dass dir Tante Lore so viel bedeutet hat.«
Timos Hände stecken in den Taschen seiner schwarzen Anzughose, er sieht verkleidet aus, der Anzug ist ihm ein bisschen zu klein.
»Kann ich mich setzen?« Ich nicke, und er setzt sich neben mich auf die Bank vor der großen Wiese. Es ist warm heute, fast schon ein bisschen frühlingshaft.
»Wusste gar nicht, dass sie deine Tante war«, sage ich.
»Urgroßtante eigentlich. Hab sie in den letzten Jahren nicht so oft gesehen. Ist immer etwas anstrengend gewesen mit ihr. Hast du sie gemocht?«
Ich denke nach. Frau Dohlberg hat so lange neben uns gewohnt, und trotzdem hab ich keine Ahnung, was für ein Mensch sie eigentlich war. Wenn ich an sie denke, dann seh ich sie immer hinter dem Fenster, entweder über ihren Küchentisch gebeugt oder an den Gardinen rumzupfend. Ich muss daran denken, wie Sarina und ich wochenlang davon überzeugt waren, dass sie ein Gespenst ist, und schäme mich etwas.
»Ich weiß nicht«, sage ich. »Wir haben nicht viel geredet. Manchmal fand ich sie ein bisschen unheimlich, glaub ich.«
Timo lacht. »War sie auch.« Er nickt in Richtung Wiese. »Wusstest du, dass sie damals dabei war? Ihre Schwester und ihre Mutter müssten hier liegen. Sind ertrunken. Das hat sie mir erzählt, als ich noch viel zu klein war für solche Geschichten. Ich hatte wochenlang Alpträume.«
»Wolltest du deswegen wissen, wie sich das anfühlt?«
Timo zuckt mit den Schultern. »Ja, schon. Früher hab ich es immer in der Badewanne versucht. Hat natürlich nicht geklappt.«
Ich muss lachen, weil ich mir vorstelle, wie der große Timo versucht, in einer viel zu kleinen Badewanne zu ertrinken.
»Ich hab dich mal bei euch im Garten gesehen«, sagt Timo. »Als ich irgendwann bei ihr war, ist schon ’ne Weile her. Das Fenster in ihrem Schlafzimmer hatte sich ausgehakt. Du hast da im Baum gehangen, die ganze Zeit, während ich es repariert habe.«
»Du Stalker«, sage ich scherzhaft, aber Timo lacht nicht.
»Wenn ich ein Stalker wäre, wäre ich öfter bei ihr gewesen«, sagt er und pult ein wenig Moos zwischen den Rillen der Holzbank raus. »Ich dachte, ich besuch sie einfach, wenn sie ins Heim umgezogen ist. Wir hatten immer so wenig zu bereden, und dieses Haus war irgendwie auch deprimierend. Deshalb hab ich mich gedrückt.«
Ich schaue ihn an, und plötzlich habe ich eine Idee. »Komm«, sage ich, stehe auf und strecke ihm meine Hand entgegen. Er nimmt sie, und diesmal lassen wir nicht sofort wieder los, sondern erst, als wir da sind, hinten bei den drei Kiefern.
»Lennard Schramm.« Timo liest es laut vor. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt schon mal gehört habe, wie jemand seinen vollen Namen ausspricht. Lennard Schramm. Das klingt erwachsen, so mit Vor- und Nachnamen, das klingt nach einer richtigen Person, nicht nach einem Dreijährigen. Lennard Schramm hätten die Lehrer gesagt und sich suchend umgeschaut, wenn sie am Anfang des Schuljahres die Klassenliste durchgegangen wären. Len hätten ihn vielleicht seine Freunde gerufen, auf dem Fußballplatz — Len, spiel ab! —, das ist schön kurz, und er hätte abgespielt oder gleich selbst ein Tor gemacht. Er wäre bestimmt gut gewesen. Vielleicht hätte er auch einen dieser bescheuerten Spitznamen bekommen, die Jungs sich geben, Schramme oder so, Schramme bringt Bier mit, hätten sie dann gesagt, wenn sie sich zum Saufen hinterm Netto getroffen hätten.
»Sie haben ihn immer Lenni genannt. Meine Eltern«, sage ich.
»Woran ist er gestorben?«, fragt Timo, und ich erzähle ihm die ganze Geschichte, vom Fahrradfahrer, von den Gehwegplatten und dass meine Mutter gesagt hat, wir hätten Zwillinge sein können. Als ich ihm von dem Foto erzähle, auf dem Lenni seinen Arm um mich legt, da macht Timo das Gleiche, legt seinen Arm um mich und zieht mich nah an sich heran. Warm fühlt sich das an, so zu stehen, und komisch und gut. Ich will sagen, dass es schon in Ordnung ist, dass ich ja eigentlich gar nicht traurig sein kann, weil ich ihn schließlich nicht mal kannte und es auch schon ewig her ist, und dass es doch seine Tante ist, um die wir heute trauern, oder Großtante oder Urgroßtante, aber dann ist es Timo, der sich räuspert, um etwas zu sagen.
»Ich geh weg aus Demmin.« Irgendwo hämmert ein Specht gegen den Baum, und ungefähr im gleichen Takt geht plötzlich mein Puls. Ich trete einen Schritt zurück, Timo lässt die Schultern hängen, sie sehen auf einmal sehr schmal aus.
»Ich zieh zu meiner Mutter, nach Hamburg. Ich kann da die Schule weitermachen, vielleicht doch noch Abi, mal sehen.« Er versucht ein Grinsen, aber es wird nur ein zaghaftes Lächeln.
»Und dein Vater?«
»Der muss klarkommen. Kann ja nicht ewig auf ihn aufpassen.«
Der Specht hat aufgehört zu hämmern, bis auf ein leises Rascheln im Gebüsch ist es ganz still um uns herum.
»Wie lange bist du noch hier?«, frage ich.
»Ich fahr schon am Wochenende.«
Ich denke an Sarina und was sie über unsere Freundschaft gesagt hat, was wirklich wichtig ist und so, und dann bin ich mir sicher, dass sie unter diesen Umständen okay finden würde, was ich jetzt mache. Ich stelle mich auf meine Zehenspitzen, der Specht legt noch einmal richtig los, und diesmal bin ich es, die Timo küsst.