In das dunkelste Eck des Wohnzimmers hat sich ein schmales Stehregal zurückgezogen, ein altes, wackeliges Stück aus lackiertem Holz, das sich kaum mehr gerade halten kann, sondern sich ächzend nach links oder rechts neigt, wie man das Gewicht der Bücher eben auf ihm verteilt. Vielleicht standen einst auf seinen drei Brettern Vasen, Keramiken, Ziergegenstände aus Porzellan, jetzt finden sich auf ihnen ausnahmslos betagte Bücher ein, zu einer Versammlung stockfleckiger und zerfledderter, von ihrer Wanderung durch Zeiten und Räume beschädigter Bände. Auf welchen Flohmärkten ich sie aufstöberte, weiß ich nicht mehr. In einem Buch ist ein Zettel eingeklebt, der besagt, dass es sich bei ihm um Band 10.735 der Bibliothek der k. k. Deutschen-Technischen Hochschule in Brünn handelt, einer Stadt, die mir bei einem kurzen Besuch solchen Eindruck machte, dass ich mir vornahm, sie noch einmal aufzusuchen, in der ich aber dieses eine Buch sicher nicht entdeckt und erstanden habe. In einen anderen Band hatte ich auf der ersten Innenseite mit meiner schon immer krakeligen, schwer lesbaren Handschrift notiert: Poreč, August 1990, 30 Dinar. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich dieses Buch in der istrischen Stadt entdeckte, aber die Tage am Meer, in einem Sommer, in dem wir uns über die Fortschritte freuten, die unsere Kinder beim Schwimmen zeigten, sind mir noch als flirrendes Bildnis familiären Glücks gegenwärtig, als Idylle in einem Staat, der kurz davorstand, blutig zu zerfallen. So weit die Wege waren, auf denen sie hierher gelangten, diese Bücher mit abgeblätterter Rückenbindung, eingerissenen Umschlägen, verschossenem Einband gehören zusammen, haben sie doch alle mit dem Gewerbe, der Flora und Fauna, den Jubiläen und Feiern, dem Militär, der Verwaltung, dem sozialen Aufbau und kulturellen Zusammenhalt der Donaumonarchie zu tun. Bin ich ein wenig ermüdet, setze ich mich gerne auf das weiße Sofa neben dem Standregal, hole ein beliebiges Buch heraus und lasse mich auf eine kurze Reise ins Weite geleiten.
Dann suche ich im roten »Baedecker Österreich-Ungarns« aus dem Jahr 1910 nach den Hotels und Gaststätten, in denen ich etwa auf dem Weg von Aussig über Teplitz nach Komotau hätte absteigen können. In Teplitz entscheide ich mich für das Hotel Kronprinz in der Bahnhofstraße 1, ein Haus, etwas günstiger als das gleichnamige Hotel unserer Vorfahren in Meran; den Tee nehme ich nicht im Café Central, sondern im Kursalon ein, weil seine drei »Lesesalons« von acht Uhr in der Früh bis 21 Uhr geöffnet sind. Die Stadt ist überhaupt das Richtige für mich, zumal »die 26—46° warmen alkalisch-salinischen Quellen, die schon den Bojern und Markomannen bekannt waren, hauptsächlich wirksam sind gegen Rheumatismus (jährlich über 6500 Kurgäste)«. Ich schließe mich dem empfohlenen Rundgang durch die Stadt an, spaziere durch den Seumepark mit dem Grab des 1810 in Teplitz verstorbenen Wanderers, Dichters, Reiseschriftstellers Johann Gottfried Seume (»Der Spaziergang nach Syrakus«), dann vorbei am Militär-Badehaus, der kath. Elisabethkirche, der Synagoge, der evang. Kirche (Gottesd. So. 9½) zum Kurpark (Konzert tägl. 7—8 Uhr morgens und So. 4½—6½).
Als ich vor einigen Jahren dem heutigen Teplice ziemlich nahe kam, überredete ich meine Reisegefährten, keinen Halt einzulegen, ich kannte die alte Kurstadt ja bereits von zu Hause. So fuhren wir weiter nach Duchcov, in das einstige Dux, mit seinem prächtigen Schloss, dessen gelb-orange Fassade vom tagelangen Regen ausgewaschen wirkte, als wir auf dem knirschenden Kies vom Marktplatz zum Eingang gingen. Graf Josef Karl von Waldstein hatte hier 1782 den alten, von Sittenwächtern und Gläubigern gejagten Giacomo Casanova als Bibliothekar eingestellt, doch Casanova, anfangs dankbar, in Sicherheit zu sein und ein geregeltes Einkommen zu haben, verlebte seine letzten Jahre griesgrämig und in ewigem Zank mit den Bediensteten des häufig abwesenden Grafen. Dass er dieser Düsternis seine lichten Memoiren abzutrotzen wusste, schrieb er selbst der Tatsache zu, dass er sie, umgeben von gehässigen Menschen und in einer kümmerlichen Existenz gefangen, einzig deswegen verfasste, um sich in der Erinnerung an die besseren, interessanteren Zeiten vor dem Wahnsinn zu retten. Im Schloss wurden wir durch einen besonderen Trakt, den Casanova-Flügel, geführt, von einer begabten Erzählerin und klugen Historikerin, die zuerst begeistert all die Mythen referierte, die sich um Casanova in Böhmen rankten, um sie dann selbst betrübt als historische Legenden abzutun. Am Ende geleitete sie uns, erwartungsvoll glucksend, in eine schummrige Kammer, in der wir erschrocken vor einer lebensgroßen hässlichen Wachsfigur innehielten, die am Schreibtisch saß und mit einer Feder schrieb, ein in grünen Samt gekleideter Greis mit kalkweißem Gesicht, der die Abenteuer seines Lebens festhält. In der Stadt, die 3000 Einwohner weniger zählte, als laut Baedecker 1910 dort lebten, war Casanova allgegenwärtig, denn natürlich war es das Café Casanova, in dem wir uns stärkten, ehe wir auf die Übernachtung im Hotel Casanova verzichteten.
Die Führung durch das Schloss von Dux hatte uns ermüdet, sodass wir in Komotau, dem heutigen Chomutov, erst gar nicht ausstiegen. Hier wurde 1899 Ernst Fischer geboren, der in seiner Jugend und im Alter rebellische, in seinen mittleren Jahren gegen sein Wesen und Wissen linientreue österreichische Kommunist, von dem ich zusammen mit L. H. vor mehr als einem halben Leben eine achtbändige Werkausgabe herausgab, die gleich zwei Verlage in den Konkurs trieb. Während Fischer tagsüber in politischen Gremien Dinge verfocht, von deren Richtigkeit und Wichtigkeit er gar nicht mehr überzeugt war, schrieb er nächtens Gedichte und Essays, die ihm selbst nicht ganz geheuer waren. Der Widerspruch zwischen dem revoltierenden Dichter und Intellektuellen und dem der Parteiräson verpflichteten Politiker hat ihn jahrzehntelang gequält; und als Verrat an sich selbst hat er es kurz vor seinem Tod bezeichnet, diesen Widerspruch allzu lange gleichsam nur verinnerlicht, in seiner eigenen Brust verschlossen zu haben und darüber herzkrank geworden zu sein.
Und doch hatte er seine Talente und Kräfte keineswegs nur für nutzlose Dinge vergeudet, für politische Ideale, die sich als Illusionen erwiesen, für Kämpfe, die nicht dem freien Menschen galten, sondern dem Sieg einer Partei, nicht einmal einer Partei, sondern deren Zentralkomitee, nicht einmal diesem, sondern dessen doktrinärem Politbüro, wie er später selbst feststellte. Gänzlich aus dem Gedächtnis Österreichs gelöscht sind seine mit gleich viel Wissen wie Leidenschaft verfassten Versuche, den von der nationalsozialistischen Ideologie verblendeten Österreichern ein anderes Bild ihres Landes zu zeigen, auf das sie sich im Akt der Selbstbefreiung beziehen sollten, ein Österreich, durch das sich die Spur der Revolte zieht und dessen Repräsentanten nicht die Jasager jedweden Regimes sind, sondern renitente Bauern, bildungshungrige und opferbereite Proletarier und jene Citoyens, die das Erbe der Aufklärung weitertrugen.
In einer im Exil geschriebenen, 1944 veröffentlichten Flugschrift, die den heute prekär anmutenden Titel »Die Entstehung des österreichischen Volkscharakters« trägt, hat er in großen Linien aus der Geschichte abgeleitet, warum Österreich kein deutscher Staat sei und seine historische Bestimmung katastrophal verfehlte, als es zur Ostmark des Deutschen Reiches degradiert wurde. Nichts anderes schwebte ihm vor, als eine österreichische Nation just aus ihrer ethnischen und kulturellen Vielfalt zu begründen. Die österreichische Nation war ihm ein begabtes Mischwesen, dessen kultureller und materieller Reichtum sich auch aus dem beständigen Zustrom fremder, zumal slawischer und romanischer Volksgruppen speiste, und dessen bösartige Fratze sich sogleich zeigte, wenn sie ihre eigene Herkunft verleugnete oder vergaß. Freilich, Nationen werden immer entworfen, indem sie sich gegen andere abgrenzen, und für Fischer war es das angemaßte oder wie selbstverständlich vorausgesetzte Deutschtum der Österreicher, das diese daran hinderte, ihren widersprüchlichen Charakter als Nation friedlich, demokratisch, selbstbewusst zu entfalten. Was immer Österreich war, es erwies sich für ihn gerade darin, dass es nicht Deutschland war. Fischer war in sudetendeutschem Kernland, in Komotau, an dem wir vorbeifuhren, geboren, als Erstgeborener eines k. u. k. Offiziers, der kurz darauf nach Graz abkommandiert wurde und den Sohn, wenn man dessen Zeugnis glauben mag, am Sterbebett ermahnte: Hüte dich vor den Juden und den Kommunisten! Selten hat ein väterlicher Rat weniger bewirkt als dieser.
Wären wir nicht erst jetzt mit dem Auto durch das nordböhmische Industrierevier gereist, sondern hundert Jahre vorher mit der Bahn, würde es sich gewiss als sinnvoll herausgestellt haben, wenn ich mich vorher im »Almanach der k. k. österreichischen Staatsbahnen« kundig gemacht hätte. Der Wälzer mit dem schwarzen Einband und dem goldenen Prägedruck enthält außer den regionalen und überregionalen Zugverbindungen Abertausende Namen, ein jeder, der bei den k. k. Staatsbahnen angestellt war, ist mit dem Standort, an dem er tätig war, der Art der Tätigkeit, die er leistete, dem Rang, den er dabei einnahm, und der Höhe seines Lohnes angeführt. Vom Sectionschef des Ministeriums in Wien, seiner Excellenz Ludwig Wrba, der 14.000 Kronen erhielt, über den Stationsmeister Josef Koblyha von der Staatsbahndirection Pilsen, der mit 1600 Kronen entlohnt wurde, bis zum Verschieber Friedrich Alt von der Direction Triest, der es in der untersten Gehaltsklasse auf 700 Kronen brachte, sind sie alle angeführt, die dafür arbeiteten, dass die Züge pünktlich durch das Riesenreich der Monarchie fuhren. Als ich das erste Mal in dem Almanach blätterte, geriet ich in Begeisterung darüber, wie transparent die vielgescholtene habsburgische Bürokratie war, die doch so oft als alles verschlingender Moloch geschildert und zur menschenfeindlichen Gegenwelt erklärt wurde, die sich erstickend über das Leben selbst gelegt hatte.
Wenn ich auf dem weißen Sofa Platz nahm und mich in eines der beschädigten Bücher des kakanischen Huldigungsregals verlor, war ich oft nahe daran zu vergessen, dass ich hier durch Legenden und Mythen reiste, die mit der Welt von gestern zu tun hatten, aber nicht deren ganze Wahrheit, sondern eben die Wahrheit ihrer Mythen und Legenden erzählten. Wie gut, dass sich unter die vielen Bücher der Verklärung einige geschwindelt hatten, die geschrieben wurden, um gewitzt, scharfsinnig, poetisch zu fragen, wie viel Propaganda sich in den Legenden vom schönen Völkerfrieden in der habsburgischen Abendsonne verbarg. Besonders angetan hatte es mir immer ein Buch mit weißem Umschlag, der einen Soldaten mit Bajonett und einen karikaturistisch gefassten Bürokraten zeigt, und das von einem amerikanischen Erfolgsautor österreichischer Herkunft, von einem Geistlichen, der dem Kloster sicherheitshalber gleich bis über das Meer entrann, verfasst wurde; von einem rätselhaften Mann zwischen den Welten, der seine Herkunft so konsequent zu mystifizieren wusste, dass die Leser um seine wahre Identität und die biographischen Sprünge und Kehren bis zu seinem Tod nichts wussten.
Carl Anton Postl wurde 1793 in einem mährischen Weinbauerndorf geboren, studierte in Prag und trat als Mönch in das an der Karlsbrücke gelegene Kloster der Kreuzherren ein. Als er einige Jahre später aus ihm austreten wollte, musste er flüchten, denn so einfach war es damals nicht, seine geistliche Bestimmung einfach zu widerrufen. Mit gefälschten Papieren gelangte er nach Le Havre, von wo er sich nach New Orleans einschiffte. Er wechselte den Namen, nannte sich zuerst C. Sidons, dann Charles Sealsfield und schrieb Reiseskizzen und Romane in englischer wie deutscher Sprache, von denen nicht nur das berühmte »Kajütenbuch« hohe Auflagen erreichte. Noch bevor er seine vielgelesenen Abenteuerromane schrieb, die den amerikanischen Kontinent für die europäische Literatur entdeckten, veröffentlichte er in englischer Sprache anonym ein aufsehenerregendes Buch, »Austria as it is«, das die österreichischen Zensurbehörden in helle Aufregung versetzte. Das weiße Buch, das ich in Händen und Ehren halte, ist die erste vollständige Übersetzung ins Deutsche, sie erschien fast neunzig Jahre nach der englischen Originalfassung, 45 Jahre nach dem Tod des Verfassers, unter dem Titel »Österreich, wie es ist«.
Wie ist, wie war Österreich? In sieben Kapiteln, die von einer Reise durch Österreich als dem Reich der Finsternis berichten, zeichnet der Anonymus das Bild einer festgefügten Despotie, die gleichermaßen den historischen Fortschritt verhindert und das Glück seiner Untertanen zerstört. »Die Erziehung der Jugend, die Verwaltung, die Geheimpolizei, kurz alles, vereinigt sich hier, um politische und sittliche Verwüstung anzurichten.« Kaiser Franz, der Alleinherrscher, verlangte von seinen Untertanen, ob Fürst oder Knecht, blinden Gehorsam und hat in seiner langen Regierungszeit in diesen »alles Ehrgefühl und jede bessere Regung einfach erstickt« und »Rechtschaffenheit, Moral, Religion und Rechtsbewusstsein untergraben«. Seine Herrschaft ruhte auf der Geheimpolizei, dem Militär — und dem riesigen Heer von Beamten: »800 Meilen von der Hauptstadt kann eine alte Schulbank nicht ohne Bewilligung des Kreishauptmanns hergerichtet werden. Sodann muss darüber eine Rechnung an die Landesstelle, von dort an die Hofstelle und schließlich an den Staatsrat ergehen, welcher den Akt Seiner Majestät vorlegt.«
Unerbittlich ist die Anklage, die der nach Amerika entkommene Österreicher an der Monarchie übt, aber »Austria as it is« ist nicht nur eine politische Kampfschrift, sondern auch eine kunstvoll komponierte Reiseerzählung, in der die unberührte Landschaft und der kulturell geformte städtische Raum geradezu inszeniert werden. Auch durch Teplitz war der Reisende gekommen, die »elegante Stadt«, in der sich russische, englische, preußische, österreichische Aristokraten zum Kuren trafen, gefiel ihm sehr; doch selbst in ihr trieben sich die kaiserlichen Spione herum, sodass sich weder in den Salons noch auf den Straßen unbeschwerte Gespräche ergeben konnten.
Sealsfield schrieb nach diesem bald grimmigen, bald episch ausschwingenden Buch viele Reiseskizzen und Romane, deren verbindendes Thema das Reisen in Raum und Zeit war, das Erfahren der Zeit im Raum und des Raumes durch die Zeit. Verehrer wie Kritiker spielten lange den Publizisten gegen den Romancier aus und wussten nichts Gescheites mit der Tatsache anzufangen, dass er sich als kämpferischer Publizist erzählender Mittel bediente und als Erzähler seine Romane stets auf historischen Fakten aufbaute. Doch war der Gegensatz sowohl lebensfremd als auch kunstfern konstruiert, wie Sealsfield auch stets Fakten und Fiktionen ineinander verwob, ob er sich nun dieses oder jenes Genres bediente.
Er war in die USA geflüchtet, nach Europa zurückgekehrt, wieder in die USA gegangen, erneut nach Europa, in die Schweiz gezogen und noch ein weiteres Mal übers Meer und wieder zurückgefahren. Sein Leben hatte etwas Unstetes, als wäre er in drei Ländern nicht zu Hause gewesen, in Österreich, den USA, der Schweiz. Bis zu seinem Tod im Mai 1864 trachtete er die Identität von Carl Anton Postl und Charles Sealsfield zu verschleiern. Warum? Was die Verbreitung, Übersetzung, Honorierung seiner Werke anbelangt, handelte er kalkuliert und äußerst professionell, doch als Mensch des 19. Jahrhunderts war er auf die Mystifikation sicher nicht gekommen, weil er auf eine ungewohnte Marketingstrategie setzen wollte. War es der lange Schatten, den die Verfolgung durch Metternichs Geheimpolizei über sein ganzes Leben warf? Wollte er seine mährische Herkunft abstreifen und nichts sein als der »Citizen of the United States«, als den er sich vor den Behörden immer ausgab? Oder liebte er auch im Privaten das Spiel der Phantasie, das Verweben von Fiktionen und Fakten? Oft habe ich mir vorgenommen, in die Schweiz zu fahren und ihn auf dem Friedhof von Solothurn zu besuchen. Warum? Sein Grabmal wird mir das Geheimnis nicht verraten, an dem er wie an seinem Lebenskunstwerk baute.