Ich erwachte früh, weil es zu regnen aufgehört hatte und das Getrommel auf dem Kupferdach mich nicht mehr durch den Schlaf geleitete. Ich liebe den nächtlichen Regen, der mich nicht durchnässt, sondern drei Meter über mir aufs Dach trommelt, unter dem ich liege, ich lausche ihm beim Einschlafen und freue mich, wenn ich im Halbschlaf die Lage wechsle und ihn höre, beständig und regelmäßig, manchmal zu heftiger Kraft sich beschleunigend, sodass der Ton der Trommeln höher wird, und manchmal rede ich mir ein, dass sie es sind, die das Tempo, aber auch die innere Entwicklung meiner Träume beeinflussen. Auch wenn ich ihn als Musik der Nacht schätze, ist der Regen für mich nicht besonders wichtig; ich weiß, das ist nichts, worauf ich stolz sein könnte, aber das Wetter selbst — und es gibt ja immer irgendeines — spielt in meinem Leben nur mehr eine geringe Rolle, und ich muss mich täglich wieder ermahnen, diese erste elementare Äußerung der Natur überhaupt wahrzunehmen.
Natürlich war das früher anders, als Kind erfasste mich eine namenlose Trauer, ein beängstigendes Gefühl von Ewigkeit, wenn ich aus dem Fenster blickte und hoffte, er möge endlich aufhören, dieser dünne, wie auf Fäden rieselnde Schnürlregen, von dem die Leute geradezu stolz sprachen, als handle es sich um eine Sehenswürdigkeit, die man nur in Salzburg bestaunen konnte; oder dieser graue, fast bedächtige Regen, der in schweren Tropfen aus tiefen, im Gebirgskessel um die Stadt eingefangenen Wolken niederging und tagelang nicht aufhören wollte, ein Regen, den die Leute Landregen nannten. Diese beiden Formen des Regens waren dem Kind verhasst, denn sie hinderten es, das Liebste zu tun, nämlich nach draußen zu stürmen, bei den Freunden anzuläuten und vor dem Haus, auf der vom Hausmeister alle paar Wochen gemähten Wiese, herumzutollen; oder mit ihnen einen Wohnblock weiter zu ziehen, bis zu der mit dichtem Gestrüpp bewachsenen Gstätten, von der niemand wusste, wem sie gehörte, und auf der eines Tages ein Wohnblock gebaut wurde, der uns die schönsten, uneinsehbaren Verstecke unter stacheligen Hecken raubte.
Der Regen, den ich als Kind liebte, war der Platzregen, der nach einer raschen Verdüsterung jäh einsetzte und für einige Minuten so heftig prasselte, dass sich niemand vor ihm retten konnte, es sei denn, er flüchtete sich unter ein weit genug auf den Gehsteig herausragendes Vordach oder in das Wartehäuschen bei der Bushaltestelle. Wenn ich vom Fenster des hohen Hauses, in dem ich aufwuchs, in die späten fünfziger Jahre und die dichten Regenschauer des Platzregens hinausschaute, sah ich viele Männer, die ich sonst nur in ihrer akkuraten Kleidung kannte, wie sie nun ihre weißen Hemden ausgezogen und in ihre Aktentaschen gesteckt hatten; sie, die gestrengen Familienväter, scheuten sich damals nicht, im weißgerippten Unterhemd heimwärts zu eilen, und sie hoben das Gesicht hinauf in den Himmel, aus dem die Wasser niederschossen, und schienen es zu genießen, einmal nicht gemessenen Schrittes gehen zu müssen, sondern geradezu ausgelassen, wie befreit von der Pflicht, allezeit ernst und als Respektspersonen aufzutreten.
Bereits als Jugendlicher habe ich das Auge, ja, den Sinn für das Wetter nahezu eingebüßt, es war, als hätte ich mich, ganz ohne Vorsatz, von dieser Abhängigkeit den Wechselfällen der äußeren Welt gegenüber unabhängig zu machen versucht, um in einer anderen, meiner eigenen Welt zu leben. Aus dieser schändlichen Unachtsamkeit und Gleichgültigkeit retteten mich später erst meine eigenen Kinder. Wer mit kleinen Kindern zusammenlebt, richtet am Morgen den ersten Blick bang aus dem Fenster, um zu sehen, wozu der Tag taugen wird und welche Kleidung gewählt werden muss, wenn man ins Freie tritt. Anstrengende und glückliche Tage, wenn die Meinen nach den langen Zeremonien des Anziehens in Gummimantel und Stiefeln gebieterisch mit mir hinaus in den Regen drängten! Damals lebten wir bereits in diesem Haus, von dem ich erzähle, und manchmal gingen wir im Regen über die 181 Stufen auf den nahen Stadtberg hinauf, wo der Landregen anders zu hören war als auf den Straßen, dort, unter den Kuppeln der mächtigen Bäume, im hoch stehenden Gras, auf den unasphaltierten Wegen, auf denen der festgestampfte Lehm, die Erde bald aufgeweicht waren.
Oder wir blieben im Garten, der sich an der Rückseite unseres Hauses befindet, bis der Regen nachließ, es nur mehr nieselte und wir bemerkten, dass das Erste, was auf den Regen folgt, die Stille ist. Wir wurden uns ihrer erst bewusst, wenn die Vögel wieder zu zwitschern und zu singen begannen und die vieltönenden Geräusche des Nachregens zu hören waren, die verschiedenen Arten des Tröpfelns, das platschende von der Dachrinne, das in die Tonne mit dem Regenwasser fiel, das schwere von den dichten Zweigen des dunklen Nussbaums, dessen Stamm im Regen schwarz geworden war …
Der Vater verdankt es den Kindern, dass er sich an Dinge zu erinnern beginnt, die ihm längst entfallen waren, es sind die Kinder, die ihn nicht allein für immer zum Vater machen, vom ersten Blick, den sie ihm zuwerfen, bis zum letzten Atemzug, den er selber tun wird, sondern es sind ebenfalls sie, die ihn wieder zum Kind machen, sodass er sich in ihrer Gegenwart für Momente als ganzer Mensch in all seinen verschiedenen Zeiten zu ahnen vermag. Wie das Gras riecht, nach dem Regen, das hatte ich vergessen, in der Zeit, da ich den Regen selbst kaum bemerkte und wie verfangen in meinen Gedanken verharrte, und wie das Gras riecht, das gemäht, aber nicht rechtzeitig zusammengerecht wurde — jetzt erst, im Garten dieses Hauses, erfuhr ich es wieder, und damit bekam ich den Geruch meiner eigenen Kindheit zurück in mein Leben als Erwachsener.
Mittlerweile habe ich keinen Anlass mehr, morgens aus dem Fenster zu schauen, ehe ich mich an den Schreibtisch unter dem Dach setze, um mit dem Schreiben zu beginnen, oder auf das Fauteuil im unteren Stock, um mich mit dem Lesen davon abzuhalten. Ich habe kaum mehr unaufschiebbare Termine, die mich nötigten, zu einer festgelegten Zeit die Wohnung zu verlassen, sodass ich der Unbill, im Starkregen loszuziehen, fast nie ausgesetzt bin. Ich rede mir gerne ein, dass dies ein Privileg sei, weiß aber, dass ich es nur habe, indem ich mich einer Tatsache des Lebens entfremde. Einige unserer Freunde leiden am Regen dieser Stadt, sie werden trübsinnig, wenn es über Tage regnet, sie werden trübsinnig oder haben endlich wieder einen Grund für ihren Trübsinn gefunden, ich hingegen muss mich bemühen, das Empfinden für das Wetter nicht gänzlich zu verlieren.
Im anbrechenden Tag habe ich das Zimmer unter dem Dach verlassen und stehe an einem der drei Fenster, die vom Oberdeck im unteren Stock auf den Stadtberg und die an ihm entlangführende Straße schauen. Noch fährt nur alle paar Minuten ein Wagen vorüber, der schwarze Asphalt leuchtet vor Nässe, und die Räder hinterlassen eine Spur, über die sich das auseinandergepresste Wasser bald wieder schließt. Es ist drei Viertel sieben, als in den Häusern ringsum die Lichter angehen, und eine halbe Stunde später kommen sie einer nach dem anderen heraus, setzen sich in ihre Autos und fahren los. Es wird ein schöner Tag, nach den Schauern der Nacht klart der Himmel auf, die Wolken ziehen ab, und bald werden sie wie Watte auseinandergezupft sein.