Prolog
Die Waise
ange bevor die Rote Königin von Mortmesne an die Macht kam, war die Gegend, die man Glace-Vert nannte, bereits ein hoffnungsloser Fall. Eine vergessene Steppe im Schatten des Fairwitchgebirges, auf deren hartem Boden nur vereinzelt Grasbüschel wuchsen. Einige wenige Dörfer mit ärmlichen Hütten verteilten sich auf dem Gebiet. Nur wenige zog es hierher, in den Norden von Cite Marche, außer es blieb gar keine andere Möglichkeit, denn das Leben in dieser Einöde war hart. Im Sommer verglühten die Dörfler, im Winter erfroren und verhungerten sie.
Dazu gesellte sich in diesem Jahr eine neue Angst. Die gefrorenen Weiler waren streng abgeriegelt, umgeben von frisch errichteten Zäunen, hinter denen schlaflose Männer saßen, die Jagdmesser über die Knie gelegt, nur wenig mehr als Schattenwachen. Wolken bedeckten den Mond, auch wenn diese noch nicht die Schneefälle des Fairwitchwinters ankündigten. Auf den höher gelegenen Abhängen heulten die Wölfe in ihrer seltsamen Sprache und beklagten den Mangel an Nahrung. Bald schon würde der Hunger die Rudel nach Süden in die Wälder treiben, auf der Jagd nach Eichhörnchen und Hermelinen oder gelegentlich auch nach einem unvorsichtigen Kind, das sich alleine in die winterlichen Wälder hineinwagte. Doch um zehn nach zwei verstummten die Wölfe schlagartig. Nun war nur noch das einsame Heulen des Windes zu hören.
Etwas bewegte sich im Schatten der Fairwitchausläufer: die schwarze Gestalt eines Mannes, der den steilen Abhang erklomm. Er schritt sicheren Fußes voran, bewegte sich jedoch vorsichtig, als ob er Gefahren erwartete. Abgesehen von seinen schnellen, leichten Atemzügen war er unsichtbar, nur ein Schatten zwischen den Felsen. Zwei Tage hatte er in Ethan’s Copse Station gemacht, bevor er weiter nach Norden gegangen war. Während seiner Zeit im Dorf hatte er alle Arten von Geschichten über die Plage gehört, die die Bewohner heimsuchte: ein Wesen, das in der Nacht herumstreifte und die Kinder stahl. Im oberen Fairwitchgebirge nannte man es »die Waise«. Glace-Vert hatte sich bisher nie um solche Dinge Gedanken machen müssen, doch jetzt verschwanden auch im Süden Kinder. Nach zwei Tagen hatte der Mann genug gehört. Die Dorfbewohner mochten das Wesen zwar »die Waise« nennen, doch der Mann wusste seinen echten Namen, und auch wenn er schnell wie eine Gazelle rennen konnte, konnte er seinem eigenen Verantwortungsgefühl nicht entkommen.
Er ist frei, dachte der Fetch niedergeschlagen, während er sich durch das dornige Gestrüpp auf dem Abhang kämpfte. Ich habe ihn nicht getötet, als ich die Gelegenheit dazu hatte, und jetzt ist er frei.
Die Vorstellung quälte ihn. Er hatte die Anwesenheit von Row Finn im Fairwitchgebirge lange Zeit ignoriert, weil der Mann gebändigt war. Alle paar Jahre verschwand ein Kind, bedauerlich, aber es gab größere Übel, mit denen man sich auseinandersetzen musste. Tearling, zum Beispiel, wo jeden Monat auf Regierungsbefehl hin beinahe fünfzig Kinder verschwanden. Selbst unter dem unbeschreiblichen Joch der Lieferung waren die Tear immer wie ein launisches Kind gewesen, um das man sich ständig kümmern musste. Die Raleighs wechselten zwischen Gleichgültigkeit und Plünderungen, und die Adeligen kämpften um jeden noch so kleinen Vorteil, während die Bürger hungerten. Drei lange Jahrhunderte hatte der Fetch zugesehen, wie William Tears Traum immer weiter im Sumpf versank. Keiner in Tearling konnte Tears bessere Welt noch sehen, geschweige denn den Mut aufbringen, sie verwirklichen zu wollen. Nur der Fetch und seine Leute wussten es, nur sie erinnerten sich. Sie alterten nicht, sie starben nicht. Der Fetch stahl zum Spaß. Es bereitete ihm ein diebisches Vergnügen, die Schlimmsten der Raleighs zu quälen. Fast schon müßig behielt er die Tearblutlinie im Auge, versuchte sich davon zu überzeugen, dass es wichtig sein könnte. Tearblut war leicht aufzuspüren, da sich bestimmte Eigenschaften irgendwann immer offenbarten: Integrität, Intellektualität und eiserne Entschlossenheit. Im Lauf der Jahre hatte man einige Tear als Verräter gehängt, doch selbst unter der Schlinge hatten sie nie ihre edle Ausstrahlung verloren, die die Familie von allen anderen unterschied. Der Fetch erkannte diese adelige Anmutung: Es war die Aura von William Tear, die Anziehungskraft, die beinahe zweitausend Menschen davon überzeugt hatte, ihm über einen Ozean ins Ungewisse zu folgen. Selbst diese Mortschlampe trug ein wenig dieser Aura in sich, auch wenn sie sonst voller Fehler war. Da die Rote Königin keine Nachkommen hervorbrachte, hatte der Fetch lange Zeit geglaubt, die Linie sei ausgestorben.
Doch dann war da das Mädchen.
Der Fetch holte zischend Luft, als sich ein Dorn in seine Hand bohrte. Er durchstach nicht die Haut; schon seit langer Zeit hatte er nicht mehr geblutet. Oft hatte er versucht, sich das Leben zu nehmen, bis er es schließlich aufgegeben hatte. Er und Row waren beide bestraft worden, doch jetzt wusste er, dass er blind gewesen war. Rowland Finn hatte niemals auch nur einen Moment aufgehört, Ränke zu schmieden. Auch er hatte auf das Mädchen gewartet.
Sie war die erste Raleigh-Erbin, die nicht in der Festung aufgewachsen war. Der Fetch hatte sie oft beobachtet, hatte im Geheimen das Cottage besucht, wenn er gerade Zeit hatte, und manchmal auch, wenn nicht. Anfangs erfuhr er nicht viel. Kelsea Raleigh war ein ruhiges Kind, introvertiert. Der Großteil ihrer Erziehung schien in den Händen der ewigen Streitaxt Lady Glynn zu liegen, doch der Fetch spürte, dass die Persönlichkeit des Mädchens leise, aber beständig vom ehemaligen Gardisten der Königin, Bartholomew, geformt wurde. Als es älter wurde, umgab sich das Mädchen mit Büchern, was den Fetch mehr als alles andere davon überzeugte, dass er Kelsea besondere Aufmerksamkeit schenken musste. Seine Erinnerungen an die Tear verblassten immer mehr, verloren ihren hellen Schein. Doch an eine Sache erinnerte er sich: Die Tear hatten immer Bücher geliebt. Eines Tages beobachtete er das Mädchen, wie es vor dem Cottage unter einem Baum saß und ein dickes Buch in vier oder fünf Stunden vollständig las. Der Fetch hatte sich in mehr als zehn Metern Entfernung zwischen den Bäumen versteckt, doch er erkannte ihre Versunkenheit sofort. Er hätte sich neben sie setzen können, und sie hätte ihn nicht bemerkt. Sie war tatsächlich wie die Tear, das wusste er jetzt. Sie lebte ebenso sehr in ihrem Kopf wie in der Außenwelt.
Von diesem Tag an hatte immer einer seiner Männer das Cottage bewacht. Wenn ein Reisender etwas zu viel Interesse an den Bewohnern zeigte – einige Male waren Männer Bartholomew vom Markt nach Hause gefolgt –, hörte man nie wieder etwas von ihm. Der Fetch war sich nicht einmal sicher, warum er so viel Aufwand betrieb. Es war ein reines Bauchgefühl, doch William Tear hatte ihnen von Anfang an eingeprägt, dass Instinkt etwas Reales war, dem man vertrauen musste. Der Fetch spürte, dass das Mädchen anders war. Wichtig.
»Sie könnte eine Tear sein«, erklärte er seinen Männern eines Abends am Lagerfeuer. »Sie könnte es tatsächlich sein.«
Es war durchaus möglich. In Elyssas Garde gab es diverse Männer, deren Herkunft er nicht kannte. Tear oder nicht, das Mädchen erforderte eine genaue Überprüfung, und im Lauf der Jahre änderte er seine Strategie behutsam. Wenn Thomas Raleigh Anzeichen zeigte, eine Allianz mit einem der mächtigen Adeligen von Tearling einzugehen, richtete der Fetch seine ganze Aufmerksamkeit auf diesen Adeligen, raubte Lieferwagen und Lagerhäuser aus, stahl die Ernte und verschwand damit in der Nacht. Bei ausreichend großen Verlusten war jedes potenzielle Bündnis rasch erledigt. Gleichzeitig begann der Fetch, hinter dem Rücken der Roten Königin seine eigenen Pläne in Mortmesne zu verwirklichen. Sollte das Mädchen es auf den Thron schaffen, dann würde es sich als Erstes mit der Lieferung auseinandersetzen müssen. Mortmesnes Tore standen allen weit offen, die wussten, wie man Unzufriedenheit ausnutzte, und nach jahrelanger geduldiger Arbeit existierte eine gesunde Widerstandsbewegung.
Um so viel hatte er sich im Lauf der Jahre kümmern müssen, weshalb Row Finn verständlicherweise nicht mehr seine oberste Priorität gewesen war.
Ein Umriss erhob sich plötzlich auf dem Felsen vor ihm und brachte ihn zum Stehen. Für jeden anderen wäre es nur eine dunkle Silhouette gewesen, doch der Fetch konnte im Dunkeln sehen und erkannte, dass es sich um ein Kind handelte: einen kleinen Jungen, etwa fünf oder sechs Jahre alt. Seine Kleider waren nur noch Lumpen, seine Haut bleich vor Kälte; die Augen dunkle, undurchdringliche Punkte. Er war barfuß.
Der Fetch starrte das Kind einen Moment lang an, bis ins Mark erschüttert.
Ich habe ihn nicht getötet, als ich die Gelegenheit dazu hatte.
Der Junge wollte sich auf ihn stürzen, doch der Fetch zischte ihn an wie eine Katze. Die Augen des Jungen, die vor hungriger Erwartung aufgeleuchtet hatten, erloschen abrupt, und er blickte den Fetch verwundert an.
»Ich bin kein Fleisch für dich«, wies er ihn scharf zurecht. »Hol deinen Meister.«
Der Junge starrte ihn noch einen Moment länger an, dann verschwand er zwischen den Felsen. Der Fetch bedeckte die Augen, er hatte das Gefühl, tief im Innern in einen Abgrund gezogen zu werden. Als das Mädchen die Brücke von Neulondon gesprengt hatte, war er sich sicher gewesen, doch seither hatten die Zweifel wieder überhandgenommen. Sie war in Mortgefangenschaft, und Howells letzte Nachricht hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass man sie bald nach Demesne bringen würde. Die Wahrhaftige Königin war endlich gekommen, doch sie war zu spät.
Etwas kam den Abhang hinunter. Nur ein Hauch in der Dunkelheit, doch es hatte sich schon lange niemand mehr an den Fetch anschleichen können. Er wartete angespannt. Wann hatten sie zum letzten Mal ein Gespräch geführt? Vor mehr als zwei Jahrhunderten, als James Raleigh noch auf dem Thron gesessen hatte. Der Fetch hatte sehen wollen, ob Row ihn töten könnte. Das Treffen war zu einem Gemetzel geworden, doch keiner von beiden hatte einen Tropfen Blut vergossen.
Wir waren mal Freunde, erinnerte sich der Fetch plötzlich. Gute Freunde.
Doch das war schon sehr lange her. Als sich der schwarze Umriss vor ihm zu einem Mann formte, wappnete sich der Fetch. Die Siedler des Fairwitchgebirges hatten viele Mythen über die Waise ins Leben gerufen, doch wenigstens eine entsprach der Wahrheit: Man sagte, das Wesen hätte zwei Gesichter, eines hell und eines dunkel. Welches würde er heute zu sehen bekommen?
Das helle. Das Gesicht, das sich ihm zuwandte, war das, das der Fetch schon immer gekannt hatte: blass und aristokratisch. Und hinterlistig. Row hatte die Menschen schon immer einwickeln können; vor langer Zeit hatte er den Fetch zu einer der schlimmsten Entscheidungen seines Lebens überredet. Sie musterten einander schweigend auf dem windigen Abhang. Hinter ihnen erstreckte sich Mortmesne.
»Was willst du?«, fragte Row.
»Ich möchte dich davon abbringen.« Der Fetch umfasste mit einer Geste die Bergausläufer unter ihnen. »Was du da gerade treibst. Nichts Gutes wird daraus entstehen, nicht einmal für dich.«
»Woher willst du wissen, was ich gerade treibe?«
»Du bewegst dich nach Süden, Row. Ich habe gesehen, wie deine Wesen nachts durch die Dörfer von Glace-Vert gestreift sind. Ich weiß nicht, worauf du hinarbeitest, aber die armen Leute dort unten haben damit doch sicher nichts zu tun. Warum lässt du sie nicht in Ruhe?«
»Meine Kinder haben Hunger.«
Der Fetch spürte eine Bewegung zu seiner Rechten – noch einer von Rows Nachkommen, ein kleines, vielleicht zehn Jahre altes Mädchen, das auf einem Felsen kauerte und ihn beobachtete. Ihre Augen blickten starr und ohne zu blinzeln.
»Wie viele Kinder hast du mittlerweile, Row?«
»Bald eine ganze Legion.«
Der Fetch erstarrte, fühlte, wie die dunkle Leere in ihm ein wenig größer wurde. »Und was dann?«
Row lächelte nur breit. Keine Menschlichkeit lag in diesem Lächeln, und der Fetch unterdrückte den Drang zurückzuweichen.
»Du hast Tear schon einmal an den Abgrund gebracht, Row. Muss das wirklich noch einmal sein?«
»Damals hatte ich Hilfe, mein Freund. Hast du das wirklich bereits vergessen? Oder hast du dir die Absolution erteilt?«
»Ich fühle mich verantwortlich für meine Sünden und versuche, sie wiedergutzumachen.«
»Und wie gut gelingt dir das?« Row breitete die Arme aus, um das Land unter ihnen miteinzubeziehen. »Mortmesne ist nichts als eine offene Gosse. Und Tearling versinkt immer weiter.«
»Nein, das tut es nicht. Es wird gestützt.«
»Das Mädchen?« Row lachte, hohl und freudlos. »Komm schon, Gav. Das Mädchen hat nur einen einzigen loyalen Bediensteten und die Gabe, sich gut in der Öffentlichkeit zu verkaufen.«
»Mir machst du nichts vor, Row. Du fürchtest sie ebenso.«
Row schwieg lange, dann fragte er: »Was machst du hier, Gav?«
»Ich diene dem Mädchen.«
»Ah! Du hast also mal wieder die Seite gewechselt.«
Das tat weh, doch der Fetch ließ sich davon nicht reizen. »Sie hat deinen Saphir, Row. Außerdem hat sie Tears Saphir und sein Blut. Sie war dort.«
Row zögerte, seine dunklen Augen unlesbar. »Wo?«
»In der Vergangenheit. Sie hat Lily gesehen, Tear.«
»Woher weißt du das?«
»Sie hat es mir erzählt, und sie ist keine Lügnerin. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie Jonathan findet. Uns findet.«
Row antwortete nicht. Sein Blick zuckte von Fels zu Fels. Der Fetch spürte, dass er endgültig zu dem anderen Mann durchgedrungen war, und schluckte seinen Ärger hinunter. »Siehst du nicht, Row, wie das alles ändert?«
»Es ändert gar nichts.«
Der Fetch seufzte. Eine letzte Information hatte er bisher zurückgehalten, um sie wenn nötig verwenden zu können. Das hier war ein verzweifelter Schachzug, der Row aufschrecken würde. Doch die Zeiten waren hart. Die Königin war in den Händen der Mort, und ohne sie würde Tearling sich selbst zerreißen, fürchtete der Fetch, mit oder ohne Row.
»Die Krone ist wieder aufgetaucht.«
Rows Kopf zuckte nach oben, wie der Kopf eines Hundes, der etwas im Wind wittert.
»Die Krone?«
»Ja.«
»Wo?«
Der Fetch gab keine Antwort.
»Woher weißt du, dass es sich dabei nicht um die Raleigh-Krone handelt?«
»Weil ich die Raleigh-Krone vor Jahren selbst zerstört habe, um sicherzugehen, dass Thomas sie niemals trägt. Das hier ist die echte Krone, Row.«
»Meine Krone.«
Mutlosigkeit überkam den Fetch. Früher einmal hatte er diesem Mann geholfen, freudig und aus freiem Willen. Sie hatten beide schreckliche Verbrechen begangen, doch nur der Fetch hatte dafür Buße getan. Row riss alles an sich und blickte nie zurück. Einen Moment lang fragte sich der Fetch, warum er sich überhaupt die Mühe gemacht hatte, hier hochzukommen, doch er verdrängte den Gedanken und versuchte es weiter.
»Wenn wir die Krone in die Finger bekommen, Row, könnten wir sie dem Mädchen geben und alles in Ordnung bringen. Wir könnten Buße für die Vergangenheit tun.«
»Deine Schuldgefühle haben dich all die Jahre gequält, und du glaubst, dass es anderen genauso geht. Beleidige mich nicht mit einem Gewissen. Wenn meine Krone irgendwo da draußen ist, dann werde ich sie mir zurückholen.«
»Und was passiert dann? Alle Königreiche der Welt werden nicht ändern können, was uns zugestoßen ist.«
»Jetzt weiß ich, worauf du hinauswillst. Du glaubst, dass das Mädchen deinem Leben ein Ende bereiten könnte.«
»Möglich.«
»Würde sie es denn tun?« Row verzog die Lippen zu einem hinterhältigen Grinsen. »Sie ist leicht zu durchschauen, und sie ist vernarrt in dich.«
»Sie sieht nur den gutaussehenden jungen Mann.«
»Warum bist du wirklich hierhergekommen?«, fragte Row, und der Fetch sah einen roten Funken in seinen Augen aufglühen, als er näher kam. »Was hofftest du, erreichen zu können?«
»Ich hatte gehofft, wir könnten uns einigen. Hilf mir, die Krone zu finden. Hilf mir, Tearling zu heilen. Es ist niemals zu spät, Row, auch jetzt nicht.«
»Zu spät für was?«
»Um Buße für unsere Verbrechen zu tun.«
»Ich habe kein Verbrechen begangen!«, zischte Row. Der Fetch registrierte zufrieden, dass er offensichtlich einen Nerv getroffen hatte. »Ich wollte nur etwas Besseres.«
»Und Katie?«
»Du gehst jetzt besser.« Rows Augen glühten hell, er war noch blasser als zuvor geworden.
Zumindest kann er noch etwas fühlen, dachte der Fetch und erkannte gleich darauf, wie wenig das bedeutete. Keine Emotion der Welt könnte es mit Rows Hunger aufnehmen.
»Und was, wenn ich nicht gehe?«
»Dann werde ich dich meinen Kindern überlassen.«
Der Fetch warf dem kleinen Mädchen auf dem Felsen einen Blick zu. Ihre Augen glänzten beinahe fiebrig, und plötzlich war ihm unwohl. Die nackten Füße des Kindes, dessen Zehen sich an den eiskalten Felsen krallten, machten ihn betroffen, auch wenn er den Grund dafür nicht artikulieren konnte.
»Was sind sie, Row?«
»Du warst nie ein Leser, Gav. Das hier ist alte Magie, älter als die Überfahrt, sogar älter als Jesus Christus. Es sind uralte Wesen, doch sie sind mir zu Diensten.«
»Und du lässt sie auf Glace-Vert los?«
»Sie haben genauso viel Recht dazu wie die Tiere.«
Diese Aussage passte so sehr zu Row, dass der Fetch beinahe laut aufgelacht hätte. Er und Row könnten genauso gut am Ufer des Caddell stehen, vierzehn und fünfzehn Jahre alt, jeder mit einer Angelrute in der Hand.
»Geh jetzt«, sagte Row leise und voller Bösartigkeit, seine Haut so weiß, dass sie wie gebleicht aussah. »Komm mir nicht in die Quere.«
»Oder was, Row? Ich sehne mich nach dem Tod.«
»Sehnst du dich auch nach dem Tod anderer? Nach dem des Mädchens?«
Der Fetch zögerte, und Row lächelte wissend.
»Sie hat mich freigegeben, Gav, den Fluch gebrochen. Ich brauche sie nicht mehr. Wenn du mir in die Quere kommst oder sie, werde ich sie umbringen. Nichts wird mir je leichter gefallen sein.«
»Row«, bat der Fetch zu seiner eigenen Überraschung. »Bitte tu das nicht. Denk an Jonathan.«
»Jonathan ist tot, Gav. Du hast mir geholfen, ihn zu töten.«
Der Fetch holte aus und schlug zu. Row stürzte gegen einen Felsen, doch der Fetch wusste, wenn sein Gegner sich erhob, wäre er unversehrt.
»Oh, Gav«, flüsterte Row. »Hatten wir das nicht schon?«
»Nicht oft genug.«
»Du erschaffst deine neue Welt und ich meine. Wir werden sehen, wer als Sieger hervorgeht.«
»Und die Krone?«
»Meine Krone. Wenn sie da draußen ist, werde ich sie bekommen.«
Der Fetch drehte sich um und stolperte über den unebenen Abhang davon. Nach zehn Schritten merkte er, dass seine Sicht von Tränen verschleiert war. Der Wind wehte erbarmungslos. Beim Gedanken an Tearling musste er immer weinen, weshalb er sich auf andere Dinge konzentrierte.
Der Priester war seit über einem Monat verschwunden, die Spur war mittlerweile erkaltet. Seine Leute waren im gesamten Norden und zentralen Mortmesne stationiert, doch er würde einige zurückholen müssen. Lear und Morgan, vielleicht auch Howell. Der Fetch hatte die Rebellion von langer Hand geplant, die jetzt in Mortmesne tobte, doch die Krone hatte oberste Priorität. Er brauchte jeden Mann, um sie zu finden. Und dann war da noch das Mädchen …
Als er Blicke in seinem Rücken spürte, drehte er sich um, während ihm der eisige Wind noch unerbittlicher bis ins Mark fuhr. Der Abhang hinter ihm war voller kleiner Kinder mit weißen Gesichtern und dunklen Augen. Und nackten Füßen.
»Gott«, flüsterte er. Die Nacht schien voller Phantome zu sein, und er hörte Jonathan Tears Stimme, Jahrhunderte entfernt und doch sehr nah.
Wir werden nicht scheitern, Gav. Wie könnten wir es?
»Doch, wir sind gescheitert, haben versagt«, flüsterte der Fetch. »Großer Gott, was haben wir nur angerichtet.«
Er drehte sich wieder um und setzte hastig seinen unsicheren Weg den Abhang hinunter fort. Einige Male verlor er beinahe das Gleichgewicht, doch er wurde nicht langsamer. Als er den Fuß des Abhangs erreichte, rannte er los, über die Ausläufer bis zu dem Gehölz, wo er sein Pferd angebunden hatte.
Weit über ihm warteten die Kinder schweigend, ein wahres Meer, das den Abhang bedeckte. Sie atmeten gleichmäßig, ein heiseres Keuchen, das über die Felsen wehte, doch kein Atemwölkchen war zwischen ihren Lippen zu sehen.
Row Finn führte sie an und beobachtete die kleine Gestalt unter ihnen. Früher einmal hatte man Gavin leicht manipulieren können. Doch diesen Mann gab es nicht mehr, seine wahre Identität war in den Mythos um den Mann eingegangen, den man den Fetch nannte. Dieser Mann bedeutete Ärger, doch Row blieb ruhig, als er seinen Blick über den bleichen Ozean aus Kindern um sich herum schweifen ließ. Sie taten immer, wie ihnen geheißen, und sie verfügten über einen ewigen, unstillbaren Hunger. Sie warteten nur auf seinen Befehl.
»Die Krone«, sagte er leise und spürte, wie Erregung durch ihn pulsierte, ein Gefühl aus der Vergangenheit: Die Jagd war eröffnet, mitsamt ihren blutigen Versprechen. Fast dreihundert Jahre hatte er gewartet.
»Geht.«