dass ich mal frische Luft brauche, und mein Vater hat mir den Schlüssel für den Truck zugeworfen. »Aber nicht wegfahren!«, hat Ecke mir hinterhergerufen und wieder dumm gelacht. Keine Ahnung, warum mein Vater mit so einem rumhängt. Wahrscheinlich kann man sich seine Freunde nicht aussuchen, wenn man so viel unterwegs ist. Da muss man nehmen, was man kriegen kann, oder sein Schnitzel halt allein essen.
Die Luft ist feucht und kalt, und ich frage mich, wie warm es heute Nacht wohl im Truck sein wird und ob mein Vater eigentlich eine Decke für mich hat. Ich laufe ein paar Meter, weg vom Restaurant, weg von den parkenden Lastern mit ihren Satellitenschüsseln am Führerhäuschen, weg vom Straßenlaternenlicht, und plötzlich stehe ich vor einem Spielplatz. Er ist nicht besonders groß, eigentlich sind es nur eine Schaukel, eine Wippe und ein kleines Häuschen, von dessen Dach eine breite Rutsche abgeht. Ich muss mich hinhocken, um durch die niedrige Tür in das Häuschen zu kommen. Drinnen gibt es eine kleine Bank und einen Tisch, beides ist voller Sand. Ich fege ein bisschen was davon runter und setze mich. Es riecht leicht nach Katzenpisse, und ich frage mich, ob hier überhaupt jemals Kinder spielen. Draußen fängt es an zu regnen, die Tropfen prasseln leise auf das Dach. Schön klingt das, irgendwie beruhigend. Ich schalte die Taschenlampe auf meinem Handy an. Die Wände des Spielhäuschens sind komplett zugeschmiert mit irgendwelchen Kritzeleien. Das meiste davon versteh ich nicht, weil’s polnisch ist, aber ein paar Namen in Herzen kann ich entziffern, und ein bisschen was ist auch auf Englisch. Fuck zum Beispiel zähle ich acht Mal. Und auf der gegenüberliegenden Bank entdecke ich ein fettes, schwarzes Edding-Hakenkreuz.
Meine Mutter hat bis jetzt nicht geschrieben oder angerufen. Ich versuche mich zu erinnern, welche Schicht sie heute hat. Wenn sie Spätschicht hat, ist ihr vielleicht bisher nicht aufgefallen, dass ich weg bin, dann merkt sie es erst morgen früh oder sogar erst morgen Mittag, falls sie nicht in mein Zimmer schaut.
»Du rauchst gar nicht.«
Ich zucke erschrocken zusammen. Vor meinem Häuschen hockt jemand und schaut durch das kleine Fenster. Ich leuchte mit meiner Handytaschenlampe in seine Richtung und erkenne Tarek.
»Was?«, frage ich.
»Ich habe Licht gesehen. Ich dachte, du hast vielleicht Zigaretten«, sagt er in fehlerfreiem Deutsch, auch wenn er einen starken Akzent hat.
»Tut mir leid«, sage ich und zeige meine leeren Hände, als müsste ich erst beweisen, dass ich nichts zum Rauchen habe.
»Kann ich reinkommen? Ich mag den Regen nicht. Ist so nass.«
Ich drehe meine Beine ein Stück zur Seite, damit Tarek an ihnen vorbeikrabbeln kann. Er setzt sich mir gegenüber, direkt auf das Hakenkreuz, unsere Knie berühren sich, weil es so eng ist. Mein Blick fällt auf seinen Arm. Der Stumpf ist nicht zu sehen, sein Jackenärmel ist darübergerutscht.
»Wie ist das passiert mit deiner Hand?«, frage ich und bereue es sofort wieder. Vielleicht fragt man so was nicht.
»Sie wurde eingequetscht«, sagt Tarek, er scheint nicht böse zu sein. »Ist nichts passiert, nur die Hand musste ab. Ich hatte Glück.«
Ich nicke, aber wahrscheinlich sieht er das gar nicht. Mein Handy mit der eingeschalteten Taschenlampe liegt zwischen uns auf dem Tisch, sodass unsere Gesichter im Dunkeln liegen.
»Tut es weh?«
»Nein«, sagt Tarek. Dann zieht er seinen Ärmel ein Stück hoch, hält den Stumpf ins Licht und klopft ein paar Mal darauf. »Das hier spür ich gar nicht. Aber die Hand, die fehlt. Die tut noch oft weh.« Er zieht den Ärmel wieder drüber und verschränkt die Arme.
»Warum willst du in den Krieg?«, fragt er.
Ich merke, wie ich rot werde, und hoffe, dass das Licht nicht ausreicht, um es zu sehen. »Ich …«, fange ich an, aber plötzlich weiß ich nicht mehr, wie der Satz weitergehen soll, wie ich es ihm erklären soll, ohne wie eine Vollidiotin zu klingen. Deswegen zucke ich nur mit den Schultern, und er nickt, als ob das als Antwort reichen würde.
»Vermisst du Syrien?«, frage ich nach einer Weile. Tarek antwortet nicht gleich, scharrt mit seinen Fußspitzen über den sandigen Boden.
»Man hat jeden Tag Angst«, sagt er schließlich. »Wenn ich zur Uni gegangen bin, hatte ich Angst, dass auf dem Weg was passiert und ich nicht zurückkomme. Meine Mutter und ich haben uns jeden Tag verabschiedet, als ob es das letzte Mal wäre. Wir haben es nicht gesagt, aber ich weiß, dass sie das Gleiche gedacht hat.«
»Ist sie mit dir nach Deutschland gekommen?«
Tarek schüttelt den Kopf.
»Sie war in unserer Wohnung, das Haus ist eingestürzt. Es hat Tage gedauert, bis wir ihre Leiche gefunden haben. Ich hab sie begraben, dann bin ich gegangen.«
Der Regen wird schwächer, es ist nur noch ein ganz zartes Tröpfeln auf dem Dach zu hören. Ich muss daran denken, dass ich mich nicht von meiner Mutter verabschiedet habe, dass ich ihr nicht mal einen Zettel hingelegt habe, dass wir uns gestritten haben, bevor ich weg bin. Ein lauter Pfiff hallt vom Parkplatz zu uns rüber.
»Meine Kollegen«, sagt Tarek und rutscht von seiner Bank runter. Geduckt krabbelt er durch die Tür des Häuschens. Bevor er aufsteht, dreht er sich noch einmal um. »Du schläfst aber nicht hier draußen, oder?«
Ich schüttle den Kopf. »Nee. Keine Sorge.«
Er nickt, dann steht er auf und läuft zurück zum Parkplatz.
*
ob alles in Ordnung ist«, sagt Steffan, zieht auf der Fußmatte die Schuhe aus, nimmt sie in die Hand und kommt herein. »Sicher«, sagt sie und schließt die Haustür hinter ihm. Sie ist ein wenig überrascht, hat nicht mit ihm gerechnet, normalerweise sagt er Bescheid, bevor er vorbeikommt. Einen Moment stehen sie einander im Flur gegenüber, keiner von ihnen sagt etwas, und sie fragt sich, ob sie doch verabredet waren und sie es nur vergessen hat. »Hier riecht’s gut«, sagt Steffan schließlich, und ihr fällt der Eintopf ein, den sie sich gerade auf dem Herd aufwärmt. Es ist noch genug für zwei da.
»Es wird noch einiges zu machen sein im Haus«, sagt Steffan, während sie ihm auffüllt. »Tapeten neu, Dielen abziehen. Mach ich alles, wenn du raus bist.« Sie zuckt leicht zusammen bei den letzten Worten, aber Steffan scheint nichts zu bemerken, redet einfach weiter. »Frisch rennoviert verkauft sich besser.«
Sie nickt, nimmt einen Löffel Eintopf, pustet länger als nötig.
»Wird der Junge dir denn helfen?«, fragt sie und versucht, nicht bitter zu klingen dabei, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie enttäuscht ist, ihn schon so lange nicht gesehen zu haben. Steffan schüttelt den Kopf.
»Der geht weg«, sagt er, steht auf, nimmt sich eines der letzten Gläser aus dem Schrank und füllt es mit Leitungswasser. Sie will sich schon beschweren, dass er sich nicht immer alles so aus der Nase ziehen lassen soll, da spricht er weiter. »Ich bin nicht gut für ihn. Der macht sich zu viele Sorgen um mich. In Hamburg kann er bei seiner Mutter wohnen und es nochmal versuchen mit der Schule. Schlau genug ist er ja.«
Sie nickt und merkt, dass sie lächeln muss, zum ersten Mal seit Wochen. »Gut«, sagt sie, greift über den Tisch und streicht Steffan über die Hand. »Sehr gut.«
Nachdem sie ihn verabschiedet hat, mit einer besonders festen Umarmung, geht sie hoch in ihr Schlafzimmer. Ihr alter Koffer steht dort auf dem Boden, sie hatte ihn dem Entrümpler aus der Hand reißen müssen, sonst wäre er auch noch in seinem Lieferwagen verschwunden. Auf dem Bett hat sie alles bereitgelegt, was sie mitnehmen wird, mitnehmen würde. »Stellen Sie sich einfach vor, Sie fahren in den Urlaub«, hatte die Heimleiterin gesagt. »Packen Sie Kleidung für zwei Wochen.« Seinen Namen soll man einnähen in jedes Stück, auch in die Unterwäsche, damit nichts verloren geht, aber die Mühe wird sie sich nicht machen. Was wissen die vom Verlorengehen, denkt sie, als sie die Kleiderstapel in den Koffer räumt. Das Wasser war kalt. Ihre Kleider sogen sich voll, sie versuchte, stillzuhalten, so wie ihre Mutter es ihr gesagt hatte, versuchte unterzugehen, aber als die Lunge zu schmerzen begann, rissen ihre Arme nach oben, wie von allein, stießen sie hoch, bis ihr Kopf wieder über der Wasseroberfläche war, bis sie nach Luft schnappen konnte. Um sie herum trieben Leichen, Kleider, Schuhe, Hüte, Papiere, Geäst. Sie drehte den Kopf nach links, nach rechts, suchte nach ihren Schwestern, nach ihrer Mutter, schwamm dabei, ohne es zu merken, ohne an die vielen Sommertage zu denken, an denen sie es geübt hatte, und an die anderen, an denen sie es auch Liese beigebracht hatte. Auch sie war wieder aufgetaucht, nur wenige Meter von ihr entfernt, und gemeinsam schafften sie es schließlich heraus. Ihre Mutter und Lotte tauchten nicht wieder auf.
Sie klappt den Koffer zu, der Reißverschluss lässt sich problemlos schließen, es ist nicht viel drin, sie wird nichts davon brauchen. Es muss nur so aussehen, als ob.