ls die Königin erwachte, blieb sie noch einen Moment still liegen. Sie war sich sicher, etwas gehört zu haben, ein Rascheln an der anderen Zimmerwand. Einmal war der Palast während eines besonders kalten Winters von Ratten befallen gewesen. Man hatte sie mit Giftködern ausgerottet, aber vielleicht waren sie zurückgekehrt.
Tatsächlich, das waren sie.
Die Lippen der Königin verzogen sich zu einem kalten Lächeln. Jeden Tag verließen immer mehr ihrer Angestellten den Hof. Der Thronsaal war seit einer Woche nicht gereinigt worden, da die meisten Bediensteten aus dem Palast verschwunden waren. Die Hälfte ihrer Leibwache war nicht auffindbar. Ghislaine, der Captain ihrer Garde, war der einzige Grund, warum die Königin überhaupt noch wagte zu schlafen; in diesem Moment wachte er vor ihrer Schlafzimmertür. Aus der Stadt drangen entfernte Kampfgeräusche zu ihr. Demesne war in Anarchie versunken.
Da, wieder ertönte das seltsame Rascheln.
Die Königin fluchte leise und griff nach ihrer Kerze. Sie schlief sowieso kaum nachts; es war leichter, tagsüber im Hellen zu schlafen. Es war eiskalt im Zimmer, die vielen zerbrochenen Fenster im Palast sorgten für ständige Zugluft. Vor drei Wochen hatte der König von Cadare zum ersten Mal seit zwanzig Jahren seine Lieferung ausfallen lassen. Allein der Gedanke brachte das Blut der Königin zum Kochen. Der alte Bastard hatte ihre Schwäche gespürt, und die Königin, die sich jahrelang keine Sorgen wegen Cadare machen musste, hatte plötzlich ein Problem an der Südgrenze ihres Landes. Glas, das früher einmal billiger als Nahrungsmittel auf den Straßen von Demesne gewesen war, wurde zu einem unerschwinglichen Luxus. Die Königin, die einmal das am besten isolierte Schlafzimmer des gesamten Königreichs besessen hatte, zitterte jetzt unter ihren Decken. Die Schatzkammer konnte kein Geld für die Erneuerung der Fenster entbehren. Die kalte Luft des Frühwinters drang ungehindert in das Gebäude ein, genauso wie Ungeziefer sich darin breitmachen konnte.
Die Königin fand die Streichhölzer, setzte sich auf und entzündete die Kerze. Ihr Schlafzimmer sah aus wie immer mit seinen roten Wänden und den roten Möbeln. Nach dem vom dunklen Geschöpf ausgelösten Feuer im Sommer hatte ein Großteil der Einrichtung ausgetauscht werden müssen, doch ihre Leute hatten wundervolle Arbeit geleistet und das Zimmer fast genau wie vorher erschaffen. Wo waren sie jetzt eigentlich? Wahrscheinlich geflohen, um sich Levieux und seiner Bande aus Verrätern anzuschließen. Ein Bürgerkrieg tobte in Demesne, und an manchen Tagen konnte die Königin sich einreden, dass sie gewinnen würde. Doch die meiste Zeit wusste sie, dass diese Hoffnung vergeblich war.
So fühlt sich der Sturz also an, dachte die Königin und legte einen Morgenmantel um. Als Kind hatte sie die Geschichtsbücher studiert; ihre Erzieherin Wright hatte sie gezwungen, viele Seiten über den Sturz von Diktatoren auf der ganzen Welt zu lesen. Nirgends hatte jedoch gestanden, wie ermüdend diese Erfahrung war, beinahe schon einschläfernd. Sie kämpfte gegen einen unsichtbaren Feind, einen, der seine Siege nicht verkündete, sondern sich lautlos in die Nacht zurückzog. Die Stadt wurde nach und nach von Levieux und seinen Rebellen eingenommen, und die Königin erfuhr erst von den einzelnen Überfällen, nachdem diese verübt worden waren. Sie fühlte sich zunehmend gelähmt, war es doch leicht, so verdammt leicht, einfach hier zu sitzen, sich zu verbarrikadieren, sich an Krone und Thron zu klammern, bis jemand kam und sie ihr wegnahm.
Auf ihrem Nachttisch lagen die beiden Tearsaphire und glänzten leicht im Kerzenlicht. Während die Königin sie betrachtete, hörte sie die Stimme des Mädchens im Kopf: Ihr habt verloren.
Ja, sie hatte verloren. Was auch immer das Mädchen getan hatte, sie hatte es gut gemacht. Die Saphire waren gebrochen, genau wie Ducarte. Als die Königin zu Bett gegangen war, hatte sich Ducarte mit einigen Generälen getroffen. Von außen sah es wie eine Strategiebesprechung aus, doch die Königin wusste, was die Männer taten: Sie versteckten sich. Alle Generäle wurden gejagt, denn es war allgemein bekannt, dass sie sie aus der Schatzkammer entschädigt hatte. Wenn die gemeine Armee jemanden aus der Kommandantur in die Finger bekäme, wäre dessen Schicksal nicht angenehmer als ihres.
Wieder das Rascheln.
Seufzend steckte die Königin die Saphire in die Manteltasche und ging auf Zehenspitzen ans andere Raumende. Wenn hier eine Ratte war, würde sie sie töten. Sie konnte sich nirgends verstecken, außer unter dem Bett oder dem Sofa. Als Kind hatte sie immer Ratten umgebracht, um sich die Zeit zu vertreiben, wenn man sie allein gelassen hatte.
Evie!
Sie legte die Finger an die Schläfen und drängte die Stimme zurück. In letzter Zeit schien sie allerdings nicht mehr Herrin über ihren Geist zu sein. Die Stimme ihrer Mutter lauerte ständig im Hintergrund, einschüchternd, kritisierend, anklagend. Das Mädchen hatte die Schöne Königin aufgeweckt, und sie würde so schnell nicht wieder einschlafen. Der Zimmerboden war eiskalt unter den Füßen der Königin, und sie suchte nach ihren Pantoffeln, bis sie sie unter dem Tisch fand. In der Mitte des Raumes hörte sie das Rascheln wieder, direkt über ihrem Kopf.
Evie!
Als die Königin aufblickte, gefror ihr das Blut in den Adern.
Ein kleines Mädchen hing an der Decke, die dünnen Gliedmaßen weiß und blutleer. Es schien mit seinen schmutzigen Fingern wie ein Insekt am Holz zu kleben, den Rücken der Königin zugekehrt. Das dunkle Haar hing nach unten, und das Kind war in Lumpen gekleidet.
Die Königin zwang sich, tief durchzuatmen, so tief, dass ihre Muskeln sich entspannten. Dann wich sie zur Wand zurück, doch das Mädchen folgte ihr über die Decke wie eine Spinne. Das Rascheln stammte von den Knien des Kindes, die über das Holz strichen. Es erreichte die Kante zwischen Decke und Wand und krabbelte nach unten. Wieder dachte die Königin an eine Spinne, nicht die Netzspinnen aus dem Süden von Mortmesne, sondern die Jagdspinnen der Fairwitchausläufer, die ihre Beute minutenlang durch Gräser und über Felsen verfolgten. Zuerst bewegten sie sich langsam, doch wenn sie ihre Beute in die Enge getrieben hatten, waren sie blitzschnell.
Die Königin ging rückwärts zu ihrem Tisch, wobei sie das Mädchen nicht aus den Augen ließ. In der obersten Schublade bewahrte sie ein Messer auf, auch wenn sie nicht wusste, ob es ihr in dieser Situation nützlich sein würde. Das Kind gehörte dem dunklen Geschöpf; sie sah die Ähnlichkeit in der seltsamen, sich verändernden Gestalt, die nicht fest war. Fast, als wäre sie nicht real. Die Königin, die fähig war, das Innere eines Mannes auf hundert verschiedene Arten nach außen zu kehren, fand keinen Punkt im Körper des Mädchens, wo sie ansetzen konnte. Wenn sie es mit ihrem Geist nicht greifen konnte, dann würde eine Waffe kaum mehr bewirken, aber ein Messer war besser als nichts. Sie wühlte in der Schublade, schob Papier, Stifte und andere Dinge beiseite auf der Suche nach der scharfen Klinge. Sie versuchte, sich an ihre Gespräche mit dem dunklen Geschöpf zu erinnern, damals, als sie noch Verbündete gewesen waren … oder als die Königin ihm noch nützlich gewesen war. Da war nicht viel. Das dunkle Geschöpf hatte ihr viel beigebracht, doch es hatte nie etwas von seiner eigenen Geschichte preisgegeben, der Verwandlung, die hinter seiner jetzigen Gestalt lag.
Das Mädchen hatte den Boden erreicht und stellte sich auf die Füße. Die Königin schauderte, als sie plötzlich die Lumpen erkannte: Überreste einer blauen Uniform, die früher einmal als Bekleidung für versteigerte Sklaven gedient hatte. Das war aber über vierzig Jahre her, lange vor Broussards Amtszeit als Auktionator. Das Kind musste zu einer der ersten Gruppen gehört haben, die man nach Norden ins Fairwitchgebirge geschickt hatte. Damals, als eine sehr viel jüngere Königin von Mortmesne noch dachte, sie könnte das dunkle Wesen beschwichtigen, ihn mit obdachlosen Kindern von den Straßen der Stadt bestechen. Die Augen des Mädchens waren dunkel und leer, und es sprach mit heiserer Stimme, als hätte es lange Zeit geschwiegen.
»Ich will nicht gehen«, krächzte die Kleine. »Zwing mich nicht, auf den Wagen zu steigen.«
Die Königin flüchtete sich hinter das Sofa. Wieder versuchte sie vorsichtig, mit ihrem Geist in das Mädchen zu dringen, und stellte fest, dass sie recht gehabt hatte: Das Kind war wie das dunkle Geschöpf – ihr Körper eine amorphe Masse, die wie ein Bienenstock summte. Die Königin warf einen Blick auf ihre Kerze, fragte sich, ob das Mädchen wohl brennen würde … Nein, nichts, was dem dunklen Wesen gehörte, könnte durch Flammen verletzt werden.
»Ich will zu meiner Maman«, sagte das Kind traurig. »Wohin fahren wir?«
»Du bist kein Geist«, entgegnete die Königin. »Du bist ein Bauer. Er hat dir aufgetragen, diese Worte zu sagen.«
Das Mädchen sprang über den Rand des Sofas, was die Königin wieder an eine Jagdspinne erinnerte. Die Körpergröße des Mädchens war irreführend und hatte die Königin dazu verleitet, Geschwindigkeit und Reflexe eines Kindes zu erwarten. Sie wich zurück, stolperte beinahe über den Saum ihres Nachthemdes, und das Mädchen stürzte mit hungrigem Gesichtsausdruck auf sie zu. Plötzlich erinnerte sich die Königin an eine lange Nacht draußen im Fairwitchgebirge, die hohen Schneewehen, den Wind, der unerbittlich über die eisige Landschaft wehte. Das dunkle Geschöpf hatte sie in Feuer gehüllt, sie gewärmt, und die Königin hatte erstaunt festgestellt, dass sie zwar von Flammen umgeben war, aber keinen Schmerz spürte. Sie hatte die Flammen berühren wollen, doch das dunkle Wesen hatte ihre Hand gepackt.
Lass dich nicht von der Atempause in die Irre führen, hatte es gesagt. Am Ende brennen wir alle.
»Brennen«, flüsterte die Königin nachdenklich. Ihre ganze Bekanntschaft mit der Waise basierte auf Feuer, das beherrscht wurde, doch jetzt schlugen die Flammen über ihr zusammen.
Sie drehte sich um und rannte auf die Tür zu; das Mädchen lief hinter ihr her. Sie riss die Tür auf und schlüpfte hindurch, doch dann packte etwas ihre Hand wie einen Schraubstock, und sie schrie auf, als sich die Zähne des Kindes in ihr Handgelenk bohrten. Auf dem Sofa neben ihrer Zimmertür lag Ghislaine, tot und kreidebleich. Die Polster unter ihm waren blutdurchtränkt.
Wir werden alle brennen.
»Noch nicht«, knurrte die Königin. Sie riss den Arm nach vorn, schlug den Kopf des Mädchens gegen den Türrahmen und spürte, wie die Zähne ihr Fleisch freigaben. Dann rannte sie den Korridor entlang Richtung Audienzsaal, das Mädchen dicht hinter ihr her. Der Flur erstreckte sich endlos und leer vor ihr.
Was soll ich nur tun?, dachte die Königin. Sie erkannte die Stimme beginnender Panik, war jedoch machtlos dagegen.
Wo sind nur alle?
Durch die offene Tür zu ihrer Linken sah sie einige ihrer Generäle an der gegenüberliegenden Wand aufgehäuft, die Gliedmaßen verrenkt, als hätte man sie einfach dort hingeworfen. Blut hatte sich in Pfützen auf dem Boden gesammelt.
Ich habe überhaupt nichts gehört, dachte die Königin beinahe bewundernd, bevor das Mädchen den wehenden Saum ihres Morgenmantels packte und die Königin plötzlich nach hinten gerissen wurde. Sie kam mit einem schmerzhaften Schlag auf dem Boden auf. Das Mädchen sprang kichernd auf ihren Brustkorb, mit dem Lachen eines Kindes, das ein besonders schönes Spiel spielte. Die Königin umklammerte die Kehle des Mädchens und hielt es von sich, doch das Kind war stärker als ein Mann und befreite sich aus dem Griff. Die Königin beschwor alles an Kraft herauf, was sie noch besaß, und schob das Mädchen von sich herunter, schleuderte es über den Korridor gegen die Wand, doch schon einen Moment später war das Kind zurück, die weißen Zähne im schmutzigen Gesicht gefletscht. Es wirkte nicht einmal benommen.
Ich kann nicht gewinnen, erkannte die Königin. Sie spürte, wie die Kraft sie verließ. Aus der Wunde an ihrem Handgelenk quoll Blut; sie presste es auf Taillenhöhe gegen ihren Morgenmantel, um die Blutung zu stoppen. Da ertastete sie etwas Hartes und Unnachgiebiges in ihrer Tasche: die Tearsaphire.
»Es macht Spaß, dich zu jagen«, lispelte das Mädchen, dessen Augen nicht mehr ausdruckslos, sondern voller Leben waren und voll dunkler Freude funkelten, die fast schon an Wahnsinn grenzte. »Viel mehr Spaß als bei den anderen.«
Die Königin rappelte sich auf und rannte weiter den Korridor entlang, dicht gefolgt von dem kichernden Mädchen. Sie stürzte durch eine Verbindungstür, schlug sie hinter sich zu und rannte keuchend weiter. Als sie hinter ihr splitterndes Holz hörte, hatte sie beinahe den Thronsaal erreicht, dessen Tür aus solidem Mortstahl geschmiedet war mit dazugehörigem Riegelschloss. Es würde nicht ewig halten, ihr jedoch eine Atempause verschaffen, Zeit, sich die nächsten Schritte zu überlegen. Sie stolperte ungeschickt und nach Luft ringend durch die Tür, schlug diese hinter sich zu und schob den Riegel vor.
Da hörte sie ein unterdrücktes Keuchen, und als sie sich umdrehte, sah sie ein ineinander verschlungenes nacktes Paar, das ihre Anwesenheit nicht bemerkte.
»Auf meinem Thron«, sagte die Königin leise, ihre Stimme wurde jedoch bis in die letzte Ecke des Raumes getragen. Die Frau blickte auf; es war Juliette, deren Stirn schweißbenetzt war.
»Majestät«, stammelte sie.
»Auf meinem Thron!«, kreischte die Königin, Verletzungen und Schwäche waren vergessen, sogar das Kind. Mithilfe ihres Geistes schleuderte sie Juliette gegen die nächste Wand. Juliettes Wirbelsäule brach, und die Kammerzofe fiel mit einem letzten Zucken tot zu Boden.
Die Königin wandte sich an den Mann, der sich auf dem Thron zusammengekauert hatte, um seine Geschlechtsteile zu schützen. Der Anblick war so jämmerlich, dass die Königin lachen musste. Sie hielt den Mann für einen der Palastwachen, war sich jedoch nicht sicher, und außerdem war er so unbedeutend, dass die Königin nicht einmal ihre Wut wiederbeleben konnte. Normalerweise wäre der Thronsaal voll besetzt mit Wachen gewesen, selbst mitten in der Nacht. Jetzt jedoch nicht. Die Königin ignorierte den Mann, der vom Thron kletterte und sich dahinter versteckte. Verängstigt blickte er über die Armlehne. Die Königin sah zu Juliette und fühlte kurzes Bedauern; selbst sie wäre eine bessere Hilfe gewesen, als überhaupt keine zu haben.
Ein donnernder Schlag ließ die Stahltür erzittern. Die Königin sah sich panisch nach einer Waffe um, nur um die Sinnlosigkeit dieses Versuchs zu erkennen; kein Schwert würde etwas gegen das Mädchen ausrichten können. Selbst ihre Magie reichte hier nicht. Sie griff in ihre Tasche und holte die Tearsaphire hervor; vielleicht würden sie in dieser gefährlichen Situation zum Leben erwachen … Doch nein, die Macht der Steine lag so weit außerhalb ihrer Reichweite wie immer. Nur ein Mensch wusste, wie man sie benutzen konnte.
Ein weiterer Schlag gegen die Tür, der einen langen Riss im Stahl zurückließ. Die Königin flüchtete sich durch die großen Doppeltüren in den breiten Gang, der zum Haupttor führte. Durch das Tor konnte sie nicht fliehen, ein riesiger Mob hatte sich seit Tagen vor dem Palast versammelt, der sie wahrscheinlich in Stücke reißen würde, wenn er die Gelegenheit dazu bekäme. Es gab aber andere Wege aus dem Schloss; die Königin hatte sich in weiser Voraussicht auf diesen Tag vorbereitet, auch wenn sie geglaubt hatte, er käme nie.
Du läufst weg, flüsterte ihr Geist, während sie mit bloßen Füßen über den Steinboden des Flures rannte. Die Königin knurrte bei diesem Gedanken, doch sie konnte es nicht leugnen. Sie lief ja tatsächlich weg, floh vom Sitz ihrer Macht, dem Palast, den sie Ziegel für Ziegel aufgebaut hatte. Die Bauarbeiten hatten über fünfzehn Jahre gedauert, und sie hatte dem Architekten, einem Mann namens Klunder, eine lebenslange Pension für seine Arbeit gewährt. Der Palast war nicht nur der Sitz ihrer Regierung, sondern so viel mehr: An diesem Ort hatte sie ihre Kindheit vergessen, ihr Leben in Tearling abgewaschen und ihre Geschichte neu aufbauen können. Sie konnte nicht glauben, wie schnell der Sturz eingetreten war.
Hinter der nächsten Ecke schrie ein Mann, und Kampfgeräusche ertönten, gedämpft von den dicken Steinmauern. Die Königin wurde langsamer und blickte sich um. Vor ihr lag nur ein langer, leerer Korridor, der bis auf vereinzelte Fackeln dunkel war. In der Ferne und doch ganz nah hörte sie das hohe, glückliche Lachen eines Kindes.
Es gab keinen Ausweg.
Die Königin begann keuchend wieder zu rennen. Als sie um die Ecke bog, blieb sie abrupt stehen.
Etwa fünf Meter vor ihr versuchte Ducarte verzweifelt, zwei Kinder von sich abzuschütteln, und prallte dabei immer wieder gegen die Wand. Ein Junge und ein Mädchen hatten ihre Gliedmaßen wie Schlangen um ihn gewunden, ihre Hände und Arme schienen überall zu sein. Ducarte schrie, als das Mädchen die Zähne in seinen Nacken schlug. Die Königin war wie erstarrt, versuchte zu begreifen, was sich vor ihren Augen abspielte. Tranken diese Kinder Blut? Dann ertönte wieder das helle Lachen, und die Königin wirbelte herum. Hinter ihr war nichts zu sehen, doch das Geräusch war ganz in der Nähe gewesen.
Ducarte sank auf die Knie, und der Junge gab einen tiefen, knurrenden Laut von sich, das zufriedene Grunzen eines Tieres, das seine Beute erlegt hatte. Die Königin konnte nicht ewig vor diesen Kindern davonlaufen; sie waren einfach zu stark. Auch wenn die verstreuten Berichte aus dem Norden von Mortmesne im letzten Monat immer absurder geworden waren, waren sie sich in einem Punkt alle einig gewesen: Diese Wesen waren zu viele, um sie zurückzudrängen. Die Königin brauchte Hilfe, und ihr einziger Verbündeter starb vor ihren Augen.
Du hast verloren.
Die Königin riss die Augen auf. Sie hätte gedacht, es gäbe keinen Ausweg mehr, aber das stimmte nicht. Neue Kraft brandete durch ihren Körper bis in ihre Beine. Sie überließ Ducarte seinem Schicksal, wandte sich nach rechts und rannte die nächste Treppe hinunter zu den Kerkern.
Ihr Zellennachbar wusste mehr über Naturwissenschaften und Technik als jeder andere, den Kelsea in ihrem Leben kennengelernt hatte, darunter auch Carlin. Sein Name war Simon, und er war seit seinem sechzehnten Lebensjahr ein Sklave. Nach seiner Ankunft in Mortmesne war er oft verkauft worden und musste überall schwere körperliche Arbeit leisten, bis sein fünfter Besitzer endlich sein Talent fürs Bauen und Reparieren von Dingen erkannte. Als Nächstes war er an einen Wissenschaftler verkauft worden, der Waffen für die Mortarmee entwarf. Der Mann – von dem Simon mit echter Zuneigung sprach – hatte seinen Sklaven auch an Kollegen ausgeliehen, die ihm alle etwas beigebracht hatten. Elementare Physik, ein wenig Chemie, selbst die Eigenschaften von Pflanzen, ein Fachgebiet, auf dem sich Simon genauso gut wie Barty auszukennen schien. Er war schon bald besser als sein neuer Herr gewesen und hatte komplexere Offensivwaffen entworfen. Es hatte nicht lange gedauert, bis er die Aufmerksamkeit der Roten Königin erregt hatte.
»Die Fußgängerbrücken?«, fragte Kelsea. »Die Plattformen, mit denen die Mort den Fluss überquert haben. War das dein Entwurf?«
»Das war eine Gruppenleistung«, antwortete Simon. »Der Entwurf stammte von mir, doch ich benötigte die Hilfe eines Physikers, um Gewichtverhältnisse und Hebel berechnen zu können. Meine Talente liegen im Praktischen, nicht im Theoretischen.«
»Und doch hast du eine Druckerpresse geschaffen«, sagte Kelsea bewundernd.
»Es ist nur eine ganz einfache, handbetriebene Presse. Wenn sie gut funktioniert, kann sie immerhin zwanzig Seiten in der Minute drucken. Der Ausstoß pro Stunde ist etwas schlechter, da man noch Zeit zum Laden der Platten einrechnen muss. Und jede Seite braucht einige Minuten zum Trocknen. Eines Tages wird ein besserer Mann als ich Tinte erfinden, die nicht verschmiert.«
»Zwanzig Seiten in der Minute«, wiederholte Kelsea schwach. Der Mann auf der anderen Seite der Mauer erschien ihr plötzlich wertvoller als alle Juwelen von Cadare.
Obwohl es mitten in der Nacht war, war Kelsea seit mehr als zwei Stunden wach. Die Kammerdienerin Emily saß vor ihrer Zelle Wache. Es war fast, als säße Mace dort, abgesehen davon, dass Emily eingeschlafen war, das Messer fest in der Hand.
Kelsea dachte wie so oft fieberhaft über die Tearsaphire nach. Was waren das wirklich für Steine? Warum konnte sie sie zum Leben erwecken, die Rote Königin jedoch nicht? Der Stein mit dem eingeschlossenen Saphir aus Katies Zeit lag leblos in Kelseas Schoß. Sie hatte das Gefühl, einer Antwort sehr nahe zu sein, doch jedes Mal, wenn sie sie zu fassen versuchte, huschte sie außer Reichweite. Der Kerker machte ihr zu schaffen, beeinträchtigte ihre Fähigkeit, kritisch zu denken. Nach ein paar Monaten hier unten konnte man wahrscheinlich gar keinen klaren Gedanken mehr fassen. Wütend trat sie gegen die Gitterstäbe. Sie hasste sie, hasste die Rote Königin, den Palast, dieses verfluchte Land, alle, die dafür verantwortlich waren, sie von ihrer Heimat fernzuhalten.
»Du wirst dir noch den Fuß brechen, wenn du so weitermachst«, meinte Simon sanft. Kelsea zog den Fuß mit einem leisen Fluch unter den Körper. Sie spürte, dass ein Sturm aufzog – ob dies in der Gegenwart geschah, der Zukunft oder der Vergangenheit, war unklar. William Tears Stadt begann zu zerfallen.
Kelsea sah nachdenklich auf den Stein in ihrem Schoß. So viel Saphir durchzog den Boden von Tearling; handelte es sich immer um dieselbe Art? Und spielte das überhaupt eine Rolle? Tear hatte diesen Stein verstanden, hatte seine Macht so viel besser kontrollieren können als Kelsea, und er hatte trotzdem nicht seine Stadt oder seinen Sohn retten können. Noch ein paar Jahre, und der Junge mit den dunklen Augen, der für alle nur das Beste wollte, würde tot sein.
Wie war Jonathan Tear gestorben?
Kelsea wusste nicht warum, doch manchmal hatte sie das Gefühl, das alles von dieser Frage abhing. Row Finn war der offensichtlichste Verdächtige; im Gegensatz zu Katie konnte Kelsea eins und eins zusammenzählen. Geschändete Leichen, gestohlenes Silber, Rows übermäßiges Interesse an Tears Saphir … Kelsea hätte ihr Königreich verwettet, dass die zweite Tearkette den geschickten Händen Rows entstammte, doch das war nicht alles. Im Dunkeln der Stadt schmiedete Row finstere Pläne. Katie wollte nicht darüber nachdenken, Kelsea jedoch schon.
Wer hat Jonathan Tear umgebracht?
Kelsea runzelte die Stirn. Sie wünschte, sie könnte Katies Erinnerung beschleunigen, doch egal ob mit oder ohne Saphiren, das hatte sie noch nie gekonnt. Sie konnte nur zuschauen und warten. Sie fragte sich, ob sie die Kraft hätte, Katie Row Finn töten zu lassen, bevor es zu spät war. Katie und Kelsea waren nämlich nicht immer getrennt; manchmal vermischten sie sich auf die Art, an die sich Kelsea von den letzten verzweifelten Momenten mit Lily erinnerte. Nein, diese Lösung kam ihr zu einfach vor. Row machte sich eine Welle von Unzufriedenheit und Angst in der Stadt zunutze, aber war er tatsächlich die Ursache? Kelsea glaubte es nicht. Ein Teil von ihr wollte Row dennoch töten, einfach aus Prinzip, obwohl sie wusste, wer da aus ihr sprach: die Pik-Königin, die ständig versuchte, sich Zutritt zu ihrem Geist zu verschaffen. Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, es machte keinen Unterschied; dieser Teil von Kelsea wäre überglücklich, durch die Neue Welt zu rennen und grinsend mit einer Sense Gerechtigkeit walten zu lassen.
»Nein«, flüsterte Kelsea.
»Du bist ganz schön still geworden da drüben«, hörte sie Simons Stimme. »Habe ich dich so gelangweilt, dass du eingeschlafen bist?«
»Nein«, erwiderte Kelsea langsam und fügte dann nachdenklich hinzu: »Simon, darf ich dich etwas fragen? Wenn du die Möglichkeit hättest, in die Vergangenheit zu reisen und ein Verbrechen zu verhindern, würdest du es tun?«
»Ah, die alte Frage.«
»Tatsächlich?«
»Ja, mit einer deutlichen Antwort. Physiker betrachten es unter dem Aspekt des Schmetterlingseffektes.«
»Was ist das?« Kelsea wusste nicht, warum sie diesen Gedanken verfolgte; Row zu töten war keine Antwort auf die Probleme der Stadt. Laut den Geschichtsbüchern waren die Tearmorde das Problem, und es gab keine Garantie, dass die Tötung Rows diese verhindern würde. Sie wünschte, sie könnte alles auf einmal sehen.
»Ich habe nur ein Buch zu dem Thema gelesen«, erklärte Simon. »Der Schmetterlingseffekt bedeutet, dass bereits winzige Abweichungen sich mit der Zeit verstärken können. Man spielt nicht mit der Vergangenheit, denn die Änderung, die man zum Besseren durchgeführt hat, wird so viele unvorhergesehene Folgen haben, dass am Ende alles zusammenbrechen könnte. Es sind zu viele Variablen, um das Ergebnis kontrollieren zu können.«
Kelsea dachte einen Moment darüber nach. Simon hatte ein wissenschaftliches Argument angebracht, darunter lag jedoch die moralische Frage: ob sie überhaupt das Recht hatte, die Zukunft manipulieren zu wollen. In den wenigen Monaten auf ihrem Thron hatte sie viele Entscheidungen getroffen, manche gut, manche katastrophal. Zwei Kelseas kämpften in ihr: das Kind, das von Barty und Carlin dazu erzogen wurde, an das Gute und das Böse zu glauben, aber auch die Pik-Königin, die alles in Grauschattierungen sah. Und der Moralfragen völlig egal waren.
»Du hast meine Frage nicht beantwortet, Simon. Was würdest du tun?«
»Du meinst, ob ich das Risiko eingehen würde, dass daraus etwas noch Schlimmeres entstehen könnte?«
»Ja. Wäre das Spiel lohnenswert?«
»Ich glaube, das Ergebnis hinge vollständig von den Umständen ab. Wir reden hier vom Spiel der Spiele, bei dem man alles setzt und auf einen reichen Gewinn aus ist, der sich selbst bei einem Sieg nicht einstellen könnte. Ich bin kein Spieler. Ich glaube nicht, dass ich es riskieren würde.«
Kelsea setzte sich auf die Fersen und nickte. Sie verstand das Argument. Selbst wenn es ihr irgendwie gelänge, Row Finn zu töten, könnte ein anderer Row einfach seinen Platz einnehmen. Macht war ein zweischneidiges Schwert; Kelsea tat dadurch nicht unbedingt das Richtige, und man denke nur an die katastrophalen Folgen bei einer falschen Entscheidung … Sie schloss die Augen, und da war Arlen Thorne wieder mit seinem blutüberströmten Gesicht.
»Das Gespräch hat eine seltsame Wendung genommen«, sagte Simon. »Darf ich fragen …«
Ein hohler Schlag dröhnte durch den Kerker. Emily schreckte hoch und sprang auf die Füße. Kelsea vermutete, dass es ihr, ähnlich wie Mace, unangenehm war, beim Schlafen erwischt zu werden. Sie hob das Messer und blickte Richtung Korridorende.
»Sind sie es?«, fragte Kelsea. Wenn Mace wirklich einen Rettungsversuch plante, würde es Emilys Anwesenheit hier unten mitten in der Nacht erklären.
»Nein.« Emily schüttelte den Kopf. »Über einen Tag zu früh.«
Eine Salve klirrender Schläge dröhnte durch den Gang. Es klang, als würde ein Kind Topfdeckel gegeneinanderschlagen, und das Geräusch hallte ohrenbetäubend durch den Kerker. Kelsea legte die Hände auf die Ohren, bis wieder Stille einkehrte.
»Ist das ein Mob?«, fragte Simon aus seiner Zelle.
Kelsea hob fragend die Augenbrauen und sah Emily an, die jedoch den Kopf schüttelte. Laut der Kammerdienerin war der Palast mittlerweile von einem Mob umgeben, den Levieux zusammengestellt hatte und koordinierte. Mace und der Fetch arbeiteten zusammen; Kelsea konnte es kaum glauben. Als das Echo verklungen war, erschien eine Frau auf der Treppe und rannte den Gang entlang.
Eine Wahnsinnige, war Kelseas erster Gedanke. Die Frau schien nur einen Morgenmantel über dem Nachthemd zu tragen, ihr Haar war durcheinander. Sie hielt eine Fackel dicht über dem Kopf und hatte wohl nur durch pures Glück nicht ihre Haare in Brand gesetzt. Ihr Atem ging schwer, ihre Augen waren weit aufgerissen und voller Verzweiflung. Der Saum ihres Morgenmantels war blutgetränkt.
»Nennt Euren Namen!«, rief Emily, die jedoch einen Moment später wie eine Puppe gegen die Mauer geschleudert wurde und zu Boden fiel. Als die Frau schlitternd vor Kelseas Zelle zum Stehen kam, blieb dieser der Mund offen stehen. Niemand hätte in dieser desolaten Gestalt die Königin von Mortmesne erkannt.
»Keine Zeit«, keuchte die Rote Königin. »Genau hinter mir.«
Sie eilte zu Emilys leblosem Körper und durchsuchte ihre Taschen. »Schlüssel, wo ist der Schlüssel?«
Das Kreischen von zerdrücktem Stahl hallte von der Treppe herunter, und ein leises tierisches Stöhnen entrang sich der Kehle der Roten Königin. Geschlagen ließ sie von Emily ab und setzte sich einen Moment auf die Fersen, bevor sie die Kette um den Hals der Frau entdeckte.
»Was ist das?«, fragte Kelsea.
Die Rote Königin stand auf, die Kette mit einem silbernen Schlüssel in der linken Hand.
»Es sieht aus wie ein Kind«, sagte sie leise, während sie Kelseas Zelle aufschloss und die Tür weit aufriss. »Doch das ist es nicht.«
Sie streckte die rechte Hand aus, in der die Saphire lagen. Kelsea war sprachlos. Das Gesicht der Roten Königin war ruhig, doch ihre Augen waren vor Panik weit aufgerissen.
»Helft mir«, flüsterte sie. »Helft mir, bitte.«
Da ertönte ein Kichern auf dem Gang, und die Rote Königin zuckte zusammen. Kelsea lehnte sich aus ihrer Zelle und sah eine kleine Gestalt, die nur ein Kind sein konnte, am Fuß der Treppe. Doch sein Kinn war blutverschmiert, ebenso wie der Brustkorb.
»Du kannst gut Verstecken spielen«, lispelte das Wesen mit dünner Stimme. »Aber jetzt habe ich dich gefunden.«
»Was ist das?«, flüsterte Kelsea.
»Eins von seinen. Bitte.« Die Rote Königin packte Kelseas Hand und legte nachdrücklich die Saphire hinein. Kelsea erkannte überrascht, dass die andere Frau Tear sprach, nicht Mort.
»Bitte. Sie gehören Euch. Ich gebe sie Euch zurück.«
Kelsea blickte auf die Steine in ihrer Hand. So lange hatte sie sich nach ihnen gesehnt, der Fähigkeit, mit ihrer Hilfe zu bestrafen und Rache zu nehmen. Jetzt, da sie sie in der Hand hielt, fühlte sie keine Veränderung. Die ganze Kraft, die sie aus den Saphiren gezogen hatte, die Möglichkeit, ihre Wut in tatsächliche Aktion zu bündeln, war verschwunden. Etwas war allerdings noch da, denn auf einmal konnte sie die Steine unterscheiden. Auf den ersten Blick schienen sie sich völlig zu gleichen, doch sie waren vollkommen unterschiedlich, zwei leise Stimmen in ihrem Kopf …
Aber sie konnte nicht länger über die Steine nachdenken. Das Kind – ein kleines Mädchen, wie Kelsea jetzt sah – lief auf allen vieren wie ein Wolf den Korridor entlang, die Zähne gefletscht, das Gesicht gierig verzogen.
Die Rote Königin duckte sich hinter Kelsea und packte ihre Schulter in einem eisernen Klammergriff der Angst. Kelsea fragte sich, was sie in den zwei Sekunden, bis das Kind sie erreicht haben würde, tun sollte, wie sie sich etwas ausdenken, geschweige denn reagieren sollte …
Und dann wurde die Zeit plötzlich langsamer.
Kelsea sah es ganz deutlich. Das Kind bewegte sich auf einmal mit der Geschwindigkeit der Klappschildkröten des Reddickwaldes und legte mühsam Zentimeter für Zentimeter zurück.
Ganz ruhig, dachte Kelsea überrascht. Ich habe alle Zeit der Welt.
Sie sah auf die Steine hinab. Unterschiedlich, aber trotzdem irgendwie miteinander verbunden. William Tears Saphir sprach deutlich zu ihr, nicht in Worten, sondern in einer Reihe von Bildern, in Vorstellungen vom Guten, vom Hellen. Der Stein, der es ihm erlaubt hatte, die Zeit zu besiegen, sie alle sicher über den Atlantik und Gottes Meer zu bringen. Carlin hatte immer gesagt, dass Tears Siedler Glück hatten, auf die Neue Welt zu treffen, das Äquivalent zu einem gezielten Treffer im Dunkeln. Doch das stimmte gar nicht. William Tear hatte genau gewusst, wohin er wollte. Glück hatte dabei keine Rolle gespielt, weil …
»Er stammt von hier«, flüsterte Kelsea und spürte, dass sie recht hatte. Ein Stück Tearsaphir hatte irgendwie den Weg in die Alte Welt gefunden, und Kelsea sah die Reise deutlich vor sich, wie eine Geschichte in ihrem Kopf: von einer Teargeneration zur nächsten weitergegeben, versteckt und geschmuggelt, manchmal bis in die entlegensten Ecken der Welt, verborgen vor den Mächtigen, beschützt von den Schwachen. Jahrhunderte von Tears, die alle dafür kämpften, die Dunkelheit zurückzuhalten. Tears Saphir konnte die Zeit beeinflussen; er hatte Kelsea ermöglicht, das hungrige Kind zu verlangsamen, den Korridor ins schier Unendliche zu verlängern, in die Vergangenheit zu sehen.
Wie hatte ich nur je glauben können, dass sie identisch sind?
Der Unterschied war wie ein Abgrund in ihrem Geist. Die Stimme des anderen Steins war leise und einschüchternd, sprach von kleinen Beleidigungen und Eifersüchteleien und Sehnsüchten, vom Schleichen und Spionieren, von Wut und Gewalt. Dieser Saphir war ebenfalls in der Familie Raleigh weitergegeben worden, doch er hatte nie einem von ihnen wirklich gehört, nicht einmal Kelsea.
Row Finn?
Das war ihre Vermutung. Als er erkannt hatte, was für Kräfte der Tearsaphir hatte, hätte er sicher versucht, ein zweites Exemplar für sich anzufertigen. Doch es war ihm nicht gelungen, jedenfalls nicht vollständig, da dieser Stein nicht für sich allein wirken konnte. Kelsea spürte das Band zwischen den beiden Saphiren; Tears hatte auf eine Art die Oberhand, die sie nicht ganz verstand. Bewahrte man sie getrennt voneinander auf, vermochte Rows Stein sehr wenig, doch zusammen …
»Carlin«, flüsterte Kelsea. Irgendwie hatte ihre Ziehmutter es gewusst, weil Rows Saphir Kelseas ganzes Leben lang um ihren Hals gehangen hatte – fast konnte sie jeden Tag ihrer Jugend in der glänzenden Oberfläche erkennen –, während Carlin Tears Exemplar versteckt hatte. Auch der Fetch hatte es gewusst, denn er hatte Kelsea während ihrer Prüfung bewusst den Stein vorenthalten. Rows Saphir konnte kleine Dinge vollbringen – Kelsea erinnerte sich an den toten Caden auf dem Boden ihres Badezimmers, das Mortlager, das sich vor ihren Augen erstreckte, die schreiende Frau auf der Almontebene, der die Kinder entrissen wurden. Sie hatte Dinge in weiter Ferne sehen können, um ihr eigenes Leben zu verteidigen. Nützliche Magie. Doch sobald die beiden Steine zusammentrafen …
»Oh«, sagte Kelsea erschrocken. Bilder zuckten durch ihren Geist: Hunderte von Soldaten der Mortarmee, allesamt zerfetzt, die vielen Schnitte, die sie sich zugefügt hatte, General Ducartes gequältes Gesicht. Die offenen Wunden auf Mace’ Handrücken und Arlen Thorne, die schlimmste Erinnerung, der ein noch tragischeres Leben als die Rote Königin gehabt hatte und dennoch keine Gnade verdiente, weil …
Kelsea konnte sich nicht mehr an den Grund für Thornes Verstümmelungen erinnern, den sie sich zurechtgelegt hatte. Sie wusste noch, was sie getan hatte, die schwarzen Flügel in ihr, die sich ausgebreitet hatten, eine so einladende Dunkelheit, dass die frisch gekrönte Kelsea Glynn, die in der Rückschau so viel jünger gewesen zu sein schien, sich nur allzu gern darin verloren hätte. Doch dort wartete nur der Wahnsinn, derselbe Wahnsinn, den Finn und seine Leute über Tearling hereinbrechen lassen wollten … Neid und Herzlosigkeit, mangelndes Einfühlungsvermögen, Engstirnigkeit, bis nur noch eine einzige Stimme übrig war, umgeben von einer Leere, in die man nur ein einziges Wort hineinrufen konnte: ich.
Voller Abscheu trennte Kelsea mit einem Aufschrei Finns Saphir von Tears und hielt ihn sich vors Gesicht. Ich will damit nichts zu tun haben, ich will mein altes Ich zurück …
Eine ungeheure Kraft wirkte in ihr, als ob sich Muskeln vom Knochen lösten, und plötzlich verstand sie. Die Rote Königin konnte die Saphire nicht aus dem Grund für sich nutzen, weil sie Kelsea gehörten, sondern weil die Steine leer waren. Kelsea hatte sie ausgezehrt. Die zwei Seiten, Tear und Finn, hatten seit Monaten in ihr gegeneinander angekämpft. Einen Moment hatte Kelsea das Gefühl, als ob sie in der Mitte entzweigerissen würde von dem Wunsch, nichts mehr mit Row zu tun zu haben, wieder Kelsea Glynn zu sein …
Und dann war es vollbracht. Die große Kluft in Kelsea schloss sich von selbst. Sie war immer noch wütend, doch es war ihre Wut, die Kraft, die sie immer angetrieben hatte, nicht um zu bestrafen, sondern um etwas besser zu machen, Fehler zu berichtigen. Die Erleichterung war so groß, dass sie den Kopf in den Nacken legte und triumphierend aufheulte. Das Geräusch hallte durch den Gang, Kelsea erschien es allerdings noch viel mächtiger als der pure Klang, als ob es den Palast in seinen Grundfesten erschüttern müsste. Einen Moment erwartete sie, dass das Gebäude um sie herum einstürzen würde.
Als sie die Augen wieder öffnete, hatte das Kind die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Rows Saphir baumelte immer noch vor ihrem Gesicht, nicht mehr dunkel, sondern hell und glitzernd, die vielen Facetten leuchteten, als ob sie fragen wollten, ob Kelsea den Stein wieder umlegen wollte, nur um es auszuprobieren, um zu sehen …
Sie schloss die Hand um den Saphir, blockierte das verführerische Licht und legte ihn zurück in die Hand der Roten Königin. Eine alte Erinnerung blitzte auf: wie sie am Lagerfeuer mit dem Fetch sprach, damals, als sie nichts wusste und nichts verstand, nicht einmal die wahre Bedeutung ihrer eigenen Worte.
»Behaltet ihn, Lady. Ich sterbe lieber rein.«
Sie wusste nicht, ob die Rote Königin sie gehört hatte; die Frau war wie erstarrt, die Augen unnatürlich weit aufgerissen. Nur ein kaum wahrnehmbares Zucken ihrer Finger zeigte, dass sie die Kette wahrgenommen hatte. Langsam schloss sie die Hand darum.
Kelsea sah, dass Emily immer noch bewusstlos auf dem Boden lag. Ein großer blauer Bluterguss hatte sich an ihrer Schläfe gebildet. Sie war keine Hilfe; neben ihren gekrümmten Fingern lag aber ein langer, wunderschön gearbeiteter Dolch. Kelsea ging rasch hinüber und griff danach. Dabei stellte sie fest, dass er länger war als die Waffen, die sie gewohnt war. Bartys Messer, das man ihr vor langer Zeit auf der Almontebene abgenommen hatte, war mindestens fünf Zentimeter kürzer gewesen. Doch wenigstens würde sie mit dieser Waffe umgehen können.
»Es ist stark«, sagte die Rote Königin langsam und abwesend. »Stärker als ein Mann.«
»Dann werdet Ihr mir helfen müssen«, erwiderte Kelsea.
Die Rote Königin starrte sie nur ausdruckslos an.
»Helft mir! Versteht Ihr?«
»Damit?« Die Rote Königin hob Finns Saphir.
»Nein. Steckt den weg.«
Die Rote Königin gehorchte, und Kelsea verspürte Erleichterung, als er außer Sicht war.
»Ich verfüge über Magie, doch die kann nichts gegen dieses Wesen ausrichten«, gestand die Rote Königin ein. »Was nun?«
»Gute alte körperliche Gewalt. Ihr helft mir, das Mädchen zu halten, und ich stoße ihm den Dolch ins Herz.«
Die Rote Königin schüttelte den Kopf. »Das hier sind nicht die Monster aus den Büchern vor der Überfahrt. Sie sind irgendetwas anderes.«
»Habt Ihr eine bessere Idee?«
Das Mädchen war nur noch wenige Meter entfernt und machte sich zum Sprung bereit. Kelsea packte den Dolchgriff fester und sagte leise: »Ich vertraue auf die Bücher.«
Dann stürzte sich das Kind auf sie. Kelseas Blut pulsierte durch ihren Körper, die Zeit verlor ihre Elastizität und nahm ihre alte Form wieder an. Kelsea hätte erwartet, dass das Kind zuerst sie angriff, weil sie bewaffnet war, doch es riss als Erstes die Rote Königin um. Diese versuchte, das Mädchen von sich zu schieben, war aber zu schwach. Kelsea zog das Mädchen an ihren Haaren zurück, überrascht von der Kraft des Kindes. Obwohl es sich zurückziehen ließ, hielten seine Hände die Schultern der Roten Königin weiterhin fest umklammert und rissen die Frau mit sich. Alle drei stürzten auf den harten Steinboden. Der Dolch wurde aus Kelseas Hand geschleudert. Sie eilte ihm rasch nach, während hinter ihr die Rote Königin auf Mort fluchte und weiter mit dem Mädchen kämpfte.
Der Dolch lag an den Gitterstäben von Simons Zelle, und Kelsea packte ihn. Simon kauerte nur Zentimeter vor ihr hinter den Stäben. Bisher hatte sie nie einen guten Blick auf ihn erhaschen können, und trotz des Kampfes hinter sich erstarrte sie.
Er war General Hall.
Das konnte nicht sein, sie hatte Hall in Neulondon zurückgelassen, während dieser Mann hier seit vielen Jahren gefangen war. Halls Bruder war vor langer Zeit mit der Lieferung verschleppt worden … in diesem Moment ertönte ein lauter Schrei hinter Kelsea. Das Mädchen hatte seine Nägel ins Schlüsselbein der Roten Königin vergraben, und sein Mund war nur noch Zentimeter von der Stelle entfernt. Die Rote Königin schlug auf das Kind ein, ohne Erfolg, und verdrehte verzweifelt die Augen. Kelsea zog den Kopf ein und rammte das Mädchen in vollem Lauf, sodass es auf den Boden stürzte. Es erholte sich nahezu sofort, doch Kelsea war bereit und sprang auf den linken Arm des Kindes, während sie gleichzeitig mit dem Ellbogen unter seinem Kinn die gefährlichen Zähne abhielt.
»Helft mir!«, schrie sie der Roten Königin zu. »Haltet den anderen Arm!«
Die Rote Königin kroch zu ihr. Sie war verletzt, sah Kelsea, aber sie konnte im Moment nichts tun. Das Mädchen wand sich mit schier unglaublicher Kraft unter ihr. Selbst als sie es zu zweit auf dem Boden hielten, verlor Kelsea beinahe wieder den Dolch.
»Sie ist zu stark!«, brüllte sie. »Haltet sie fest, verflucht nochmal!«
Die Rote Königin nickte, und einen Moment später spürte Kelsea, wie die wilde Gegenwehr des Mädchens schwächer wurde.
»Ich habe sie«, zischte die Rote Königin. »Aber nicht lange. Beeilt Euch!«
»Vater!«, schrie das Kind. »Vater, hilf mir!«
Eines seiner Geschöpfe, rief sich Kelsea in Erinnerung, und wieder fragte sie sich, wie um alles in der Welt der Junge Rowland Finn, charmant und selbstsüchtig, nur an diesen Punkt gelangt war. Mit zitternden Händen hielt sie den Dolch mit eisernem Griff und stützte ein Knie auf den Brustkorb des Mädchens, um es noch fester zu halten.
»Halt, Majestät!«, rief Simon aus seiner Zelle. »Sie ist noch ein Kind!«
»Nein, ist sie nicht«, erwiderte Kelsea keuchend und hob den Dolch. Was, wenn Carlin mich jetzt sehen könnte? Sie ignorierte den Gedanken und stach zu. Der Dolch drang ohne Widerstand in den Brustkorb des Mädchens ein.
Das Kind schrie ohrenbetäubend, menschliche Qual und das erbärmliche Kreischen eines Tieres, das in eine Falle geraten war. Sein Körper krampfte und bäumte sich auf, sodass Kelsea und die Rote Königin nach hinten geschleudert wurden. Kelsea spürte, wie ihr Kopf dumpf gegen die Gitterstäbe von Simons Zelle prallte; ihre Zähne schlugen klappernd durch die Erschütterung aufeinander. Bevor die Schmerzen kamen, versank Kelsea in der Dunkelheit.
General Hall hatte den Plan von Anfang an gehasst. Zum einen verließen sie sich auf Levieux, das Phantom von Mortmesne, und nichts, was Hall bisher über den Mann gehört hatte, war Vertrauen erweckend. Er behauptete, er könne sie sicher durch den Palast bis zum Kerker bringen, sogar bis zur Zelle der Königin, doch er wollte nicht preisgeben, woher er dieses Wissen hatte. Sie wussten nicht einmal, ob es sich dabei um den echten Levieux handelte, da noch niemand den Mann je gesehen hatte. Einer seiner Leute war aus Cadare, und auch wenn Hall noch nie jemanden aus dem Land kennengelernt hatte, wusste er, dass man ihnen nicht trauen konnte. Am schlimmsten war, dass das Gelingen der ganzen Operation von einem Mob abhing, und trotz Levieux’ Behauptung, dass er seinen Leuten klare Anweisungen gegeben hatte, wusste Hall, dass man einem Mob nicht trauen konnte. Der Norden und der Westen von Demesne standen in Flammen, über zehn Blöcke brannten unkontrolliert, und von der städtischen Feuerwehr war nichts zu sehen. Eine Mannschaft stürmte gegen das Nordtor der Stadt und zog dort die wenigen verbleibenden Verteidigungskräfte Demesnes zusammen, doch wer diese Leute waren, wollte Levieux nicht verraten. Hall plante seine Operationen bis ins letzte Detail durch, probte alle Aktionen so lange, bis auch die letzte Unsicherheit beseitigt war. Dieser Plan war purer Wahnsinn, und sie hätten nur einen Versuch. Das Risiko war zu groß für eine Frau, selbst eine Königin, doch darüber konnte man mit Mace nicht sprechen, der der fixen Idee anzuhängen schien, dass alle Probleme sich irgendwie lösen würden, solange sie die Königin befreien konnten. Niemand konnte ihn davon abbringen; Hall, der stolz auf seinen Realismus war, befürchtete das Schlimmste.
Bisher war allerdings tatsächlich alles nach Plan gelaufen. Die Tore des Palasts waren offen und unbewacht, Mace’ Spionin hatte also ihren Auftrag erfüllt. Nirgendwo waren Wachen zu sehen, was Hall beunruhigte; die Frau konnte doch nicht die gesamte Torwache bestochen haben. Levieux’ Mob hatte sich bereits im Palast verteilt; Hall hörte, wie in den oberen Stockwerken Glas splitterte und Holz brach. Ihre kleine Gruppe – Levieux und vier seiner Männer, Hall und Blaser sowie acht Mitglieder der Königinnengarde – war in die andere Richtung gegangen, einige Treppenabsätze nach unten, hinter Levieux zum Kerker. Nirgendwo trafen sie auf Widerstand oder andere Menschen, und ihr leichtes Vorankommen machte Hall zunehmend misstrauisch.
Und dann war da noch der Geruch. Hall war schon zu lange Soldat, um nicht die Bedeutung des Kupfergeruchs in der Luft zu verstehen. Hier war Blut vergossen worden, viel Blut, und es war noch nicht lange her. Sie fanden allerdings keine Leichen, nur rote Pfützen auf den Gängen, während sie weiter nach unten gingen.
Mace’ Spionin sollte sie am Fuß der Treppe erwarten und ihnen die Türen zum Kerker öffnen, doch sie war nirgends zu sehen. Stattdessen fand die Gruppe eine Eisentür vor, die aussah, als hätte jemand mit schier übermenschlichen Kräften versucht, sie aus den Angeln zu heben.
»Was zur Hölle war das?«, flüsterte Blaser.
»Bereitet euch auf alles vor«, sagte Mace. Er hatte den Morgenstern gezogen, nach dem er benannt war; sein Gesicht war geisterhaft bleich im düsteren Fackellicht. Wenn der Königin etwas zugestoßen war, wusste Hall nicht, wie Mace darauf reagieren würde.
»Los, gehen wir weiter.«
Vorsichtig gingen sie die restlichen Stufen nach unten; das einzige Geräusch war das Flackern und Knacken der Fackeln. Hall hatte befürchtet, dass Levieux und seine Männer eine Belastung sein würden, doch sie waren tatsächlich die ruhigsten der Gruppe. Hall hörte nicht das leiseste Rascheln oder Schritte.
»Sir«, sagte Kibb leise. »Hier ist eine Blutspur.«
Hall blickte nach unten, und in der Tat: kleine, dunkle Bluttropfen bildeten eine Spur auf dem grauen Steinboden. Bei all seinen Befürchtungen hinsichtlich dieser Operation hatte er nie daran gedacht, dass sich die Königin in ernsthafter Gefahr befinden könnte. Sie war eine wertvolle Gefangene, ein Druckmittel bei Verhandlungen. Selbst wenn die Rote Königin entschieden hätte, sie aus reiner Boshaftigkeit verprügeln zu lassen – so etwas geschah dauernd in den Kerkern von Mortmesne –, wäre die Königin nicht lebensgefährlich verletzt.
Nun, beim Anblick des Blutes, schloss sich eine eisige Hand um Halls Herz. In den letzten Wochen hatte er oft an seine wütenden Worte der Königin gegenüber gedacht. Ruhmsucht hatte er ihr vorgeworfen. Er hatte sich bei ihr entschuldigen wollen, jedoch keine Gelegenheit mehr gehabt.
»Die Spur führt in ihre Richtung«, murmelte Levieux, und Hall hatte den Eindruck, dass er entmutigt klang. Levieux konnte normalerweise nichts aus der Ruhe bringen. Hall hatte ihn nur zweimal in der Festung getroffen, und immer war der Mann eiskalt gewesen. Bis jetzt. Das ungute Gefühl in Halls Bauch breitete sich aus. Er hatte gewusst, dass dieser Plan zu einfach war, dass irgendetwas schiefgehen musste.
Bitte, flehte er das Universum oder wen auch immer an, lass es nicht zum Schlimmsten kommen.
Die Gerüchte, die Hall über den Kerker des Palasts gehört hatte, waren nicht übertrieben gewesen. Es war eiskalt hier unten, selbst für einen Soldaten, der ungemütliche Nächte im Freien im Winter gewohnt war. Viele der Zellen, an denen sie vorbeigingen, enthielten nicht einmal eine Pritsche – Standard im Gefängnis von Neulondon. Die meisten Fackeln an den Wänden waren erloschen, und nur die Fackeln von Levieux und Coryn beleuchteten in weiten Bereichen den Weg.
Keine Wachen, keine Kerkermeister, dachte Hall. Was ist hier nur passiert?
Es war offensichtlich, dass die Gefangenen völlig ihrem Schicksal überlassen worden waren. Nicht alle hatten Decken, viele husteten so erbärmlich, dass sie nach Halls Meinung an Lungenentzündung leiden mussten. Manche riefen nach Wasser und hielten ihnen leere Eimer entgegen.
»Wir finden einen Schlüssel«, versicherte Mace den armen Teufeln, doch selbst Hall hörte das Unbehagen in seiner Stimme. Sie hatten erwartet, sich den Weg durch den Kerker freikämpfen zu müssen, die Königin mit Gewalt hier herauszuholen oder bei dem Versuch zu sterben. Ein zermürbender Kampf, aber zumindest ein bekanntes Risiko. Sie hatten sich auf Verluste in ihrer Gruppe vorbereitet, nur das hier hatte keiner erwartet. In einer Zelle flehte eine hochschwangere Frau darum, befreit zu werden. Hinter Hall fluchte einer der Gardisten leise. Hall hätte alle Kämpfe der Welt dem hier vorgezogen, und damit war er nicht allein. Nach einigen Biegungen begann Blaser unterdrückt zu würgen.
»Wie weit noch?«, fragte Mace Levieux.
»Zweimal noch nach rechts, dann eine Treppe nach unten.«
Bei der zweiten Biegung wurden alle langsamer, und Hall packte sein Schwert mit beiden Händen. Kurz zuvor hatte er noch gedacht, dass ein offener Kampf besser wäre, jetzt wurde ihm immer unheimlicher. Vor ihnen führte eine Treppe nach unten ins Dunkel, und Hall spürte die eiskalte Luft, die zu ihnen emporstieg. Die Blutspur führte ebenfalls in diese Richtung.
»Ruhig«, warnte Levieux und ging vorsichtig die Treppe nach unten. Sie mussten nacheinander gehen; Hall hielt sich hinter einem bärenhaften Mann aus Levieux’ Gruppe. Die Treppe war so schmal, dass Hall kurz Platzangst bekam. Über ihnen dröhnten die Schritte von Levieux’ Mob, der den Palast verwüstete.
Am Fuß der Treppe blieben alle stehen. Der Gang lag im Dunkeln, doch der Gestank nach Blut war hier stärker und konzentrierter, ein leises, Übelkeit erregendes Pochen von rostigem Kupfer bei jedem Atemzug.
»Die Fackeln nach vorne«, befahl Mace leise, und Coryn gab seine Fackel weiter. Obwohl es reichte, um den Gang zu beleuchten, konnte Hall nicht über die Schulter des Riesen vor ihm sehen.
»Was ist das?«, verlangte Mace zu wissen.
»Nicht bewegen«, befahl Levieux, doch Hall, der die Situation nicht länger ertrug, drängte sich vor, bis er etwas sehen konnte.
Am anderen Ende des Ganges, in etwa fünfzehn Meter Entfernung, lag jemand auf dem Boden vor einer Zelle, deren Tür weit offen stand. Zwei Gestalten kauerten über dem Menschen, so klein, dass Hall sie erst für Geier hielt. Dann drehte sich eine um, und Hall erkannte einen kleinen Jungen.
»Zurück!«, brüllte Levieux. »Morgan, Howell, Lear, kommt zurück!«
Doch der Gang war zu eng, Levieux’ Männer drängten von vorne, während der Rest der Gruppe versuchte, wieder auf die Treppe raufzukommen. Mace blieb jedoch stehen, und Hall schob sich vor zum Captain.
»Was sind das für Kreaturen?«, fragte Mace Levieux.
»Die Plage, die die Neue Welt überzieht.«
»Das sind Kinder!«, wandte Hall ein.
»Das glaubt Ihr auch nur so lange, General, bis sie Euch ausgesaugt haben.« Levieux hob sein Schwert, denn der kleine Junge hatte sich von der Leiche abgewandt und bewegte sich auf die beiden Männer zu.
»Wer ist das?«, verlangte Pen lautstark zu wissen.
»Es ist ihre Zelle«, sagte Levieux leise. »Bleibt hier.«
Er und seine vier Männer eilten den Gang entlang. Blaser war neben Hall getreten, der Rest der Gruppe kauerte bei der Treppe.
»Die Plage«, wiederholte Hall. »Die Überfälle im Norden?«
Als Mace schwieg, machte sich Hall selbst ein Bild. Er hatte von den Zerstörungen im Reddickwald und auf der nördlichen Almontebene gehört. Wenn er noch eine Armee befehligen würde, hätte man ihn vielleicht schon in die Gebiete entsandt, um dort für Ordnung zu sorgen. Die unsichtbare Gefahr, die sich gen Süden Richtung Tearling bewegte, war immer noch ein Mysterium. Überlebende waren selten. Die wenigen Gerüchte, die Hall zu Ohren gekommen waren, berichteten von Tieren mit unglaublichen Kräften. Aber Kinder?
Der kleine Junge sprang mit einem Zischen nach vorne, bei dem Hall Gänsehaut bekam, und warf den Mann aus Cadare zu Boden. Das andere Kind – ein Mädchen, wie Hall jetzt sah – stürzte sich ebenfalls in den Kampf, klammerte sich an Levieux’ Bein und vergrub seine Zähne in seinem Schenkel.
»Fünf Männer können nicht ausreichend sein«, sagte Mace und rannte los, Hall und Blaser ihm dicht auf den Fersen.
»Bleibt zurück!«, brüllte Levieux. Er schüttelte das Mädchen ab, der Riese, Morgan, packte es und hielt das sich wehrende Kind lange genug, damit Levieux es mit seinem Schwert durchbohren konnte. Das Wesen kreischte auf, es klang wie das Läuten von Alarmglocken.
»Himmel«, murmelte Blaser. Hall drehte sich zu Mace, um zu sehen, ob dieser Einwände hatte, doch der sah nur mit versteinertem Gesicht zu, als wäre ihm der Anblick vertraut.
Der Junge hielt Lear, den Mann aus Cadare, auf dem Boden fest. Als Howell das Kind packte und es gegen die Gitterstäbe schleuderte, fiel es betäubt zu Boden. Howell packte den einen Arm, Alain den anderen, und Lear setzte sich rittlings mit dem Messer in der Hand auf den Brustkorb. Hall musste den Blick abwenden und schloss die Augen, als der Junge aufschrie.
»Erledigt«, sagte Levieux eine Weile später. »Los, weiter.«
Mace ging im Kreise seiner Wachen den Gang entlang, Hall folgte ihnen. Er hatte das Gefühl, sich bei vollem Bewusstsein in einem Albtraum zu bewegen. Die zwei Kinder hatten sie blutend hinter sich gelassen, doch vor ihnen lag ein weiteres Kind, ein Mädchen, das Hall bisher nicht bemerkt hatte. In seiner Brust steckte ein Dolch. Vor der offenen Zelle lag eine vierte Leiche, eine große, blonde Frau. Jetzt verstand Hall auch, warum die Kinder ihn an Geier erinnert hatten: Der Brustkorb der Frau war aufgerissen und zerfleischt, die Rippen stachen grausig durch das Fleisch.
»Kibby?«, befahl Mace.
Kibb war bereits in die Zelle der Königin gegangen und rief auf den Gang: »Nichts. Hier ist niemand.«
Hall hörte die Nachricht wie aus weiter Ferne. Er war bis zur Nachbarzelle weitergegangen und stand wie erstarrt davor.
»Kein Zeichen, keine Nachricht?«
»Nein. Bettstatt, Kerzen, Streichhölzer, zwei Eimer. Sonst nichts.«
»Wo ist sie?«, drängte Pen.
Hall hob die Hand und winkte vor den Gitterstäben. Der Gefangene dahinter erwiderte die Geste nicht. Sein Kopf war geschoren, und er hätte ein paar ordentliche Mahlzeiten vertragen können, aber das Gesicht hätte Hall überall erkannt. Es war sein eigenes.
»Simon«, sagte er leise.
»Gebrochenes Genick.« Coryns Stimme ertönte aus weiter Ferne; er untersuchte gerade die blonde Frau. »Sie war schon tot, bevor das alles hier geschah, keine Kampfspuren.«
»Ach, verdammt«, knurrte Mace und kniete sich neben die Leiche. »Sie hat gute Arbeit geleistet.«
Simon streckte die Hand durch die Gitterstäbe, und Hall ergriff sie. Seine andere Handfläche legte er an die Wange seines Bruders. Hall hatte seinen Zwilling seit beinahe zwanzig Jahren nicht mehr gesehen, hatte die ganze Zeit versucht, nicht an ihn zu denken. Und hier stand Simon, fest und real.
»Aber wo ist die Königin?«, fragte Elston. Unter anderen Umständen hätte Hall vielleicht über den traurigen Unterton in der Stimme des großen Gardisten gelacht. Simons Lippen bewegten sich, doch kein Wort drang hervor. Hall lehnte sich gegen die Gitterstäbe.
»Was?«
»Die Rote Königin. Sie hat sie mitgenommen.«
»Was sagt er da?« Mace drängte Hall beiseite, der jedoch Simons Hand weiter umklammert hielt.
»Die Königin hat sich den Kopf an den Gitterstäben angeschlagen. Die Rote Königin hat sie danach weggetragen.«
Mace sah einen Moment zwischen Hall und Simon hin und her, dann schien er die unheimliche Ähnlichkeit der beiden Männer auf einen späteren Zeitpunkt zu vertagen.
»Wohin hat sie sie gebracht?«
Simon deutete in die entgegengesetzte Richtung, aus der sie gekommen waren.
»Wann war das?«
»Ich weiß es nicht. Vor vielen Stunden. Hier unten gibt es keine Zeit.«
»Verdammt!«
Hall zuckte zusammen. Pen stand mit dem Rücken zu ihnen, seine Schultern hoben und senkten sich.
Hall sah wieder zu Simon und bemerkte zum ersten Mal die Zellenwände hinter seinem Bruder, die mit Zeichnungen und Konstruktionsplänen übersät waren. Früher hatten sie oft lange zusammengesessen und Gerätschaften entworfen, die Pläne dafür hatten sie mit einem Stock in die Erde gezeichnet. Hall blinzelte gegen die Tränen an, und als ihm bewusst wurde, dass Simon immer noch eingesperrt war, begann er nach einem Schlüssel zu suchen.
»Wohin würde sie gehen?«, fragte Dyer Levieux.
»Ich weiß es nicht.«
»Gin Reach.« Mace brachte kaum mehr als ein Krächzen heraus, und Hall sah erschrocken, dass alle Farbe aus dem Gesicht des Regenten gewichen war. »Sie ist in Gin Reach. Andalie hat es uns gesagt, und ich habe nicht auf sie gehört.«
»Das hat keiner von uns«, erinnerte ihn Elston. Er legte Mace eine Hand auf die Schulter, doch dieser schüttelte sie ab. Hall spürte, dass der Captain den absoluten Siedepunkt erreicht hatte. Die Wache schien das ebenfalls zu merken, denn sie traten alle nach hinten und drehten sich um. Hall wandte sich wieder an Simon und sah seinen Bruder fest an, während hinter ihm ein langes, wortloses Heulen der Wut und der Trauer erklang.