Ladefläche, küssen sich und gehen Arm in Arm zurück.
»Was geht denn hier ab?«, frage ich, als ich in die Garage komme. Meine Mutter richtet sich auf, sie hat sich gerade nach einer neuen Kiste gebückt.
»Larissa, hast du mich erschreckt!«, sagt sie und lacht unsicher. Benno winkt mir fröhlich zu, greift sich mit jeder Hand eine Plastiktüte voll Kleidung und verschwindet aus der Garage. Sie ist schon fast leer.
»Wir misten aus«, sagt meine Mutter.
»Was ist das für ein Typ da draußen?«
»Das ist Jarek, der holt die Sachen ab. Benno kennt ihn vom Fußball und hat ihn gestern zufällig getroffen. Wusstest du, dass Frau Dohlberg auszieht?«
»Wie, der holt die Sachen ab? Was macht er denn damit?«
»Keine Ahnung, Larissa, der holt sie halt ab. Er hat eine Entrümpelungsfirma. Vermutlich wird er einen Teil verkaufen und den Rest wegschmeißen. Jedenfalls kümmert er sich darum, und wir haben keinen Stress mehr damit.«
Benno kommt wieder rein, kramt in der hintersten Ecke rum, in der noch ein Stapel Kisten steht. »Guck mal, Larry, hier ist sogar noch dein altes Dreirad!«, ruft er. »Das könnten wir aber wirklich selbst verkaufen, das ist doch noch top in Schuss.«
»Das kommt weg«, sagt meine Mutter scharf.
»Du bist die Chefin«, sagt Benno und trägt das Dreirad nach draußen. Ich kann mich an dieses Dreirad nicht erinnern.
»Stress nennst du das also, ja?«
»Was willst du denn von mir, Larissa?« Sie klingt genervt, verzweifelt, als hätten wir die Sache hier schon tausendmal besprochen. Es bringt nichts, das wird mir in diesem Moment klar. »Nichts will ich von dir«, sage ich und packe all meine Wut hinein. »Absolut gar nichts.«
*
Im Hellen natürlich auch nicht, aber da sind wenigstens noch ein paar Leute unterwegs, und die Geschäfte haben auf, und es fahren Autos. Früher hat es hier richtig viele Kneipen gegeben, das erzählen die Leute zumindest ständig, keine Ahnung, warum die alle weg sind, wahrscheinlich, weil nach der Wende keiner mehr Geld zum Saufen hatte. Vor dem Dönerladen bleibe ich stehen. Ich krame in meinen Hosentaschen, finde in der linken nur zwanzig Cent, aber in der rechten steckt zum Glück der letzte Zehner von Frau Ratzlow. Normalerweise hol ich mir kein Essen draußen, muss mein Geld schließlich zusammenhalten, aber ich hab jetzt keine Lust zu hungern, und außerdem muss ich mich kurz aufwärmen. Also geh ich rein und sehe gleich, dass am hinteren Tisch zwei Mädchen aus meiner Schule sitzen. Am liebsten würde ich direkt wieder umdrehen und zum anderen Dönerladen gehen. Das liegt gar nicht unbedingt an den beiden, ich weiß nicht mal genau, wie die heißen, aber ich hab einfach keine Lust, dabei gesehen zu werden wie ich alleine hier abhänge. »Einmal Döner mit allem außer Zwiebeln, Cocktailsoße und ein bisschen scharf — zum Mitnehmen bitte.«
Ich esse im Gehen, obwohl das scheiße ist. Man muss bei Döner eh schon die ganze Zeit aufpassen, dass nicht die Hälfte rausfällt und man sich völlig einsaut, und wenn man dabei in Bewegung ist, ist das noch schwieriger, manchmal muss man sich richtig bescheuert verbiegen. Ich esse schnell, weil meine Hände eiskalt sind, und als ich am Schwanenteich ankomme, bin ich schon fertig. Ich schmeiße das schmierige Dönerpapier und die Serviette in den Müll, dann sehe ich ihn.
»Hast du kein Zuhause?«, frage ich Timo und stelle mich einfach neben ihn, als wären wir zwei alte Anglerkumpel, die sich hier jeden Tag treffen.
»Könnt ich dich auch fragen«, sagt Timo, zieht an seiner Zigarette und pustet den Rauch in die Luft. »Auch eine?«
Ich schüttle den Kopf. Hab kein Talent zum Rauchen. Ein paar Mal hab ich es versucht, mit Sarina zusammen, wir haben richtig daran gearbeitet, süchtig zu werden, aber es hat nicht geklappt. Trotzdem mag ich den Geruch, mag es, wenn Menschen nach Rauch riechen, keine Ahnung, warum, mir ist schon klar, dass die meisten das eher eklig finden. Das Eis ist mittlerweile komplett geschmolzen. Ich schaue rüber zu der kleinen Insel, aber da ist nichts mehr.
»Der Schwan ist weg«, sage ich.
Timo nickt, pustet wieder Rauch aus, der neben meinen Atemwolken verpufft. »Hat er auch nicht anders verdient«, sagt er.
»Wie meinst du das?«
Timo nimmt noch einen langen Zug von seiner Zigarette, eine Sekunde, zwei Sekunden, dann lässt er den Rauch wieder frei. »War ein ziemliches Arschloch, dein Schwan, falls du es nicht mitgekriegt hast. Der hat hier letzten Sommer ’ne ganze Familie ausgelöscht, Mutterschwan, Vaterschwan und drei Babyschwäne, hat die alle totgebissen, Revierkampf. Stand sogar in der Zeitung.«
Ich starre auf die Stelle, an der der Schwan festgefroren war, sehe ihn vor mir, wie er da hilflos gezappelt hat, und dann sehe ich mich auf dem Eis, bereit, mein Leben zu riskieren, um einen Mörderschwan zu retten.
»Wollen wir ein bisschen rumlaufen? Mir ist kalt«, sagt Timo und ich bin froh, nicht länger über die Sache nachdenken zu müssen. Irgendwann heute Nachmittag hat es aufgehört zu nieseln, jetzt ist es windig, aber der Himmel ist klar. Ich lege den Kopf in den Nacken. Man sieht super viele Sterne und die sind nicht aus Plastik. »Ich kenn kein einziges Sternbild«, sage ich.
Timo schnippt seine Zigarette weg und vergräbt die Hände in den Taschen. »Sternbilder kennen ist auch nur was für schmierige Typen«, sagt er.
»Vielleicht will ich ja mal ein schmieriger Typ werden, wenn ich groß bin.«
Timo lacht. »Ja, das würde zu dir passen.«
»Und du? Was wirst du?«, frage ich.
»Bin doch schon groß genug«, sagt Timo und geht ein Stück auf Zehenspitzen weiter, als wär er nicht auch so schon zwei Köpfe größer als ich.
»Ich meine, was du mal machen willst später. Willst du denn gar nicht weg von hier?«
Timo zuckt mit den Schultern. »Ist nicht so einfach.«
Ich nicke, und dann schweigen wir, bis wir am Hafen sind. Wir setzen uns auf die Kaimauer, obwohl der Boden noch feucht ist, und lassen die Beine baumeln, die Füße nur ein paar Zentimeter über dem Wasser, in dem sich das Licht der Straßenlaternen spiegelt. Ein paar vereinzelte Eisschollen ziehen vorbei, nichts Großes, nichts zum Einbrechen. Ich frage mich, was meine Mutter und Benno jetzt gerade machen, ob sie gemütlich auf dem Sofa sitzen und fernsehen und sich denken, dass ich mich schon wieder einkriegen werde. Oder ob sie sich vielleicht streiten, weil meiner Mutter klar geworden ist, dass das alles Bennos Schuld ist.
»Stellst du dir manchmal vor, wie das hier war damals?« Timo reißt mich aus meinen Gedanken. »Ich mein, als hier die ganzen Leichen drin geschwommen sind.« Er schaut mich an, aber ich starre einfach weiter aufs dunkle Wasser und weiß nicht, was ich sagen soll. Ich hab hier schon ungefähr tausendmal gesessen und versucht, mir genau das vorzustellen. Wie die Brücke drüben weggesprengt ist, wie hier Panzer rumstehen und normale Leute und Soldaten durcheinanderlaufen und keiner weiß, wohin. Die aufgedunsenen Toten, am Ufer und im Wasser. Aber ich hab immer das Gefühl, dass ich entweder übertreibe oder untertreibe oder in meinem Kopf irgendwas dazwischenrutscht, was ich mir bloß ausgedacht habe.
»Früher wollte ich immer in der Peene tauchen«, sage ich, weil es mir plötzlich einfällt. »Ich dachte, dass hier bestimmt spannende Sachen auf dem Grund liegen, Schmuck und so, eben alles, was die Leute beim Sterben verloren haben. Aber meine Mutter hat’s mir natürlich nicht erlaubt.«
Timo lacht. »Ich glaube, das Hafenbecken wurde schon drei Mal ausgehoben seitdem«, sagt er. »Da ist eh nichts mehr.«
Ein Gluckern ist zu hören, und auf dem Wasser bilden sich immer größer werdende Kreise. Ein Fisch vielleicht oder eine tauchende Ente. Es ist eigentlich zu kalt, um hier zu sitzen, aber ich will noch nicht wieder aufstehen.
»Glaubst du, du hättest es auch gemacht?«, frage ich.
»Wenn ich ein Nazi gewesen wäre, klar.«
»Und wenn nicht?«
Timo zieht die Hände aus den Taschen seiner Jacke und verschränkt die Arme. Sein Gesicht liegt im Schatten, aber ich kann sehen, dass sein Mund ganz schmal geworden ist.
»Mein Vater hat es schon zweimal versucht«, sagt er, ohne mich anzusehen. »Ich hab ihn beide Male gefunden, einmal lag er mit dem Gesicht in seiner eigenen Kotze auf dem Sofa. Er hatte alles Mögliche geschluckt, Tabletten, Frostschutzmittel, Alkohol … Im Krankenhaus haben sie ihm Kohle gegeben. Seine Zähne waren ganz schwarz davon.«
Das Gluckern ist wieder zu hören, und diesmal ist für einen kurzen Augenblick die Schwanzflosse eines Fischs zu sehen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das tut mir leid oder ist ja doof oder o Gott, alles würde jetzt bescheuert klingen. Deswegen rücke ich bloß ein Stück näher an ihn heran, sodass sich unsere Knie berühren, und hoffe, dass er es versteht. Er zieht sein Bein nicht weg, spricht weiter. »Ich finde, man sollte sich einfach Mühe geben, zu überleben. Egal, was einem passiert oder wie schlimm man gerade alles findet. Irgendwann stirbt man eh, so alt werden Menschen ja gar nicht, und bis dahin kann man doch auch einfach durchhalten, oder?«
»Es sei denn, man ist ein Nazi.«
»Stimmt«, sagt Timo und lacht. »Nazis können von mir aus jederzeit sterben.«
Eine Windböe lässt auf dem Wasser kleine Wellen entstehen, ganz kraus sieht die Peene jetzt aus. Ich ziehe die Schultern hoch und die Kapuze etwas fester, es ist eigentlich wirklich zu kalt, um hier zu sitzen.
»Frierst du?«, fragt Timo, und ich nicke. Jetzt ist er es, der ein Stück näher an mich ranrückt, sodass sich nicht mehr nur unsere Knie berühren, sondern auch die Oberschenkel, die Arme, die Schultern. Ich spüre seine Wärme und denke, dass ich froh bin, ihn heute Abend getroffen zu haben, dass es trotz der Kälte schön ist, hier zu sitzen und aufs Wasser zu schauen und dabei fast zu vergessen, dass ansonsten gerade alles falsch läuft.
Ich drehe mich zu ihm um und muss grinsen.
»Was ist?«, fragt er.
»Nichts«, sage ich und grinse noch mehr. Timo zieht eine Augenbraue hoch, es zuckt um seine Mundwinkel, aber er grinst nicht. Und dann beugt er sich plötzlich zu mir, und bevor ich verstehe, was hier gerade passiert, küsst er mich. Der Timo, der bei Netto Paletten auspackt. Der Timo mit den guten Schultern. Der Timo, in den meine beste Freundin verliebt ist. Ich drehe meinen Kopf zur Seite, ziehe ihn weg und springe auf, falle dabei fast ins Wasser.
»Bist du bescheuert?«, schreie ich ihn an, und das Letzte, was ich sehe, bevor ich wegrenne, ist Timos blasses, erschrockenes Gesicht.
*
Kleinkram, haben sie es genannt und damit die Kartons gemeint, aber auch Lampen, Küchengeräte, den Staubsauger. Sie stand am Fenster, als der Lieferwagen wieder vor dem Haus parkte, aber sie klingelten nicht bei ihr, sie klingelten drüben, bei den Nachbarn. Der Mann kam raus, der Neue, hat den Entrümpler mit Handschlag begrüßt, und dann haben sie angefangen, Kisten aus der Garage zu tragen. Erst zwei Stunden später sind sie zu ihr gekommen, nur um ihr mitzuteilen, dass sie heute nicht mehr alles schaffen würden und morgen nochmal wiederkommen müssten. Steffan ist nicht ans Telefon gegangen, als sie sich bei ihm beschweren wollte.
das aus ihm verschwindet. Sie liegt im Bett und hört es von unten knacken und knarren und rauschen, kann nicht schlafen deswegen. Gestern Nachmittag ist der Lieferwagen des Entrümplers vorgefahren, den Steffan bestellt hat. Er und sein Gehilfe haben das Sofa abgeholt, die Schrankwand, eine Kommode und den Couchtisch, haben das ganze Wohnzimmer mitgenommen für so gut wie nichts, haben ihre Schuhe nicht ausgezogen, haben nasse Abdrücke auf dem Fußboden hinterlassen und sich nicht mal entschuldigt. Den Rest wollten sie heute holen, denSie sitzt aufrecht in ihrem Bett, da unten ist etwas, vielleicht Einbrecher oder eine streunende Katze, die durchs Kellerfenster reingekommen ist. Vielleicht hat sie auch den Wasserhahn in der Küche angelassen. Sie will aufstehen und nachsehen, aber etwas hält sie zurück, sie hat das Gefühl, sich nicht rühren zu können. »Ihr dürft euch nicht bewegen«, hatte ihre Mutter zu Liese und ihr gesagt, als sie an der Kaimauer standen, bereit zu springen. »Nicht schwimmen, habt ihr gehört, dann ist es gleich vorbei.« Sie selbst hatte ihre Bluse geöffnet, die weit geworden war im Krieg, hatte sich die kleine Lotte an die Brust gedrückt und die Enden um sie herum verknotet.
Es sind bloß die leeren Räume unten, sagt sie sich, ohne Möbel klingen sie anders, das Holz arbeitet, gleicht den Gewichtsverlust aus, die Luft zirkuliert jetzt freier, da ist nichts. Aber sie weiß, dass es nicht stimmt. Sie weiß, dass sie in Wahrheit das Wasser hört, das in ihre Lungen eindringt, das sie nach unten drückt, auf den Grund der Peene, das ihre Körper aufquellen lässt, bis sie kaum noch zu erkennen sind.