Vom Onkel Hugo, der gar nicht mein Onkel war, habe ich nichts als ein paar Geschichten, die mich durch mein Leben begleiten, das Gesicht eines schmalen, versonnen lächelnden Greises, der sich zu mir herunterbeugt und dem Fünfjährigen einen Dollar in die Hand drückt, und einen Aschenbecher aus Glas, den ich erst erhielt, als meine Mutter starb. Der Aschenbecher steht auf dem Aufsatz meines Schreibtisches, er ist groß, aus gelbem, kunstvoll gesprenkeltem Glas und hat, elegant geschwungen, zwei fingerbreite Einbuchtungen, in denen man brennende Zigaretten ablegen könnte, ohne dass sie glutwärts in den Aschenbecher kippen würden. Der Onkel Hugo war gar nicht mein Onkel, sondern der meiner Mutter, denn er war der Bruder ihrer Mutter aus dem Dorf an der Donau, das bis 1918 zur k. u. k. Monarchie gehörte und danach an das Königreich Jugoslawien fiel. So wie die Vorfahren meiner Frau aus Südtirol und Salzburg kamen, stammte meine Familie, von der Mutter wie vom Vater her, aus jenem Landstrich zwischen dem heute kroatischen Osijek und dem heute serbischen Vršac, der einst von Serben, Kroaten, Rumänen, Ungarn, Slowaken, Donauschwaben, Juden, die sich zur ungarischen, und Juden, die sich zur deutschen Volksgruppe rechneten, Zigeunern und noch einer Handvoll versprengter Völkerschaften bewohnt wurde.
Der Onkel Hugo war unser Onkel aus Ameriga, wie es die Donauschwaben mit ihrem weichen, kehligen Dialekt aussprachen, aber er war kein reicher Mann, wie es sich für einen Onkel aus Amerika gehört hätte. Er hatte das Handwerk des Kunstwebers erlernt und sich als junger Mann auf die Walz begeben, doch statt über Budapest nach Böhmen zu gehen, wo die Kunstweber arbeiteten, von denen er etwas hätte lernen können, zog er gleich weiter, bis nach Hamburg, von wo die großen Schiffe nach Übersee ablegten, und als er sich ein Jahr später wieder bei den Seinen meldete, langte der Brief in dem Dorf an der Donau mit seinen schnurgeraden, in rechtem Winkel sich schneidenden Straßen aus dem fernen Amerika ein, aus Philadelphia, einer Stadt, die ebenso praktisch von schnurgeraden Straßen durchzogen wurde, die sich in rechtem Winkel schnitten.
Der Onkel Hugo hat in Amerika unter lauter ungarischen, serbischen, jüdischen, deutschen Pannoniern gelebt, die gleich ihm der Arbeitslosigkeit in die Neue Welt entrannen und in einigen Städten wie Philadelphia oder Trenton regelrechte Kolonien bildeten, in denen sie über die alten nationalen und sprachlichen Grenzen hinaus als Pannonier zusammenlebten. Er hat dort in einer Textilfabrik gearbeitet und eine ungarische Migrantin aus dem Nachbardorf geheiratet, die ebenso schlecht Englisch lernte wie er, und mit ihr zwei Kinder großgezogen, die sie, weil die Auswanderung für ewig gedacht war, John und Mary nannten. Die Verbindung zu den Verwandten in seiner alten Heimat hat er nie abgebrochen, auch nicht, als sie für diese selbst zur alten Heimat geworden war, weil sie 1945 wie die allermeisten Donauschwaben aus der Wojwodina hatten flüchten müssen. Dankbar hat meine Mutter bis in ihr hohes Alter berichtet, dass der Onkel Hugo in den ersten Jahren nach dem Krieg regelmäßig Kleidung und Konserven an seine in Österreich gestrandeten Verwandten schickte, wobei er einmal für sie sogar ein Paar hochmoderner Stöckelschuhe beilegte. Dass er es tat, nahm sie nicht als Zeichen, dass er sich die bedrängenden Verhältnisse, in der sie jetzt lebte, gar nicht vorstellen konnte, sondern ganz im Gegenteil, dass er sich nur zu gut vorstellen konnte, was sie jetzt, gerade jetzt brauchte, um nicht zu verzagen, ein kleines Stück überflüssiger Schönheit und Eleganz.
Egal, in welchem Verwandtschaftsverhältnis wir zu ihm standen, alle die Angehörigen aus drei Generationen, selbst meine Großmutter, seine Schwester, sprachen von ihm immer nur als dem Onkel Hugo aus Amerika. Ich habe ihn bloß ein einziges Mal gesehen; als eine Hochzeit im Verwandtenkreis stattfand, erschien dieser schmale Greis, der schütteres weißes Haar und einen dichten weißen Schnurbart hatte und ein weißes Hemd mit einem sensationellen blauen Kragen trug, bei uns in Salzburg. Er sprach wie alle Älteren aus der Familie jenes in Salzburg fremd klingende Deutsch, das ich noch im Ohr habe und dessen Klang heute aus der Welt verschwunden ist und nur mehr im akustischen Gedächtnis von uns alt gewordenen Kindern von damals existiert. Er war spendabel, wie es einem Onkel aus Amerika anstand, dabei war er als einfacher Fabrikarbeiter in Rente gegangen.
Damals ging er bereits auf die achtzig zu, war Witwer und hatte noch einen Wunsch, den er sich erfüllen wollte. Sein Lebtag lang hatte er davon geträumt, nach Venedig zu fahren, und da er nun schon einmal, gewiss zum letzten Mal, in Europa war, wollte er ihn sich endlich erfüllen. Meine Mutter hatte er auserkoren, ihn auf der Reise zu begleiten, und als ich die beiden am Tag nach dem Familienfest im Bus abfahren sah, schossen mir Tränen in die Augen.
Kaum hatten die beiden in Venedig das Hotel bezogen, überkam den Onkel Hugo, der am Ziel seiner Träume angelangt war, die Schwäche, sodass er die drei Tage, die sie in Venedig blieben, das Hotelzimmer nicht verlassen konnte. Meine Mutter beauftragte er, diese und jene Sehenswürdigkeit für ihn zu besichtigen und ihm abends, an seinem Krankenlager, davon zu berichten. Einmal hieß er sie nach Murano fahren und ein Erinnerungsstück aus Glas kaufen, das sie auf ewig an ihn erinnern sollte. Meine Mutter erstand einen Aschenbecher, war sie doch mit einem Raucher verheiratet, wie ich kaum je einen zweiten erleben sollte, denn er rauchte von früh bis spät, eine Zigarette nach der anderen; sogar sonntags, wenn zu Mittag das besondere Essen aufgetragen wurde, nahm er mit der Zigarette am gedeckten Tisch Platz und legte sie brennend in einem Aschenbecher ab, um ein paar Löffel von der Leberknödelsuppe und dann einen tiefen Zug zu nehmen.
Der Onkel Hugo erholte sich in Salzburg rasch und flog, bedauert von allen, in die Einsamkeit seiner Witwerschaft ins ferne Philadelphia zurück. Er hat dort noch ein paar Jahre gelebt und alle paar Monate einen Brief geschickt, in dem er in einfachen Worten mit penibler Sorgfalt berichtete, wie es ihm ergangen und was seinen Nachbarn inzwischen an Gutem und Schlechtem widerfahren sei.
Im Aschenbecher aus Murano mit seinem gewölbten Rand hat mein Vater bis zu seinem Lebensende Aber- und Abertausende Zigaretten abgelegt und dann ausgetötet. Als meine Mutter starb, die ihn um viele Jahre überlebte, habe ich das Geschenk des Onkels Hugo an mich genommen. Er dient mir als Depot für Büroklammern, und manchmal, wenn mir wieder auffällt, dass er hier steht, erinnert er mich an die verwehten Träume, die von meinen Eltern und vom Onkel Hugo geblieben sind.