Seit bestimmt zehn Minuten hat sich nichts mehr bewegt, und wenn es nicht so pissen würde, wären die Leute wahrscheinlich längst aus ihren Wagen ausgestiegen, hätten sich auf die Straße gestellt, die Hände in die Hüften gestemmt und würden nach vorne glotzen, obwohl es da nichts zu sehen gibt, außer noch mehr Autos. Mein Vater hat den Motor ausgestellt und sich seine Mütze tief ins Gesicht gezogen. »Weck mich, wenn sich hier was tut, ja?«, hat er gemeint und kurz darauf angefangen zu schnarchen. Ich hab mein Handy in der Hand, aber eigentlich brauch ich gar nicht draufzugucken. Es ist ziemlich offensichtlich, dass es meiner Mutter scheißegal ist, wo ich bin. Ich denk mal, sie ist sogar froh, mich los zu sein. Vielleicht hat sie mein Zimmer längst ausgeräumt und in ein zweites Lager für Benno umfunktioniert. Hat meine Sachen von ihrem neuen Kumpel, dem Entrümpler, abholen lassen. Plötzlich merke ich, dass ich nicht länger in diesem Truck sitzen kann, der Gurt fühlt sich eng an und schnürt mir die Luft ab. Ich öffne die Beifahrertür, klettere raus, und es kostet mich ziemlich viel Kraft, sie nicht zuzuknallen.
Der Regen fällt aufs Display, ich wische es an meiner Hose ab, aber die ist auch schon ganz feucht, also bringt es kaum was. Ich klettere über die Leitplanke und stelle mich etwas abseits der Straße unter einen Baum, der allerdings kahl ist und also keine große Hilfe. Es ist ziemlich dunkel, das Licht der Autoscheinwerfer reicht nicht bis hierher. Meine Hände zittern, als ich auf den kleinen grünen Hörer drücke. Es klingelt, und ich zähle mit, wie ich es immer mache, weil meine Mutter mir mal beigebracht hat, dass man es höchstens sechsmal klingeln lassen darf, alles andere ist aufdringlich. Eins. Zwei. Drei. Ich stelle mir vor, wie sie meinen Namen auf dem Display sieht und das Handy auf lautlos stellt. Vier. Fünf. Vielleicht hat sie meine Nummer auch längst gelöscht, bisschen den Speicher entrümpeln. Sechs. Ich will gerade auflegen, da höre ich ihre Stimme. »Larissa«, sagt sie einfach. Sie klingt überrascht, aber nicht besorgt, eher so, als hätte ich sie während der Schulzeit angerufen oder so. Ich glaube, ich war noch nie so wütend auf sie.
»Ja, hier ist Larissa, deine Tochter, die übrigens noch lebt, falls es dich überhaupt interessiert!« Ich höre meine Mutter atmen, höre, wie sie mehrfach zum Sprechen ansetzt, es dann aber doch lässt und schweigt, nur um wieder tief Luft zu holen.
»Wo seid ihr denn gerade?«, fragt sie schließlich, und in dem Moment wird mir alles klar. Ich will auflegen, aber das Display reagiert nicht, ist zu nass, also werfe ich das Handy mit voller Wucht gegen den Baumstamm. Es fällt in mehreren Teilen ins matschige Gras.
Kleine Scheine in verschiedenen Währungen dabeihaben (immer auch Dollar!)
Nur so viel Gepäck mitnehmen, wie man selber tragen kann (im Notfall über längere Distanz)
Bleistifte statt Kulis mitnehmen (funktioneren bei Staub und Hitze besser)
Ich versuche mich an alles zu erinnern, was ich in meiner Liste gesammelt habe, aber mehr fällt mir nicht ein, der Rest ist verloren. Ich starre noch einen Moment auf die Einzelteile, dann drehe mich um und gehe.
Meine Schuhe und Socken sind völlig durchweicht. Ich laufe hinter der Leitplanke entlang vorbei an den stehenden Autos, immer weiter weg vom Truck meines Vaters. Meine Sachen sind noch da drin, aber das ist jetzt egal, ich brauche nichts. Wenn man eh nicht weiß, wie es weitergeht, weiß man auch nicht, ob man dafür seine Lieblingsjeans braucht, so einfach ist das. Soll mein Vater sie doch behalten und nachts mit ins Bett nehmen, so wie die Wolldecke. Er muss sie angerufen haben, nachdem ich ihm geschrieben hab, wollte wahrscheinlich wissen, ob sie wirklich einverstanden ist, und dann haben sie sich bestimmt zusammen kaputtgelacht über ihre dumme Tochter. Das Gras unter meinen Füßen ist rutschig, ich muss mich ein paar Mal an der Leitplanke festhalten, um nicht hinzufallen. Der Stau ist endlos. Auto an Auto an Auto an Laster an Auto an Auto an Laster. Keiner beachtet mich, ich bin unsichtbar. Mir ist kalt, ich bin mittlerweile nass bis auf die Knochen, bis aufs Knochenmark, bis in die kleinste Zelle rein, fast hab ich das Gefühl, ich bestehe aus Wasser. Irgendwann, ich weiß nicht, ob nach ein paar Minuten oder Stunden, komme ich an eine Autobahnbrücke. Ich überlege, mich einfach unterzustellen und abzuwarten, bis der beschissene Regen aufhört. Aber dann habe ich eine bessere Idee.
*
8 und 12, hat die Frau am Telefon gesagt, sie soll sich bereithalten und alles gepackt haben. Viel darf nicht mit, daran wurde sie extra erinnert, es sei alles da, Vorhänge, Bettwäsche, Tischtücher. »Alles, was man braucht!«, hat die Frau am Telefon nochmal gesagt, aber was kann jemand, der so jung klingt, schon von Dingen wissen, die man braucht. Das Haus war voll. Da steckte ein ganzes Leben drin, in den Schubladen, in den Schränken, in den Regalen, jetzt ist fast nichts mehr da, der Rest ist Müll, kann weg.
zwischenSie nimmt das Nadelkissen vom Nachtschrank, legt es auf ihren Schoß, fährt mit dem Zeigefinger über die Naht. Liese und sie liefen klatschnass und zitternd das Peeneufer entlang, wussten nicht, wohin sie gehen sollten. Kaum einer beachtete sie, alle waren entweder damit beschäftigt, zu sterben oder andere vom Sterben abzuhalten. Sie kannte die Frau nicht, die sie auf einmal am Ärmel zog. »Braucht ihr Hilfe?«, fragte sie, die Augen geweitet. Sie nickten, froh, dass sich eine Erwachsene ihrer annahm. Da griff die Frau nach ihrer Hand und legte ein schmales Fläschchen hinein. »Das reicht für euch beide.«
Vorsichtig trennt sie die Naht mit der Nagelschere auf, sie will das Kissen nicht kaputt machen, will nicht, dass es auffällt. Mit den Fingerspitzen zupft sie die Watte heraus, bis sie es fühlen kann. Liese und sie hatten das Gift nicht genommen, hatten sich, ohne darüber zu sprechen, geeinigt, dass sie leben wollten. Sie hatte es trotzdem aufbewahrt und in Mutters Nadelkissen eingenäht, nur für den Fall.
Die Nacht ist klar, sie kann die Sterne sehen. Sie öffnet das Fenster. Auch wenn sie nicht wirklich daran glaubt, dass man nach dem Tod irgendwo hingehen kann, kommt es ihr doch passend vor, ein wenig Luft reinzulassen. Sie setzt sich ins Bett, zieht die Decke über die Beine, es wird kalt im Zimmer. Nicht mehr als ein Schluck ist im Fläschchen, aber die Frau hatte gesagt, es würde für zwei reichen, und ihr Herz ist ohnehin schwach. Dass sie schon sehr alt war, werden sie sagen, und dass es ihr in letzter Zeit öfter nicht gut ging. Das genügt in ihrem Alter, da braucht es keine großen Untersuchungen. Sie dreht das Bild von ihrer Mutter und Lotte ein Stück, sodass sie die beiden gut sehen kann. Dann öffnet sie das Fläschchen. Sie setzt es an die Lippen und kippt es leicht an, es brennt ein wenig auf der Zunge, schmeckt bitter. Sie lässt die Hand sinken. Sie lässt das Fläschchen unter das Bett rollen. Und dann lässt sie los.