n den zwei Jahren seit William Tears Tod hatte Katie Rice vieles gelernt. Sie wich Jonathan nicht von der Seite, und dieser wusste manche Dinge einfach. Doch es steckte noch mehr dahinter. Manchmal hatte Katie das Gefühl, im versteckten Herzen der Stadt zu existieren, an einem Punkt, an dem alle Geheimnisse der Stadt begraben waren, und mittlerweile kannte sie auch viele, die sie lieber nicht gewusst hätte.
Zum Beispiel jenes, dass, als Lily Tear kurz vor der Niederkunft stand, Jonathan und die Hebamme Mrs. Johnson einen Kaiserschnitt versuchten. Das Ergebnis war grauenhaft, und Lily starb unter furchtbaren Schmerzen und Schreien. Katie würde diese Schreie bis an ihr Lebensende hören, aber das war noch nicht das Schlimmste. Im letzten Moment hatte Jonathan einen Gedanken gehegt, verschleiert von Verzweiflung und dennoch so klar und deutlich, dass Katie ihn beinahe so mühelos lesen konnte, als hätte er ihn niedergeschrieben:
Wir versagen.
Katie wusste nicht, was er damit meinte. Lilys Tod war nicht Jonathans Schuld; wenn überhaupt, dann war es die Schuld seines Vaters, weil er nicht mit Ärzten zurückgekehrt war, weil er das Weiße Schiff nicht sicher durch die Überfahrt gelotst hatte – auch wenn Katie das nicht glauben konnte, nicht mit der Erinnerung an Tears gequältes Gesicht. Er hatte sich bereits bestraft. Jonathan konnte man nichts vorwerfen, aber Katie wusste, dass er sich die Schuld am Tod seiner Mutter gab. Niemand war eine Insel – und Jonathan war zumindest eine Landenge, und Katie versuchte nicht, ihm die Schuldgefühle auszureden. Er würde sich nicht getröstet fühlen und musste selbst im Lauf der Zeit damit zurechtkommen. Katie kannte ihn mittlerweile gut genug.
Zwei weitere Kinder waren verschwunden: Annie Bellam, auf dem Weg von der Molkerei in die Stadt, und Jill McIntyre, die beim Schulhof Verstecken gespielt hatte. Beide waren spurlos verschwunden. Das allein war schon furchtbar, doch von Jonathan wusste Katie, dass wieder Gräber auf dem Friedhof geschändet worden waren, fünfzehn waren im Lauf der letzten vierzehn Monate aufgegraben worden. In allen waren Kinder bestattet. Die Stadt wusste nichts von den neuen Zwischenfällen – Katie hatte persönlich einige der Gräber wieder zugeschüttet und die Grabspuren mit Laub verwischt. Was aber auch nichts geholfen hatte, denn nach dem Verschwinden der kleinen McIntyre hatten sich die Christen immer mehr aufgespielt. Paul Annescott – oder Bruder Paul, wie er sich jetzt nannte – behauptete, die verschwundenen Kinder seien eine Strafe für die Stadt wegen ihres schwachen Glaubens. Das überraschte Katie nicht; erschütternder war die Zahl der Leute, die ihm zuhörten. Ihre Befürchtungen bewahrheiteten sich: Ohne William Tear gab es keine Stimme, die stark genug war, um sich der zunehmend hysterischen Rhetorik der Gläubigen entgegenzustellen. Mum und Jonathan versuchten es. Jonathan besaß zwar nicht die fast schon magische Überzeugungsgabe seines Vaters, doch er konnte wenn nötig sehr eindringlich sprechen, mit leiser und logischer Stimme, der Stimme eines Mannes, der nur das Beste für alle wollte. Das war allerdings nicht genug. Vor acht Monaten hatten einige hundert Einwohner mit dem Bau einer Kirche begonnen, einem kleinen weißen Schindelgebäude am Südrand der Stadt, das mittlerweile fertiggestellt war. Jeden Morgen predigte Annescott dort. Er hatte seine Arbeit als Imker aufgegeben, und niemand wagte es, dagegen Einspruch zu erheben, nicht einmal Jonathan. Katie hatte viel gelernt, doch sie wusste nicht, wie man das, woran die Stadt krankte, wieder in Ordnung bringen konnte. Sie hoffte, dass Jonathan eine Lösung hatte; sie war sich aber nicht sicher, und sie hatte das unangenehme Gefühl, dass der Rest von Jonathans Leibwache ebenso sehr zweifelte.
Gavin war am schlimmsten. Er beschwerte sich ständig über die Schichten, die Katie ihm zuteilte, wie unvereinbar sie mit seinen Pflichten in der Kirche waren. Wenn sie gewusst hätte, dass er so gläubig werden würde, hätte sie ihn niemals ausgewählt, doch jetzt konnte sie ihn nicht entlassen. Er war immer noch der beste Messerkämpfer der Gruppe, und Morgan und Lear bewunderten ihn beinahe so sehr, wie sie zu Jonathan aufsahen. (Vielleicht sogar noch mehr, dachte Katie oft im Stillen, und sie schauderte bei der Vorstellung, da daraus nichts Gutes entstehen konnte.) Dabei zogen sie Alain und Howell mit, die sich immer nach der Mehrheit richteten. Virginia war weiterhin Katies treue Verbündete, aber selbst das erschien ihr wie ein Versagen; sie hatte nur die Loyalität der einzigen weiteren Frau in der Gruppe halten können, nicht die der Männer. Sie wusste nicht, ob es eine Geschlechtersache war, fürchtete aber, dass Tear enttäuscht gewesen wäre. Früher oder später würde Gavin ihr die Führungsrolle streitig machen wollen, und Katie hatte keine Ahnung, wie sie eine solche Herausforderung abwehren sollte. Jonathan würde ihr den Rücken stärken, doch Katie sollte auch allein ihre Position verteidigen können. Jonathans Unterstützung würde ihre Autorität nur noch mehr untergraben. Ihre Gedanken kreisten endlos um diese Frage, und sie kam zu keiner Lösung, bei der Gavin weiterhin zur Leibwache gehören durfte.
Natürlich drang nichts von diesen Unstimmigkeiten nach draußen. Für die Stadt waren die sieben jungen Leute einfach Jonathans Freunde, von denen ihn immer einer begleitete. Nachts schlief immer einer auf dem zweiten Bett, das man in Jonathans Wohnzimmer gestellt hatte. Die Nachtschichten waren sehr unbeliebt, und Katie wusste, dass die meisten von ihnen – zumindest Gavin und seine Leute – sie für übervorsichtig hielten. Katie war das egal. Es gab immer noch keine Anzeichen für die Gewalt, die William Tear vorhergesehen hatte, doch sie hegte keinerlei Zweifel, dass sie eintreffen würde, und war wild entschlossen, sie so früh wie möglich aufzuspüren. Sie hatte Tear ein Versprechen gegeben, das jetzt nach seinem Tod unendlich viel schwerer wog. An manchen Tagen hatte sie immer noch das Gefühl, sie und die anderen wären Kinder, die ein Erwachsenenspiel spielten, doch es gab keine Alternative. Niemand anders konnte diese Aufgabe erledigen.
Sie wusste, dass Row Finn zwei Expeditionen mit Jen Devlins Mannschaft absolviert hatte und dass er vor einem Monat auf eine dritte aufgebrochen war. Aufgrund ihrer früheren Freundschaft wusste sie, dass Row sich genauso wenig für die Erforschung der Berge interessierte wie sie selbst. Erst Jonathan hatte ihr verraten, was Row wirklich da draußen suchte: Saphire, dieselbe Art, wie sie um Jonathans Hals hing. Jeder hatte gelegentlich kleine Stückchen gefunden; sie schienen das Fundament der Stadt zu bilden. Doch in den Bergen war der Saphir viel leichter zugänglich und in größeren Brocken abbaubar. Jonathan wusste es, also wusste auch Katie es, aber ihr war nicht ganz klar, was Row mit den Saphiren machen wollte, wenn er welche fand und zurückbrachte. Sie kannte Row gut genug, um zu wissen, dass er alles von Wert in dieser Welt für sich haben wollen würde, weshalb sie ihren alten Freund in den letzten zwei Jahren mit etwas Schlimmerem als Bedauern betrachtet hatte: Misstrauen.
Wenn Row sich nicht in den Bergen herumtrieb, ging er jeden Tag in die Kirche. Er war dort so beliebt, dass Paul Annescott ihn manchmal predigen ließ. Katie hatte ihm einige Male zugehört, auch wenn sie dafür nur einen Platz bei einigen Eichen auf der anderen Straßenseite gefunden hatte. Die Menschen strömten in Scharen zu Rows Predigten und drängten sich sogar auf der Kirchenveranda. Katie hörte zu und kaute an den Nägeln, während Rows Stimme durch die Menschenmenge nach draußen dröhnte. Er sprach von den Auserwählten, von Menschen, die besser waren und mehr verdienten. Selbst Katie musste zugeben, dass seine Stimme wahrlich die eines Predigers war, tief und voller Emotionen, die Katies Vermutung nach alle gespielt waren. Seine Worte hatten einen gewissen rücksichtslosen Unterton, den außer Katie wahrscheinlich niemand heraushörte; sie hatte ihn schließlich einmal besser als jeder andere gekannt. Er war immer ein perfekter Schauspieler gewesen; nun war nur die Frage, wie viel von dem Jungen sich jetzt in dem erwachsenen Mann wiederfand. Von Gavin wusste Katie, dass die Kirche Rows Expeditionen ins Gebirge als Pilgerreisen akzeptierte, eine vierzigtägige Wanderung in der Wildnis oder so. Auch das bereitete ihr Unbehagen. Row würde die Parallele zu Christus nur zu gut gefallen; er hatte sich schon immer um einen gewissen Status in der Stadt betrogen gefühlt gehabt. Wenn Row seine Kirche hinters Licht führen wollte, war Katie das nur recht, doch die Vorstellung, dass so viele Menschen nach der Pfeife eines Einzelnen tanzen konnten, bedeutete eine grundsätzliche Gefahr.
Für Jonathan?
Sie wusste es nicht. In gewisser Hinsicht war Jonathan das größte Rätsel. Katie fragte sich oft, warum er eine Leibwache benötigte, wenn er so viel mehr wusste, so viel mehr sah als alle anderen. Manchmal hatte es den Anschein, als wäre seine Bewachung nur Fassade, aber Katie wusste nicht, wen sie hinters Licht zu führen versuchten. Manchmal fragte sie sich sogar, ob William Tear überhaupt irgendeinen Plan verfolgt oder ob er sie einfach ins Blaue hinein ausgebildet hatte. Katie konnte jetzt einen Menschen mit bloßen Händen töten, doch wie sollte das irgendjemandem nützen, wenn sie den Feind, den sie bekämpfte, nicht einmal sehen konnte?
»Was ist nur los mit diesem Ort?«, wollte sie eines Tages auf dem Weg zur Bibliothek von Jonathan wissen. Man lächelte und winkte ihnen zu, doch Katie spürte die große Leere hinter diesen Grüßen, fühlte, dass das Lächeln der Menschen in dem Moment erstarb, in dem sie sich abwandten. Etwas hatte sich verändert in der Stadt, und Katie konnte dem nicht auf den Grund gehen.
»Sie haben es vergessen«, antwortete Jonathan. »Sie haben die erste Lektion der Überfahrt vergessen.«
»Und wie lautete die?« Katie hasste es, wenn Jonathan von der Überfahrt sprach. Er wusste viel mehr als jeder andere in ihrem Alter darüber, gab sein Wissen aber nur bruchstückhaft weiter.
»Wir kümmern uns umeinander.« Jonathan schüttelte den Kopf. »Selbst die ursprünglichen Mitglieder des Blauen Horizontes scheinen das vergessen zu haben.«
»Mum nicht!«, erwiderte Katie scharf. »Sie weiß es immer noch.«
»Das hilft nur nicht viel.«
»Was soll das heißen?«
Plötzlich nahm Jonathan ihre Hand. Katies erster Impuls war, sie zurückzuziehen, doch sie unterdrückte ihn. Jonathans Hand war warm, fühlte sich nicht unangenehm an, und letztendlich war es auch egal, ob man sie Händchen halten sah. Die halbe Stadt dachte sowieso, dass sie miteinander schliefen, worüber sich die restliche Leibwache immer köstlich amüsierte.
»Deine Mum ist gebrochen, Katie«, sagte er. »Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber sie hat ihr Leben meinem Vater verschrieben, und ohne ihn weiß sie nichts mehr mit sich anzufangen.«
Katie wollte schon Einspruch erheben, eine Stimme in ihrem Inneren brachte sie aber zum Schweigen, die ihr auch in zunehmendem Maß verbot, sich gegen unangenehme Wahrheiten aufzulehnen. Jedes Jahr war die Stimme stärker geworden; Katie wehrte sich manchmal dagegen, doch sie war oft nützlich, vor allem in einer Stadt, in der jetzt so viel von pragmatischer Politik abhing. Mum ging es wirklich nicht gut, schon seit William Tears Abreise. Sie erledigte die täglichen Aufgaben, doch sie lächelte kaum mehr, und Katie hatte sie zum letzten Mal vor Monaten lachen hören. Mum war tatsächlich gebrochen, und damit war sie nicht allein. Tears Abreise hatte der Stadt das Herz herausgerissen, und je länger er abwesend war, desto mehr sah Katie die Gemeinschaft als ein Wolfsrudel, das um die Überreste kämpfte.
Bei der letzten Versammlung hatte Todd Perry eine Abstimmung zum öffentlichen Tragen von Messern in der Stadt gefordert. Jonathan, Katie und Virginia hatten großen Einfluss auf die Seite der Gegner ausüben können, sodass der Antrag mit geringer Mehrheit abgelehnt wurde. Doch sie konnten sich nichts vormachen, aus welcher Richtung der Wind mittlerweile wehte.
»Ich hasse sie manchmal«, sagte Jonathan leise. »Mein Vater hätte nicht so empfunden, aber ich tue es. Manchmal denke ich: Wenn sie unbedingt bewaffnet durch die Stadt laufen, Zäune bauen und sich von einer Kirche sagen lassen wollen, was sie zu tun haben, dann sollen sie doch. Sie können sich ihre eigene Stadt voll Engstirnigkeit bauen und dort leben und irgendwann herausfinden, was sie damit angerichtet haben. Das ist nicht mein Problem.«
Einen Moment war Katie zu schockiert, um zu antworten, denn so etwas hatte Jonathan noch nie zuvor geäußert. Bei seiner Leibwache war er ein unerschütterlicher Optimist; alles konnte in Ordnung gebracht werden. Katie hörte erschrocken die Hoffnungslosigkeit hinter seinen Worten. Sie hatte William Tear versprochen, Jonathan zu beschützen, und sie hatte immer angenommen, dass dieser Schutz, sollte es dazu kommen, mit Messern stattfinden würde. Jetzt fragte sie sich, ob Tear vielleicht nicht genau diesen Moment gemeint haben könnte. Sie dachte an den Abend auf der Bank zurück, fünf Jahre war das jetzt her, wie sie den Saphir in der Hand hielt. Hatte Tear es schon da gewusst?
»Du hast recht«, sagte sie schließlich. »Dein Vater hätte anders empfunden.«
»Ich bin nicht mein Vater.«
»Das spielt keine Rolle, Jonathan. Du bist alles, was wir noch haben.«
»Ich will es aber nicht!«, erwiderte er aufgebracht und ließ ihre Hand los. Sie waren vor der Bibliothek angekommen, und bei der Schärfe in Jonathans Stimme sahen einige Kinder, die auf der Bank vor dem Gebäude saßen, aufmerksam auf, so, als würden sie einen Streit wittern.
»Was für ein Pech«, antwortete Katie. Sie hatte ehrliches Mitgefühl mit Jonathan – und manchmal dachte sie nachts in ihrem schmalen Bett, dass sie überhaupt einige Gefühle für ihn hatte –, doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Eine Leibwache war wie eine Steinmauer, und guter Stein gab nicht nach. Eher brach er in der Mitte auseinander, bevor er auch nur einen Zentimeter zurückwich. Sie senkte die Stimme, sich der aufmerksamen kleinen Zuhörer auf der Bank bewusst, die die Unterhaltung sofort an ihre Eltern weitergeben würden.
»Keiner will kämpfen, Jonathan. Aber wenn es dich betrifft und ein gerechter Kampf ist, dann drückt man sich nicht.«
»Was, wenn wir verlieren werden?«
»Das weißt du doch nicht.«
»Tatsächlich?« Seine Hand lag mittlerweile auf seiner Brust, wo der Saphir unter dem Hemd ruhte. Die Verzweiflung in dieser Geste, die Abhängigkeit, die sie offenbarte, machte Katie plötzlich wütend. Sie zog seine Hand weg, wobei sie sich als Heuchlerin fühlte, denn sie verstand seinen Hass, seine Verachtung für diese Menschen, die zu dumm waren, um zu wissen, dass sich ihre Zukunft auf Messers Schneide befand, eine Zukunft, die von der Kluft zwischen Arm und Reich beherrscht werden würde, von Gewalt und Schwertern, von Menschen, die ge- und verkauft wurden …
Woher weißt du das?
Keine Ahnung, aber ich weiß es.
Es war, als befände sich jemand in ihrem Kopf, mit all dem Wissen über die Zukunft, das ihr Übelkeit bereitete. Sie drängte die Gedanken zurück und konzentrierte sich auf Jonathan.
»Du weißt überhaupt nichts«, zischte sie. »Ich gebe einen Scheiß auf Magie oder Visionen. Die Zukunft ist nicht in Stein gemeißelt. Wir können sie jederzeit ändern.«
Jonathan sah sie lange an und verzog schließlich den Mund zu einem unerwarteten Lächeln.
»Lachst du über mich?«, wollte Katie wissen.
»Nein«, antwortete er. »Ich habe mich nur an etwas erinnert, das mein Vater vor seiner Abreise gesagt hat.«
»Und was war das?«
»Er sagte, ich hätte die richtige Leibwache gewählt. Dass du uns hier durchbringen würdest.«
Katie war sprachlos. Ihre Wut verblasste, und plötzlich war sie unbeschreiblich gerührt von der Entdeckung, dass sie nach all diesen Jahren in William Tears Augen bestanden hatte. Er hatte sie ausgewählt, seinen Sohn zu beschützen.
»Die Krise ist überstanden«, murmelte Jonathan und schüttelte kläglich den Kopf. »Nur nicht für lange. Du glaubst vielleicht nicht an meine Visionen, aber ich weiß, wenn sich Ärger zusammenbraut, und hier kommt gerade gewaltig etwas auf uns zu.«
Er wusste es, musste Katie sich widerwillig eingestehen, schüttelte dann aber den Gedanken ab und nahm wieder seine Hand, um ihn zur Bibliothek zu ziehen. »Heute Nachmittag nicht, du Hellseher. Jetzt beeil dich.«
Drei Tage später kam Row Finn allein in die Stadt zurück.
Er wog sicher fünfzehn Kilo weniger, seine Kleidung war zerrissen und verschmutzt, und sein Rucksack sah auch nicht besser aus. Er stolperte langsam voran und schien nicht bei Sinnen zu sein. Als er Ben Markham und Elisa Wu erblickte, die am Ufer des Caddell fischten, brach er zusammen.
Die Geschichte verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Stadt. Laut Mrs. Finn, die ihren Sohn eifersüchtig vor Besuchern abschirmte, hatte sich die Forschungsgruppe im Hochgebirge verlaufen. Einer nach dem anderen war den Naturgewalten und dem Hunger erlegen. Row hatte als Einziger überlebt, und auch nur durch einen Zufall hatte er einen engen Pfad gefunden, der ihn wieder zurück nach unten führte. Auf dem Heimweg hatte er sich von Wurzeln und Beeren ernährt, die er in den Wäldern gesammelt hatte.
Die Stadt glaubte ihm. Katie nicht.
Sie hatte Row noch nicht gesehen, allerdings viel gehört. Seine Kirche scharte sich um ihn, um ihn aufzupäppeln. Virginia, die Row vor zwei Tagen besucht hatte, erzählte, dass das Haus voller Lebensmittel, Gebäck und Suppen war.
»Und Frauen«, fügte Virginia grimmig hinzu. »Furchtbar viele Frauen in dieser Kirche genießen den Anblick eines ans Bett gefesselten Row Finn, das kann ich dir sagen.«
Für die übrigen elf Teilnehmer der Expedition, deren größter Verlust Jen Devlin war, hielt die Stadt in einem seltenen Moment der Einheit eine Trauerfeier ab, während der Katie keine Träne vergoss und auch nicht den Reden zu Ehren der Verstorbenen lauschte, sondern das Finn-Haus im Auge behielt, das sich zwei Straßen unter ihnen befand. Sie wollte Row unbedingt befragen – ohne Zuhörer. Das Gespräch würde nicht friedlich verlaufen. Sie wollte ihren alten Freund nicht verdächtigen, doch sie konnte nichts dagegen tun.
Allerdings ergab sich erst über eine Woche später die Gelegenheit zu einem Gespräch unter vier Augen. Rows Kirche hatte sich für zwei Tage zu einem Gebetskreis auf die Ebene zurückgezogen, und seine Mutter war zum Kartenspielen gegangen. Dank Rows Schicksal war Mrs. Finn gerade ein gern gesehener Gast, und Katie verabscheute die Frau nur noch mehr, weil sie sich verzweifelt an ihre flüchtige Beliebtheit klammerte. Bei dem Anblick, wie sie fröhlich einigen Frauen folgte, die bis jetzt nichts mit ihr zu tun hatten wollen, hätte Katie die Frau am liebsten geschüttelt.
Ohne zu klopfen, betrat sie das Haus der Finns. Sie fand Row in seinem Zimmer, wo er mit geschlossenen Augen und engelsgleichem Gesichtsausdruck im Bett lag. Das verlorene Gewicht ließ ihn nur noch besser aussehen, seine Wangenknochen waren wie gemeißelt. Katie fragte sich, was wohl ohne dieses Gesicht aus Row geworden wäre.
»Ich weiß, dass du mir was vorspielst, Row.«
Er riss die Augen auf und lächelte. »Das weißt du immer, nicht wahr, Katie?«
»Bei dir ja.« Sie zog sich einen der verstreut im Raum stehenden Stühle ans Bett. »Versteckst du dich vor deinem Besuch?«
»Sie ermüden mich.«
Katie sah sich im Raum um, bemerkte die Blumensträuße und das Gebäck und schnaubte verächtlich. »Ich schätze, das bringt das Dasein als neuer Messias mit sich, oder?«
»Ich bin nicht der Messias«, erwiderte Row mit einem freundlichen Lächeln, doch in seinen Augen stand der alte Schalk. »Nur ein gläubiger Mann.«
»Warum erzählst du mir nicht, was da draußen passiert ist?«
»Das weiß doch mittlerweile die ganze Stadt.«
»Das stimmt.« Sie lächelte, wenn auch nicht so ehrlich wie Row. »Aber ich würde gern deine Version der Geschichte hören.«
»Traust du mir nicht, Katie?«
»Weich nicht aus, Row. Was ist wirklich passiert?«
Er erzählte ihr im Großen und Ganzen dieselbe Geschichte, die sie bereits kannte: wie die Expedition sich in den Bergen verirrt hatte und langsam an Kälte und Hunger zugrunde ging. Er hatte sich sein Essen sorgfältig eingeteilt und sich an den zwei Pferden gewärmt, bis auch diese starben. An zwei Punkten hatte Katie das Gefühl, dass Row es mit der Wahrheit nicht so genau nahm: dem rationierten Essen und dem Pfad, der bergab geführt hatte. Doch Katie konnte ihn keiner Lüge überführen, und schließlich gab sie auf und lehnte sich unzufrieden zurück.
»Hast du mich vermisst, Katie?«
Sie blinzelte. Sie hatte ihn tatsächlich vermisst, auch wenn ihr das erst in diesem Moment bewusst wurde. Alles war spannender, wenn Row dabei war; das hatte sich nicht geändert, auch wenn sonst alles anders war. Doch gleichzeitig schien die Stadt ohne Row auch sicherer zu sein.
»Ich habe dich vermisst, Katie.«
»Warum?«
»Weil du mich kennst. Es ist nützlich, wenn alle denken, wie gut man doch sei, aber es ist auch ermüdend.«
»Ich wusste, dass dieser ganze Kirchenquatsch eine Lüge war.«
»Bruder Paul hat nicht mehr lange zu leben.«
Katie blinzelte bei dem abrupten Themenwechsel. »Warum?«
»Er hat Krebs, denkt Mr. Miller. Dieses Jahr könnte er noch schaffen, aber nicht viel länger, und der Schmerz könnte ihn auch dazu bewegen, sich schon weit vorher das Leben zu nehmen.«
»Darf er das denn? Ich dachte, das wäre eine Sünde.«
»Vielleicht, doch für die meisten Menschen ist der Glaube sehr dehnbar.«
»Das habe ich bemerkt.«
Row grinste. »Es muss nichts Schlechtes sein, Katie. Die Gläubigen sind einfach. Einfach zu überzeugen, einfach zu lenken, einfach auszurangieren. Wenn Bruder Paul stirbt, überträgt er die Leitung der Kirche mir.«
»Und inwiefern betrifft mich das?«, fragte Katie gelassen; innerlich war ihr eiskalt geworden. Sie dachte an die überfüllte Kirche bei Rows Predigten, die vielen Menschen, die sich auf der Veranda drängten.
Wie viele das wohl waren?, dachte sie. Dreihundert? Vierhundert?
»Du könntest mir helfen, Katie.«
»Nein.«
»Denk darüber nach. Gott hat diese Menschen formbar gemacht. Sie werden jedes Wort von Bruder Paul glauben.«
»Oder von dir.«
»Oder von mir. Wir könnten uns das so sehr zunutze machen!«
»Um was damit zu erreichen, Row?«
Er nahm ihre Hand. Vor ein paar Minuten hatte sie noch mit dem neuen Row gesprochen, der charmant und falsch war. Jetzt jedoch meinte er es ernst, was es irgendwie noch schlimmer machte. Sie würde es lieber von einem Feind hören und nicht von ihrem alten Freund. Sie wollte ihm ihre Hand gerade entziehen, als er eine Silberkette unter seinem Hemd hervorzog. Ein Saphir glitzerte im Nachmittagslicht.
»Woher hast du den?«, wollte Katie wissen. »Das ist doch Jonathans!«
»Nein, er gehört mir. Ich habe meinen eigenen angefertigt.«
»Wie?«
»Du hast immer gedacht, William Tear wäre perfekt«, sagte Row lachend. »Das war er nicht.«
Das war keine Antwort auf ihre Frage, aber Katie runzelte dennoch die Stirn, denn sie spürte eine kunstvolle Mischung aus Wahrheit und Lüge in Rows Aussage, ahnte, dass sich eine Antwort dahinter verbarg, die sie erst noch entschlüsseln musste.
»Bei mir funktioniert er genauso wie bei Jonathan«, sagte Row. »Ich sehe Dinge. Ich weiß Dinge. Ich weiß, dass der große Heilige tot ist.«
Katie sprang auf und stieß dabei ihren Stuhl um. Dann packte sie Row an den Schultern und stieß ihn gegen das Kopfteil des Bettes.
»Du hältst den Mund, Row.«
»Denk darüber nach, Katie«, meinte er ungerührt. »Tear ist tot. Die Stadt, von der wir immer gesprochen haben, die Stadt, in der kluge Menschen wie wir die Führung hätten und denen die anderen folgen würden. Das könnten wir jetzt verwirklichen.«
Katie wollte einwenden, dass sie nie solche Gedanken gehegt hatte, doch das stimmte nicht. Als sie noch jünger war, hatte sie so viel Schreckliches gedacht. Die Erinnerung daran schmerzte. Row nahm ihre Hände von seinen Schultern, und erst jetzt erkannte Katie, dass er trotz der Hungerzeit viel stärker war als sie. Außerdem sah sie Teufelei in seinen Augen … und bei Weitem nicht mehr so harmlos wie früher, als sie noch Kinder waren. Er verstaute die Silberkette mit dem Saphir wieder unter seinem Hemd.
»Was ist mit den Nichtgläubigen, den Menschen, die nicht zu deiner Kirche gehören? Glaubst du, die schauen einfach zu?«
»Sie werden nicht mehr hier sein.«
Die Sicherheit in seiner Stimme jagte ihr einen eisigen Schauder über den Rücken, denn sie verhieß eine unbestimmte Gewalt.
»Und was ist mit mir, Row?«
»Ach, Rapunzel. Ich würde nie zulassen, dass dir etwas geschieht.« Er grinste schief, wie der alte Row, und einen Moment wurde Katies Verdacht unter Nostalgie begraben. Sie hatten sich einmal so nahegestanden!
»Was sagst du, Katie?«
Trotz allem war sie einen Moment lang versucht einzuwilligen, denn selbst jetzt hatte Rows Vision immer noch die Kraft, sie schwanken zu lassen: der Ort, über den sie jahrelang gesprochen hatten, eine wahre Leistungsgesellschaft, die keine von Tears missverständlichen Ideen stören konnte. Sie und Row hatten ihn zusammen entworfen, ihn wie ein Schloss in ihren Köpfen errichtet.
Aber ich bin jetzt ein anderer Mensch, erkannte Katie. Die Feindseligkeit von früher hat keine Macht mehr über mich, ich kann sie gehen lassen.
Aber konnte sie das wirklich? All die Verachtung, die sie den Menschen in der Stadt entgegenbrachte – Dummköpfe mit so wenig Gefühl für sich selbst, dass sie an einen unsichtbaren Gott glauben mussten, der sich in den Schlafzimmern der Menschen herumtrieb –, überwältigte sie plötzlich, und sie sah Rows Vision vor sich: eine Stadt, in der solche Menschen keine Rechte hatten, in der ihre eigene Dummheit so reglementiert war, damit sie niemandem Schaden zufügen konnten. Wie schön wäre es, in einer Stadt zu leben, in der schwache Geister bestraft würden, in der Menschen wie Row und Jonathan …
Wer ist hier jetzt der Dummkopf?, schaltete sich ihre innere Stimme ein. Jonathan? Glaubst du wirklich, in Rows Paradies wäre Platz für Jonathan Tear?
Die Realität holte Katie mit einem Schlag ein. Sie wusste nicht, wie Row seinen großartigen Plan in die Tat umsetzen wollte, doch sie kannte ihren alten Freund. Er hatte die Tears immer gehasst, das Bild von ihnen noch mehr als die Menschen selbst. Jonathan war zwar nicht William Tear, aber er war viel zu gefährlich, um in Rows Königreich bleiben zu dürfen.
Katie stand von dem Stuhl auf, auf den sie sich wieder gesetzt hatte, und spürte, wie lange vergrabener Kummer sich durch ihr Inneres fraß. Vor all diesen Jahren hatte sie gewusst, dass sie eines Tages würde wählen müssen. Nur hatte sie nicht gewusst, dass heute dieser Tag war.
»Ich kann dich nicht begleiten, Row«, erklärte sie. »Ich diene Jonathan Tear.«
Rows Gesicht verfinsterte sich für einen Moment, dann setzte er wieder seine gespielte fröhliche Miene auf.
»Ach ja, die berühmte Kampftruppe.«
Katie schnappte nach Luft.
»Hast du wirklich geglaubt, ich würde es nicht herausfinden, Katie? In dieser Stadt gibt es keine Geheimnisse. Ich habe immer gewusst, dass Tear ein Lügner war, du aber nicht, oder?«
»Er war kein Lügner!«, schrie sie aufgebracht. »Wir beschützen Jonathan!«
Row lächelte milde, als wäre sie nur ein Kind. »Natürlich, das hat Tear euch erzählt. Aber denk doch mal nach, Katie. Es sieht zwar nach einer Leibwache aus, aber in Wirklichkeit hat Tear eine Polizeitruppe ausgebildet. Eine geheime Polizeitruppe, der sein Sohn vorsteht. Was für eine Utopie braucht eine Geheimpolizei?«
»Du glaubst, ich weiß nicht, dass du eifersüchtig auf Jonathan bist?«, schleuderte Katie ihm entgegen und sah befriedigt, wie sich sein Gesicht verdunkelte. »Du warst schon immer eifersüchtig auf ihn und wolltest das, was er hat!«
»Und was ist mit dir?«
»Ich diene den Tears«, wiederholte Katie stur. »Ich diene Jonathan.«
Row lachte laut auf. »Siehst du, Katie? Du bist auch eine der Gläubigen!«
Katie packte ihn wieder bei den Schultern, wollte ihn aus dem Bett zerren. In diesem Moment hasste sie Row so sehr, denn sie spürte bereits, wie sich seine Worte in ihren Geist bohrten und Zweifel in ihr säten. Nach einem Moment gab sie ihn jedoch frei und zog sich zurück. Jonathan würde es überhaupt nichts nützen, wenn sie jetzt einen Streit mit dem Liebling der Christen vom Zaun brach.
Row streckte sich und stieg aus dem Bett. Unter seinem Hemd war er nackt; Katie wollte rasch den Blick abwenden, doch der kurze Blick entfachte ein brennendes Feuer in ihrem Inneren. Dann schämte sie sich. Das hier war ihr ältester Freund; was war nur mit ihnen geschehen? Wann hatte sich alles geändert?
»Na, Katie, hast du schon einen Fehler an deinem Messias gefunden?«
»Halt dich von Jonathan fern. Komm ihm bloß nicht zu nahe.«
»Das werde ich auch nicht müssen, Katie«, erwiderte Row grinsend. Dieses Grinsen wirkte jedoch nicht mehr anziehend, sondern reptilienartig. Sie wandte sich ab, und einen Moment später zuckte ihr ganzer Körper, als Row eine Hand zwischen ihre Beine schob.
»Du willst mich, Katie.«
»Das stimmt nicht.«
»Es muss ermüdend sein, seine ganze Zeit an einen zweitklassigen William Tear zu verschwenden. Willst du nicht aufsteigen?«
Katie ballte die Fäuste. Unter der Erregung brodelte die Wut darüber, dass er sie offensichtlich für eine Idiotin hielt, dass er sie genauso wie die unzähligen anderen Frauen in der Stadt behandelte, die ihm bereits erlegen waren. Sie waren keine Freunde mehr, aber sie verdiente etwas Besseres.
»Tears Paradies wird in Jonathans Händen zerfallen, Katie, genau wie ich es vorhergesehen habe. Und an wen werden sich die Menschen dann in dem Chaos wenden, wenn nicht an Gott?«
Ungeschickt stürzte sie aus Rows Zimmer und stieß dabei mit der Schulter gegen den Türrahmen.
»Denk darüber nach, Katie!«, rief Row ihr hinterher. »Du befindest dich auf einem sinkenden Schiff! Komm auf meins, und du wirst schon sehen, wie weit wir segeln werden!«
Katie hastete den Flur entlang, Tränen verschleierten ihren Blick. Auf der Verandatreppe drängte sie sich an Mrs. Finn und einigen anderen Frauen vorbei und konnte sich nur zu einer gemurmelten Entschuldigung durchringen, nicht zu freundlichen Worten der Begrüßung. Am Fuß der Treppe angekommen, begann sie zu rennen.
Lady.«
Mace’ Stimme. Das war gut, denn selbst hier am Ende der Welt hätte sie Mace gern ein letztes Mal gesehen.
»Ich weiß, dass Ihr mich hören könnt, Lady. Wacht Ihr jetzt endlich auf?«
Kelsea wollte nicht aufwachen. Sie spürte William Tears Saphir auf der Brust, beinahe wie ein Gefährte auf wundersamen Reisen, doch allmählich glaubte sie, dass sie den Stein niemals benötigt hatte, um in die Vergangenheit zu sehen, denn jetzt waren alle bei ihr: Tear, Jonathan, Lily, Katie, Dorian … sogar Row Finn.
»Lady, wenn Ihr nicht aufwacht, muss ich Euch taufen.«
Sie riss die Augen auf und sah, dass Mace neben ihrem Bett saß und eine Kerze in der Hand hielt. Um ihn herum herrschte Dunkelheit. Rasch setzte sie sich auf.
»Lazarus? Seid Ihr es wirklich?«
»Natürlich ist er es.« Coryn trat aus den Schatten. »Als ob diese Schultern jemand anderem gehören könnten.«
Kelsea streckte die Hand nach Mace aus, doch er ergriff sie nicht. Lange sahen sie einander an.
»Ich warte draußen«, murmelte Coryn. »Schön, dass es Euch gut geht, Lady.«
Als er die Tür öffnete, sah Kelsea ein Stück vom Fackellicht erleuchteten Korridor. Dann schloss er die Tür, und sie und Mace starrten einander wieder an. Sie musste plötzlich an den Tag auf der Brücke zurückdenken, eine schmerzvolle Erinnerung. Die Kluft zwischen ihnen war tief gewesen, jetzt fühlte sie sich noch tiefer an. Sie las Misstrauen in seinen Augen, was sehr viel schlimmer war als seine legendäre Wut.
»Wo sind wir?«
»Im Haus einer Frau, die Eurer Mutter gegenüber immer loyal war. Lady Chilton.«
»Wir sind nicht mehr in Gin Reach?«
»Nein, Lady, etwa einen Tagesritt nördlich, in der südlichen Almontebene. Ihr wart auf Wanderung, seit wir Euch vor drei Tagen gefunden haben.«
»Drei Tage!«
»Ja, es war lang, und ich denke, wir sollten Pen bald hereinlassen, sonst kaut er noch an den Möbeln.« Obwohl Mace lächelte, blickten seine Augen weiterhin ernst.
»Ihr habt mich nicht vergessen, Lazarus.«
Er schwieg.
»Was hätte ich denn tun sollen?«
»Es uns sagen, verdammt! Ich wäre mit Euch gegangen.«
»Natürlich wärt Ihr das, Lazarus. Aber ich dachte, ich würde sterben. Warum sollte mich da jemand begleiten?«
»Weil es meine Aufgabe ist«, brüllte er, und seine Stimme brachte die Holzwände des kleinen Raumes zum Erzittern. »Darauf habe ich mich bewusst eingelassen! Es war meine Wahl, nicht Eure.«
»Ihr musstet zurückbleiben, Lazarus, und das Königreich führen. Wem sonst hätte ich diese Aufgabe anvertrauen können?«
Bei diesen Worten erlosch Mace’ Wut. Mit geröteten Wangen blickte er auf den Boden.
»Ihr habt die falsche Wahl getroffen, Lady. Ich habe versagt.«
»Was meint Ihr damit?«
»Die Festung wird belagert«
»Von wem?«
»Dem Arvath, unterstützt von einer Mortlegion. Unsere Leute haben sich drinnen verbarrikadiert, doch sie werden nicht ewig aushalten. Neulondon wird vom Mob beherrscht, der wiederum vom Arvath dirigiert wird.«
Kelsea umklammerte die Bettdecke. Ihre Fingerknöchel stachen weiß hervor, und sie hoffte, Mace würde es nicht bemerken. Die Vorstellung, dass der Heilige Vater sich in ihrer Festung aufhielt – auf meinem Thron sitzt! –, war wie ein dunkler Abgrund in ihr. Die ganze Stadt, das ganze Königreich, der Gnade von Anders’ giftverbreitendem Gott … bei diesem Gedanken brodelte alles in ihr, doch Mace’ Schuldgefühle waren jetzt wichtiger.
»Es war genauso sehr mein Fehler wie Eurer, Lazarus«, sagte sie leise. »An manchen Tagen frage ich mich, ob ich die Käfige nicht einfach hätte weiterfahren lassen sollen.«
»Ihr habt versucht, das Richtige zu tun, Lady. Es ist nicht Eure Schuld, dass es so schiefgegangen ist.«
Sie musste an Simon denken, an ihr langes Gespräch im Kerker. Ob es um Physik oder Geschichte ging, spielte keine Rolle; der Versuch, das Richtige zu tun, endete so oft im Verderben. Kelsea schreckte vor dem Gedanken zurück, denn für sie war er der erste Schritt in Richtung Lähmung, der Unfähigkeit, überhaupt eine Entscheidung zu treffen aus Angst vor unvorhergesehenen Konsequenzen.
»Ich jedoch«, fuhr Mace fort, »ich bin gegangen. Wir alle sind gegangen, um Euch zu befreien. Wir haben das Königreich verwundbar zurückgelassen, sodass der Heilige Vater es sich unter den Nagel reißen konnte.«
»Beides geht aber nicht, Lazarus. Entweder tragt Ihr den grauen Umhang immer, oder Ihr legt ihn in einer größeren Notlage ab. Vielleicht war es meine Schuld, von Euch zu verlangen, dass Ihr beides seid: eine Wache der Königin und der Regent. Wahrscheinlich waren beide oft gegensätzlicher Meinung.«
»Verhätschelt mich nicht, Lady.«
»Getan ist getan, Lazarus. Wir sind beide gescheitert, aber Ihr habt mir einmal gesagt, dass ein Verharren in der Vergangenheit sinnlos ist. Die Gegenwart, die Zukunft, das ist wichtig.«
Wieder streckte sie die Hand aus.
»Wollen wir einander vergeben, damit wir weitermachen können?«
Mace starrte schweigend auf ihre Hand, und Kelsea hatte wieder das Gefühl, an einem Abgrund zu stehen. Das Gesicht der Roten Königin blitzte auf und verschwand wieder. Es war ein langer Weg von diesem Abgrund zu jenem, doch etwas sagte Kelsea, dass die Reise noch nicht zu Ende war. Und wie sollte sie ohne Mace weitergehen? Wache, Stimme des Zweifels, Stimme des Gewissens … sie war darauf angewiesen. Ihre Kehle wurde eng, als Mace endlich ihre Hand nahm.
»Weit wie das Meer Gottes«, flüsterte sie. »Erinnert Ihr Euch?«
»Ich erinnere mich, Lady.« Blinzelnd wandte er den Blick ab, und Kelsea ergriff die Gelegenheit, ihre Arme und Schultern zu strecken, die immer noch von Brennas Fesseln schmerzten. Die Neuigkeiten vom Heiligen Vater rumorten in ihrer Brust. Am liebsten wäre sie zurückgegangen und hätte ihre Fehler wiedergutgemacht, doch die Wurzeln des Problems reichten viel tiefer, bis zurück zu der jungen Siedlung, den Anfängen von Tearling, wo das Unheil seinen Lauf genommen hatte.
Tear hatte durch die Zeit reisen können, dachte sie trotzig. Es hatte Zeiten gegeben, wenn Kelsea tief in ihren Episoden versunken war, dass sie das Gefühl hatte, beinahe dasselbe zu tun, nicht nur zuzuschauen, sondern selbst zu reisen; als ob sie tatsächlich dort gewesen wäre, in Lilys Welt, in Katies. Doch sie hatte keine Kontrolle darüber. Etwas fehlte immer noch.
»Lazarus, in der Zelle neben mir war ein Mann, ein Ingenieur.«
»Simon, Lady. Wir haben ihn mitgebracht.«
Kelsea lächelte erleichtert über die guten Nachrichten. Nur Gott allein weiß, was eine Druckerpresse gerade in Tearling Gutes tun könnte, aber sie war trotzdem froh, dass Simon nicht mehr eingekerkert war.
»Wo ist er?«
»Unten. Hall kann sich kaum auf etwas anderes konzentrieren.«
»Zwillinge«, erwiderte Kelsea nickend. »Ich verstehe.«
»Warum wolltet Ihr ihn überhaupt?«
Sie erzählte ihm von der primitiven Druckerpresse und erwartete, dass Mace einen verächtlichen Kommentar zu Büchern oder dem Lesen an sich abgeben würde, stattdessen sagte er nur: »Das ist sehr wertvoll, Lady.«
»Tatsächlich?«
»Ja.«
»Und wo ist der echte Lazarus?«
Seine Lippen zuckten. »Ich habe … gelesen.«
»Was gelesen?«
»Eure Bücher, Lady. Neun habe ich schon geschafft.«
Kelsea sah ihn überrascht an.
»Sie sind gut, diese Geschichten«, fuhr Mace mit leicht geröteten Wangen fort. »Sie lehren die Schmerzen anderer Leute.«
»Mitgefühl. Carlin hat immer gesagt, das sei der große Wert von Literatur, dass wir uns in den Geist von Fremden hineinversetzen könnten. Lazarus, was ist aus meiner Bibliothek geworden?«
»Sie befindet sich immer noch im Königinnen-Trakt, Lady. Und wird damit belagert.«
Kelsea ballte die Fäuste. Die Vorstellung, der Heilige Vater könnte ihre Bücher berühren … einen Moment dachte sie, sie müsse sich auf die Bettdecke übergeben.
»Wie auch immer«, fuhr Mace fort und räusperte sich, »ich sehe den Wert, den eine solche Druckerpresse haben kann. Wenn wir das hier je überstehen sollten, werden Arliss und ich Simon helfen, alle Bauteile dafür zusammenzutragen.«
Kelsea lächelte gerührt. »Ich habe Euch vermisst, Lazarus. Sogar noch mehr als das Sonnenlicht.«
»Hat man Euch Schaden zugefügt, Lady?«
Sie verzog das Gesicht bei der Erinnerung an ihren Bewacher, an die Schläge. Einen Agenblick später schämte sie sich. Im Kerker hatten noch so viele andere Menschen eingesessen. Als Königin mit etwas, das die Rote Königin gewollt hatte, war Kelsea privilegiert gewesen. All die anderen hatten nichts gehabt.
Ich habe wirklich gelitten, beharrte ihre innere Stimme.
Vielleicht. Aber verschließ deshalb nicht die Augen vor denen, die viel mehr leiden.
»Kein bleibender Schaden, Lazarus«, antwortete sie schließlich. »Ich werde es überleben.«
Sie sah sich in dem Raum um, betrachtete die Schatten, die über die Wände zuckten. Irgendwo hörte sie Stimmen.
»Lady Chiltons Haus, sagt Ihr? Ich habe noch nie von ihr gehört.«
Mace seufzte und wählte seine Worte mit Bedacht. »Sie ist nicht … wohlauf, Lady. Die Unterkunft ist nicht ohne Risiko.«
»Was fehlt ihr? Ist sie geistig krank?«
»Das wäre eine freundliche Formulierung, Lady.«
»Warum sind wir dann hier?«
»Weil wir einen Ort brauchten, an dem wir abwarten konnten, bis Ihr wieder zu uns zurückgekehrt seid, und Lady Chilton hat uns aufgenommen. Wir konnten nicht in dieser verfluchten Grenzstadt bleiben, wo wir zu viel Aufmerksamkeit erregt hätten. Das Haus ist groß genug, um unsere Mannschaft zu beherbergen, und es gibt genügend Vorräte. Lady Chilton war gut auf eine Belagerung vorbereitet, als die Mort hier durchmarschierten. Vor allem aber sind wir hier, weil sie tief in meiner Schuld steht.«
»Was für eine Schuld?«
»Ich habe ihr einmal das Leben gerettet. Das weiß sie noch gut.«
»Und was fehlt ihr nun?«
»Ihre Krankheit geht mich nichts an, Lady. Sie hat jedenfalls versprochen, sich von Euch fernzuhalten. Ich hoffe, dass wir morgen weiterreiten können.«
Kelsea war noch nicht beruhigt, aber sie hatte keine Wahl. Sie sah, dass sie immer noch die schmutzige Kleidung aus der Wüste trug.
»Ich brauche etwas Neues zum Anziehen.«
Mace deutete auf die Kommode. »Lady Chilton hat Euch ein Kleid geliehen.«
Beim Gedanken an die Wüste fiel Kelsea der Rest dieser furchtbaren Nacht ein. »Ist Ewen auch hier?«
»Ja, Lady. Wir haben ihn in Gin Reach getroffen, und er hat uns eine absonderliche Geschichte erzählt.«
»Absonderlich, aber wahr.«
»Ewen quält sich damit, keine richtige Wache der Königin zu sein; er nennt sich ›Maskottchen‹. Ich hatte ihn nur als Vorsichtsmaßnahme nach Gin Reach geschickt. Niemals hätte ich gedacht, dass ihm dort etwas zustoßen könnte.«
»Er hat mir das Leben gerettet, Lazarus. Vielleicht sogar noch mehr.« Kelsea schloss die Augen und sah Brennas Gesicht nur wenige Zentimeter vor ihrem, wie ihr Blick sich in Kelseas Geist bohrte, in Lilys darunter.
Wir waren beide da, erkannte Kelsea plötzlich. Beide gleichzeitig, Lily und ich. Wie ist das möglich?
»Nun, ich werde es den anderen Wachen sagen, Lady. Wenn Ewen ein Held ist, dann werden sie ihn dafür loben.«
»Das ist er.« Sie schlug die Bettdecke zurück. »Gebt mir das Kleid.«
Ein paar Minuten später führte Mace sie auf den langen Korridor, der von zahlreichen Fackeln hell beleuchtet wurde. Die Wände waren nicht aus hellgrauem Stein wie die Festung, sondern aus sandfarbenen Blöcken, die Spuren von Wind und Zeit trugen. Ein Luftzug wehte über den Gang, fuhr durch Kelseas Haare und ließ sie schaudern.
»Schlecht isoliert«, bemerkte Mace. »Diesen Ort hätte man schon vor mindestens zehn Jahren renovieren sollen, doch Lady Chilton hat ihn verfallen lassen.«
»Kam sie zu meiner Krönung? Warum …?«
In diesem Moment schlitterten Elston und Kibb um die Ecke, gefolgt von der halben Garde. Bevor Kelsea sie auch nur begrüßen konnte, zerquetschte El bereits ihre Hand.
»Geht es Euch gut, Lady?«, fragte er.
»Ja, El.«
»Ich habe für Euch gebetet, Lady«, erklärte Dyer und grinste, als sie ihm leicht auf die Wange schlug. Kelsea musste bei ihrem Anblick lächeln, doch gleichzeitig fühlte sie sich auch unwohl. Mace, Elston, Kibb, Coryn, Galen, Dyer, Cae … überall um sie herum waren glückliche Gesichter, geliebte Gesichter, Menschen, die sie vermisst hatte. Warum lag unter der Freude über das Wiedersehen ein Gefühl des Verdammtseins? Eines, das sie spät und entfernt einholen würde, aber deshalb nicht weniger real war? Wenn die Festung wirklich belagert wurde, waren sie jetzt alle Exilanten, Menschen ohne Heimat.
»Habt Ihr Schmerzen, Lady?«, fragte Coryn. »Ich habe meine Ausrüstung dabei.«
»Es geht mir gut«, erwiderte sie und ließ sich von Kibb und Galen die Hand schütteln. Als sie sich umsah, fehlte ein Gesicht.
»Wo ist Pen?«
»Ich habe ihn losgeschickt, damit er das Grundstück abreitet, Lady«, antwortete Elston. »Hier draußen droht keine Gefahr; wir sind auf der Ebene, und jede Bedrohung ist kilometerweit erkennbar. Aber er hat uns alle in den Wahnsinn getrieben, der arme, liebeskranke …«
»Reiß dich zusammen, Elston!«, bellte Mace, und Kelsea errötete.
»Tut mir leid, Lady«, murmelte Elston, seine Augen funkelten jedoch so gut gelaunt, dass Kelsea nur den Kopf schüttelte und ihm die Schulter tätschelte.
»Wer ist noch hier?«, fragte sie.
»Hall und seine Leute sind unten. Levieux auch, und er würde gern mit Euch sprechen, wenn Ihr einen Moment Zeit habt.«
»Levieux?«
»Er war sehr nützlich, Lady, und hat uns geholfen, in den Palast einzudringen«, sagte Mace rasch und warf ihr einen Blick zu, dass sie später darüber reden würden. Kelsea nickte. Wenn sie nun an den Fetch dachte, sah sie nicht mehr den Mann vor sich, sondern nur den Jungen Gavin. Was hatte das zu bedeuten? Sie sah an Elston vorbei und zuckte zusammen, denn einen Moment war sie sich sicher gewesen, eine Gestalt am Ende des Korridors gesehen zu haben, die sie beobachtete. Doch als sie einmal blinzelte, war die Erscheinung verschwunden.
»Lady?«
Sie wandte sich an Mace. »Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen, dort an der Ecke.«
»Ihr seid noch nicht wieder ganz hergestellt, Lady.«
Kelsea nickte; je länger sie aber darüber nachdachte, desto sicherer war sie, dass dort jemand gestanden hatte: eine Frau in einem langen schwarzen Kleid und einem dunklen Schleier.
Geisteskrank, dachte sie, und das unwohle Gefühl machte sich wieder bemerkbar.
»Wir reisen morgen früh ab«, erklärte sie.
»Lady?«
»Ihr habt gesagt, die Festung würde belagert, Lazarus. Wir können nicht einfach hierbleiben und uns verstecken, während das Königreich brennt. Was für eine Königin wäre ich denn?«
»Ha!« Dyer drehte sich zu Coryn. »Ich bekomme zehn Pfund!«
Mace schüttelte den Kopf. »Wir wussten, dass Ihr das sagen würdet, Lady. Meine einzige Frage war nur, wann.«
»Nun, es ist die Wahrheit.«
»Ihr habt keine Armee, Lady. Der Heilige Vater hat ein ganzes Bataillon aus Mortsöldnern. Das Einzige, was Ihr mit einer Rückkehr nach Neulondon erreicht, ist Euer Tod.«
Kelsea nickte und versuchte, sich den Rat zu Herzen zu nehmen, die kluge Königin zu sein, die sie hätte werden sollen. Doch sie konnte nicht hier draußen mitten im Nirgendwo warten, weit weg von allem. Wie sollte sie es so in Ordnung bringen?
»Lady.«
Sie drehte sich um, und da war Pen. Er kam vom anderen Ende des Gangs auf sie zu.
»Pen!«
Sie wollte gerade losrennen, als Mace ihr Handgelenk packte. »Halt, Lady.«
»Was denn?«
»Die Dinge haben sich geändert.« Mace wandte sich an den Rest der Garde. »Ihr anderen, zurück auf eure Posten! Ihr seht die Königin dann beim Abendessen.«
Die Wachen zerstreuten sich, und Kelsea entging nicht, dass sie es plötzlich sehr eilig hatten. Innerhalb weniger Sekunden waren alle verschwunden.
»Lady.« Pen hatte zu ihnen aufgeschlossen und verbeugte sich. »Es ist schön, Euch wohlauf zu sehen.«
Verwirrt starrte sie ihn an. Dieser kalte Mann war nicht der Pen, den sie kannte. Dann erinnerte sie sich an die Szene auf der Brücke und verstand. Pen war wütend auf sie, natürlich war er das, genau wie Mace. Sie hatte sie alle, ihre Garde, zurückgelassen und sich in die Arme des Feindes geworfen. Im Gefängnis hatte sie versucht, nicht an Pen zu denken, aber natürlich war er immer da gewesen und hatte unter dem Verrat gelitten. Nun, sie würde es wiedergutmachen. Sie würde …
»Pen wird nicht mehr Eure persönliche Wache sein, Lady«, sagte Mace ausdruckslos.
»Wie bitte?«
»Von heute Abend an übernimmt Elston Pens Aufgaben.«
Kelsea wandte sich an Pen, der weiterhin den Blick gesenkt hielt.
»Was ist passiert?«, wollte sie wissen.
»Ich gebe euch beiden ein paar Minuten, aber nur ein paar«, antwortete Mace an Pen gerichtet. »Danach werdet ihr nicht mehr allein sein.«
Als Pen nickte, wandte sich Kelsea aufgebracht an Mace: »Ihr könnt nicht einfach hinter meinem Rücken Änderungen bei den Wachen vornehmen, Lazarus! Ich habe nicht um eine neue persönliche Wache gebeten. Das ist nicht Eure Entscheidung.«
»Nein, Lady«, sagte Pen. »Es ist meine.«
Mit offenem Mund drehte sie sich zu ihm um. Ja, sie hatten miteinander geschlafen, und damit konnten sie aufhören. Das war doch kein Grund für eine neue Leibwache.
»Pen? Was ist los?«
»Ein paar Minuten«, wiederholte Mace. Dann ging er in Richtung von Kelseas Zimmer davon. Pen wartete, bis Mace hineingegangen war, bevor er den Blick zu Kelsea hob. Beinahe wäre sie zusammengezuckt, als sie in seinen Augen nur reine Professionalität sah, nichts anderes.
»Ihr wollt mich nicht mehr, Pen?«
»Ich bin eine Wache, Lady. Seit mich der Captain gefunden hat, wollte ich immer nur das sein.« Er zuckte lächelnd mit den Schultern, und einen Moment war er wieder der alte Pen, den sie kannte. »Ich liebe Euch, Lady. Ich glaube, ich habe Euch seit dem Moment geliebt, in dem Ihr mich gebeten habt, Euch mit dem verfluchten Zelt zu helfen. Während Ihr fort wart, habe ich gemerkt, dass ich Euch nicht gleichzeitig lieben und eine Wache der Königin sein kann.«
Kelsea nickte reflexhaft. Sie liebte Pen doch gar nicht, oder? Sie wusste es nicht mehr. Sex hatte sie zusammengeschweißt, hatte sie zu viel mehr gemacht, als sie es von Anfang an sein sollten. Etwas bewegte sich hinter Pens Schulter, und Kelsea glaubte erneut, eine dunkle Gestalt am Ende des Ganges stehen zu sehen. Nach einem Blinzeln war sie wieder verschwunden.
Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Pen. Ihr Stolz war verletzt, aber wenn sie diesem Impuls nachgab, würde sie nicht nur einen Bettgefährten, sondern auch einen Freund verlieren. Sie biss die Zähne aufeinander und versuchte, ihre Enttäuschung so gut wie möglich zu verbergen.
»Wollt Ihr ein Mitglied der Garde bleiben?«, fragte sie.
»Ja, Lady. Aber ich kann nicht mehr Eure Leibwache sein. Und Ihr müsst mich genauso wie die anderen behandeln, sonst kann ich nicht bleiben.«
Sie nickte langsam, während so etwas wie Trauer in ihr aufstieg. Sie hatten nicht viele gemeinsame Nächte gehabt, doch sie waren schön gewesen, irgendetwas zwischen Liebe und Freundschaft, eine Oase aus Zärtlichkeit in der harschen Wüste, die Kelseas Leben seit der Abreise aus dem Cottage bestimmte. Diese Seite an Pen würde sie vermissen, und sie spürte, dass tief im Schmerz auch ein Kern des Respekts für ihn vergraben war, der kontinuierlich größer wurde.
Wir sind gleich, dachte sie und betrachtete Pen. Vor sich sah sie plötzlich ihre Stadt, die brennenden Hügel, und sie erkannte, dass dieses Werk, das große Werk ihres Lebens, alles aufwog, was sie je für sich selbst haben wollen könnte. Es würde andere Männer geben, viele Männer, doch keiner würde es mit ihrem Lebenswerk aufnehmen können. Sie würde es nicht zulassen.
Sie atmete tief durch und streckte Pen die Hand hin. Er lächelte, seine Augen blickten offen und freundlich, und Kelsea wusste, dass sie ihn so nie wieder sehen würde. Sie würden sich unterhalten und miteinander lachen, sich aufziehen, genau wie Kelsea mit den anderen Wachen umging … doch so würde es nie wieder sein. Als er wieder aufblickte, war der Mann Pen verschwunden, und die Wache Pen war an seine Stelle getreten, die ihren Blick distanziert und kühl über sie schweifen ließ.
»Ihr seht nicht gut aus, Lady.«
»Ich bin gerade erst aufgewacht.« Doch er hatte recht. Mace hatte sie aufgeweckt. Katies Stimme verschaffte sich immer noch Gehör in ihrem Geist, wollte sie nicht in Ruhe lassen.
»Levieux ist hier, nicht wahr? Ich muss mit ihm sprechen.« Und wie sie mit ihm sprechen musste; ihn am Hemd packen und ihn schütteln, bis er ein paar Antworten ausspuckte, was mit Jonathan Tear passiert war. Sie musste nicht auf die langsam erzählten Bilder aus Katies Visionen warten, wenn sie die ganze Geschichte von jemandem erfahren konnte, der tatsächlich dabei gewesen war.
»Ihr werdet warten müssen, Lady.« Mace war mit Elston im Schlepptau hinter ihr aufgetaucht. Dieser Ort verwirrte Kelsea; irgendetwas stimmte nicht mit den Gängen und ihren Proportionen. »Levieux ist vor ein paar Stunden weggeritten und hat gesagt, er käme erst spätabends zurück. Doch das Abendessen ist unten bereit. Pen, geh.«
Pen gehorchte. Kelsea sah ihm traurig nach, dann wandte sie sich entschlossen an Mace und Elston.
Ihr Lebenswerk!
»Dieser Gang bewegt sich, Sir«, murmelte Elston. »Hinter jeder Ecke sieht er plötzlich anders aus.«
Mace sah grimmig über die Schulter. »Ich traue der Dame des Hauses nicht. Je eher wir hier weg sind, desto besser.«
»Ist das annehmbar für Euch, Lady?«, fragte Elston. »Ich als Eure Leibwache?«
Sie nickte ihm lächelnd zu, auch wenn ihr Herz weinte.
»Dann lasst uns zu Abend essen.«
Sie folgte den Männern über den Gang.
Kelsea erwachte in der Dunkelheit. Einen Moment wusste sie nicht, wo sie sich befand – zurzeit schien sie jede Nacht an einem anderen Ort zu verbringen –, doch dann knackte eine Fackel in ihrer Halterung, und Kelsea erinnerte sich: Sie war in Lady Chiltons Haus, in dem Zimmer, das Mace ihr zugewiesen hatte. Elston hielt vor der Tür Wache.
Jemand war im Zimmer.
Kelsea hatte eine kaum hörbare Bewegung hinter sich wahrgenommen, kaum mehr als ein Lufthauch, irgendwo in der Nähe der Tür. Sie überlegte, ob sie sich umdrehen sollte, doch sie war wie gelähmt. Sie wollte sich dem nicht stellen müssen. Plötzlich sah sie das kleine Mädchen im Kerker vor sich, und Gänsehaut überzog ihren Körper. Sie könnte nach Hilfe rufen, und Elston wäre sofort bei ihr. Aber das Kind im Kerker hatte sich blitzschnell bewegt.
Ein weiteres leises Geräusch, näher, ein weiches Knarren von Leder auf dem Boden. Ein Schritt vielleicht, doch Kelsea sah nur das Kind vor sich, das bereit zum Sprung war.
Nicht wie Brenna, flüsterte ihr Geist, und plötzlich fasste Kelsea wieder Mut. Nein, sie würde sich nicht wie von Brenna überwältigen lassen, hilflos daliegend. Lautlos spannte sie ihre Muskeln an und machte sich bereit zum Angriff. Das Messer lag in seiner Scheide unter ihrem Kopfkissen; unauffällig konnte sie es nicht heranholen. Sie ging davon aus, es in einer halben Sekunde herausgezogen zu haben, wenn sie sich erst einmal bewegte.
Ein letzter Schritt, genau neben Kelsea. Sie setzte sich in Bewegung, rollte auf das Geräusch zu und traf auf ihren Angreifer, den sie mit sich zu Boden riss. Einen Moment sah sie einen dunklen Umriss unter sich, dann stieß die Gestalt ein hohes, rattenartiges Quieken aus. Kelsea zog das Messer aus der Scheide, hielt ihren Angreifer fest und suchte nach dem Hals. Dann wich sie panisch zurück.
Das Wesen hatte kein Gesicht.
Einen Moment später erkannte Kelsea, wie lächerlich das war. Das Fackellicht hatte sie getäuscht, ebenso wie ihre überaktive Vorstellungskraft. Das hier war kein Monster, sondern nur eine Frau, die ein langes schwarzes Kleid trug und einen Spitzenschleier über dem Kopf. Die Frau versuchte zurückzuweichen, weshalb Kelsea sie wieder festhielt.
»Lady Chilton, nehme ich an?«, keuchte sie und griff nach dem Schleier. »Was wollt Ihr von mir, dass Ihr mich durch das ganze Haus verfolgt?«
Kelsea riss den Schleier fort und entblößte das Gesicht der Frau. Jetzt wich sie so schnell wie möglich nach hinten und schnappte ungläubig nach Luft.
Das Gesicht unter dem Schleier gehörte ihrer Mutter.