ls Kelsea auf ihre Stadt blickte, hatte sie das Gefühl, ein Doppelbild wahrzunehmen. Sie sah auf Neulondon, einen Ort, den sie gut kannte. Die Häuser auf den Hügeln, die graue Festung, der weiße Turm des Arvath, alles war vertraut. Doch gleichzeitig sah sie auch alles mit Katies Augen, das Geschwür, das die Stadt aushöhlte, das vergeudete Potenzial. Das Wissen, was Neulondon einmal hätte werden sollen, machte den Anblick dessen, was es tatsächlich geworden war, noch viel schlimmer.
Der Westen der Stadt stand in Flammen. Selbst von hier aus, am Fuß der südwestlichen Anhöhe, hörte Kelsea die Schreie der fliehenden Menschen, doch ihr war klar, dass das Feuer nicht das einzige Problem war. Die Mort marodierten durch ihre Stadt. Die Westseite hatte keine Mauer, über einen Hügel konnte man leicht in das Stadtviertel Lower Bend eindringen. Kelsea wusste nicht, wo sie anfangen sollte. Sie war von bewaffneten Männern umgeben: von Hall und dem Rest seiner Armee, außerdem ihrer Garde. Doch sie waren zu wenige. Mit militärischer Gewalt konnte sie ihre Stadt nicht zurückerobern.
»Majestät«, sagte Mace leise und drängend.
Sie wandte sich nach Süden, zu der großen Staubwolke, die ihnen seit dem vorherigen Tag folgte. Zuerst war sie nur ein kleiner Wirbel am Horizont gewesen, in den letzten Stunden hatte sie sich zu einer breiten, staubigen Wand über der unteren Almontebene aufgebaut. Die Wachen behielten das Phänomen beunruhigt im Auge, doch sie hatten keine Zeit gehabt anzuhalten. Kelsea wandte sich an den Fetch, der sie mit hoffnungslosem Blick beobachtete.
»Ist er hinter dir her?«, fragte sie.
»Nein, Tearkönigin. Hinter dir.«
»Was redet Ihr da?«, fragte Elston. »Drückt Euch verständlich aus. Worum geht es?«
»Die Waise.«
»Die Waise ist doch ein Kindermärchen«, protestierte Dyer.
»Seid still, Dyer.« Kelsea fiel etwas ein. Rasch ging sie zum Fetch und kauerte sich neben ihn.
»Was ist wirklich mit Row passiert? Nachdem Jonathan tot war?«
»Er wurde verflucht. Wir wussten erst nach Jonathans Tod, dass Katie über seine Magie verfügte. Als wir es herausfanden, wagte nicht einmal mehr Row, sie anzufassen. Sie ist geflohen, und vorher hat sie uns alle verflucht.« Der Fetch deutete auf die vier Männer hinter ihm, die unglücklich nickten. Dann richtete er den Blick auf die Staubwolke hinter ihnen. »Sie hat uns als Verräter verflucht, und diesen Preis zahlen wir immer noch.«
»Was ist mit Row?«
»Ich weiß nicht, was Katie ihm angetan hat. Er wurde immer blasser und verschwand irgendwann einfach. Die Stadt zerfiel in sich bekriegende Parteien und hat sich selbst zerstört. Die Hälfte der Bevölkerung ist nach Osten über die Ebene gezogen. Erst Jahre später haben wir herausgefunden, dass Row nicht tot war, sondern sich im Fairwitchgebirge aufhielt.«
»Und ich habe ihn freigelassen«, sagte Kelsea leise. Sie brauchte kein Fernglas, um sie zu sehen: eine Horde aus kleinen dunklen Gestalten, die auf allen vieren nach Norden über die Ebene galoppierten. Hatte sie sie zu ihrer Stadt geführt, oder waren sie sowieso auf dem Weg hierher gewesen? Sie wusste es nicht, aber es schien auch kaum mehr eine Rolle zu spielen. Sie hatte keine Antwort auf die anstürmende Gefahr … zumindest nicht in der Gegenwart. Sie verstand nicht, was aus Row Finn geworden war, doch sie glaubte nicht, dass er hier geschlagen werden konnte. Dieses Problem hatte wie so viele andere seine Wurzeln in der Vergangenheit, und es war zu spät, es zu lösen.
»Lady«, wiederholte Mace. »Wir müssen weiter. Jetzt.«
Kelsea nickte und sah noch einmal auf den Hügel. Das unmittelbare Problem war dort oben. Sie musste zurück in ihre Festung, in der das Chaos ausgebrochen war. Ihre Stadt wurde von Gewalt überrannt … was Kelsea zu dem Punkt zurückbrachte, an dem sie die ganze Zeit gewesen war.
Sie holte Rows Saphir aus ihrer Tasche. Die blauen Facetten glänzten im ersterbenden Licht, und wieder hatte Kelsea das unangenehme Gefühl, dass der Stein ihr zuzwinkerte, sie beinahe herausforderte, ihn umzulegen.
Was für eine Wahl hatte ich denn je?, fragte sie sich. Carlin hat mich dazu erzogen, Gewalt zu meiden, doch sie regiert diese Welt nun mal. Es ist zu spät für eine andere Lösung.
Sie wandte sich an ihre Garde, die um sie herum wartete, ebenso wie General Hall und sein Zwillingsbruder. Die kümmerlichen Überreste der Armee hielten sich in ein paar hundert Metern Entfernung auf dem Abhang auf. Selbst Ewen war hier, der beharrlich darauf bestanden hatte, mit zur Stadt zu reiten. Kelsea glaubte, dass er zusammen mit Bradshaw auf dessen Pferd ritt, doch wie so vieles an dieser Reise war ihr auch das ein Rätsel. Zu viele Kilometer hatte sie in der Zwischenwelt von Katies Geist verbracht. Sie wusste, sie könnte es bereuen, dass Ewen hier bei ihnen war. Sie wünschte, er wäre nicht mitgekommen, denn dann wäre er jetzt in Sicherheit. Sie wünschte, sie hätte für die Sicherheit aller ihrer Leute sorgen können, der Garde, des Landes, wünschte, sie hätte sie irgendwo in der Vergangenheit oder vielleicht der Zukunft verstecken können. Überall, nur nicht in der Gegenwart. Sie ließ die Kette zwischen den Fingern baumeln und beobachtete, wie sich das Licht an dem Silber brach.
Gewalt, dachte sie. Nur sie bleibt, wenn alle anderen Möglichkeiten erschöpft sind. Selbst Carlin musste das bewusst gewesen sein.
»Wir gehen da hoch«, erklärte sie schließlich. »Zur Festung. Euer erster Impuls wird sein, mich zu beschützen, ich weiß …«
»Jetzt kommt es«, murmelte Dyer.
»Aber tut mir den Gefallen, und beschützt euch untereinander. Verstanden, Dyer?«
»Ja, Lady, ja! Weil das ja auch meine Arbeit ist: andere Wachen zu bewachen, während ich die Königin sich selbst überlasse.«
Sie starrte ihn wütend an, dann schüttelte sie den Kopf und sprach weiter.
»Auch für diejenigen unter uns mit dem großen Mundwerk: Ich meine, was ich sage. Ich weiß nicht, was passiert, wenn ich den hier umlege«, sie hielt den Saphir in die Höhe, »aber es wird sicher nicht schön. Ich werde vielleicht nicht ich selbst sein; vielleicht werde ich …«
Die Pik-Königin.
Sie schluckte. »Ihr dürft mir nicht in die Quere kommen. Verstanden?«
Alle Wachen mieden ihren Blick, bis auf Mace, der vielsagend eine Augenbraue hochzog.
»Ich meine es ernst.«
»Reiten wir also los?«, fragte Elston. »Oder warten wir, bis diese Kreaturen da draußen uns einholen und aussaugen?«
Kelsea blickte nach hinten und sah, dass die Kindermeute bedrohlich nahe war. Sie holte tief Luft und streifte sich die zweite Kette um den Hals. Als der Stein zwischen ihren Brüsten lag, breitete sich ein schreckliches Wohlbefinden in ihr aus. Wie die Erleichterung, in ein Haus zu kommen, das seit Langem zerstört war, sich aber immer noch nach zu Hause anfühlte.
»Kommt«, sagte sie und machte sich auf den Weg über die Anhöhe. Sie wartete nicht, ob die anderen ihr folgten.
Jetzt«, sagte Aisa atemlos, und Pater Tyler nickte.
Gemeinsam drückten sie gegen die runde Platte über ihren Köpfen. Sie war aus schwerem, solidem Eisen, doch Aisa spürte, wie sie nachgab. Wenn sie nur starke Männer wären. Doch Tyler war dünn und zerbrechlich, und Aisa war vom Fieber geschwächt. Durch die Venen in ihrem verletzten Arm schien flüssiges Eisen zu fließen. Die beiden pressten mit aller Kraft gegen die Platte, bis Aisas Rücken schmerzte, und selbst dann war durch die entstandene Öffnung nur ein kleines Stück Himmel zu sehen.
»Das ist ja schon mal was«, sagte Aisa leise. »In ein paar Minuten versuchen wir es …«
Sie verstummte und lauschte.
»Sind sie es?«, flüsterte Pater Tyler, doch Aisa legte ihm eine Hand aufs Handgelenk, um ihn zum Schweigen zu bringen. Sie dachte, sie hätte etwas in dem Tunnel unter ihnen gehört, das Scharren eines Stiefels auf Stein.
»Noch mal«, keuchte sie. »Schnell.«
Der alte Mann und das Mädchen packten die Ränder der Platte und schoben. Helle Lichter tanzten vor Aisas Augen, aber die Öffnung hatte sich vergrößert. Mondlicht erhellte die Umrisse der Leiter, auf der sie kauerten. Einen Moment hatte Aisa das Gefühl, das Gleichgewicht zu verlieren, einfach zu fallen, in eine Dunkelheit, die tiefer war als alles, was sie bisher gekannt hatte.
»Ich kann mich hindurchzwängen«, sagte Pater Tyler leise. Er schob seinen dünnen Körper durch die halbmondförmige Öffnung, stieß sich ab und war an der Oberfläche. Als seine abgewetzte Ledertasche gegen den Leiterrand schlug, zuckte Aisa bei dem lauten Geräusch zusammen, das durch die Tunnel unter ihnen dröhnte.
Aisa war den Caden vor einigen Tagen entwischt, hatte sich in einer tiefen Nische im Haupttunnel versteckt, während die Männer vorangegangen waren. Es war keine leichte Entscheidung gewesen, denn sie empfand diesen vier Männern gegenüber große Loyalität. Ihre Verbundenheit mit der Königin war allerdings stärker, und sie wusste, dass die Königin Pater Tyler sicher in der Festung wissen wollen würde. Sie hatte sich seine Rettung ganz einfach vorgestellt: Pater Tyler aus dem versteckten Raum befreien, ihn in die Festung schmuggeln und dann zurückkommen, ohne dass jemand wusste, was sie getrieben hatte. Sie könnte behaupten, sich für einen Tag in den Tunneln verlaufen zu haben. Alles ganz einfach.
Doch sie hatte vergessen, dass die Caden nicht dumm waren.
In der Rückschau erkannte sie, dass sie von dem Moment an Verdacht geschöpft haben mussten, als sie Pater Tyler entdeckt hatte. Sie hatte ihn nur ungern allein da unten zurückgelassen, und diese Sorge hatte man ihr sicher angemerkt. Als sie den Caden entwischt war, waren sie entgegen ihrer Erwartung nicht weiter durch den Tunnel gegangen, sondern hatten sich versteckt und gewartet, um zu sehen, was sie vorhatte. Erst an diesem Morgen hatte sie Verdacht geschöpft, dass sie und Pater Tyler verfolgt wurden. Doch da war es schon zu spät, ihren Plan zu ändern. Sie befanden sich am Südrand des Guts, eine Gegend, in der Aisa sich in den Tunneln nicht besonders gut auskannte. Sie mussten an die Oberfläche, auch wenn das Gefahren mit sich brachte und sie bis zur Nacht warten mussten.
Pater Tyler konnte die Eisenplatte nun aus eigener Kraft beiseiteschieben und streckte die Hand in die Öffnung.
»Komm, Kind. Stoß dich ab.«
Aisa gehorchte. Normalerweise verabscheute sie es, Kind genannt zu werden, bei diesem alten Priester störte es sie nicht. Sie packte gerade seine Hände und ging in die Knie, um nach oben zu springen, als sich eine Hand um ihren Knöchel schlang. Aisa schrie auf.
»Na, wo wollen wir denn hin, Mädchen?«
Sie trat panisch nach dem Mann, blickte nach unten und sah Daniels Gesicht im Mondlicht. Sein Griff um ihren Fuß war wie Eisen. Wieder dachte sie daran, einfach loszulassen. Seit Tagen schwebte sie zwischen Leben und Tod. Nur die Sorge um den Priester hatte sie das Schreckgespenst abwehren lassen.
»Wir haben dir eine Chance gegeben, Mädchen«, zischte Daniel. »Und wie dankst du uns das? Das ist ein Kopfgeld von zehntausend Pfund, das du da für dich behalten willst!«
»Mir geht es nicht um das Kopfgeld«, keuchte sie.
Daniels Gesicht kam näher, als er die Leiter ein Stück nach oben kletterte. Seine andere Hand legte sich auf ihren Schenkel und drückte zu, bis sie aufschrie.
»Wir sind eine Gilde, du kleine Betrügerin. Niemand enthält der Gilde ihre Entlohnung.«
»Das ist eine Lüge!«, keuchte sie. »Das habt Ihr sehr wohl! Sie haben es mir erzählt! Lady Cross! Ihr habt sie gehen lassen und das Geld behalten, und dann hat man Euch der Gilde verwiesen.«
Daniel war sprachlos, und in diesem Moment griff Pater Tyler ein und schleuderte dem Caden die Kante seiner Ledertasche ins Gesicht, der daraufhin aufheulend von der Leiter fiel.
»Komm, Kind!«, rief Pater Tyler. »Jetzt!«
Aisa packte seine Hände und ließ sich von ihm aus dem Loch ziehen. Sofort erkannte sie, dass sie ihre Position falsch eingeschätzt hatte; sie waren nicht mehr im Gut, sondern am Rand von Lower Bend. Hier fand sie sich leicht zurecht, doch sie waren über einen Kilometer vom Festungsrasen entfernt. Es war zu weit. Sie konnte kaum laufen, geschweige denn rennen. Ihr Arm war eine baumelnde Masse aus Schmerz.
Aus dem Tunnel schallten Flüche herauf, dann ertönte das dumpfe Geräusch von Stiefeln, die die Leiter erklommen.
»Kind, wir müssen hier weg!« Pater Tyler zog sie an ihrem unversehrten Arm. Aisa blinzelte, halb blind vor Schmerz und Fieber. Sie nahm kaum noch etwas wahr, hörte nur eine tiefe Stimme in ihrem Kopf aus ihrer Vergangenheit. Die Stimme eines Vaters, aber nicht Dads.
»Es tut so weh«, flüsterte sie und bedeckte die Augen, als sie an den hell erleuchteten Fenstern vorbeieilten. »Nur noch Schmerz …«
Sie stolperte und brach zusammen. Einen Moment später hatte der Priester sie hochgehoben, auch wenn sie es kaum spürte, und rannte mit ihr in den Armen weiter. Bei jedem Schritt hatte Aisa das Gefühl, als würde ihr Kopf zerspringen, doch sie dachte noch, dass Pater Tyler den Weg kennen musste, da er zielsicher durch die Gassen am Rand des Guts rannte und auf das Zentrum der Stadt zusteuerte.
Javel hatte Hunger. Er spürte ihn wie einen Stein tief in seinem Bauch, ein nagender, klauenartiger Schmerz, der der Übelkeit so nahe war, dass Javel oft keinen Unterschied mehr wahrnahm. Immer wieder ebbte der Schmerz ab, und er vergaß ihn völlig, doch der Hunger kehrte beim leisesten Essenshauch zurück. Sie hatten die Vorräte schon rationiert, und egal wie hart die Torwache schuftete, jeder bekam nur zwei kleine Mahlzeiten am Tag. Die Festung war durch die Gefahr der Mortinvasion noch relativ gut ausgerüstet, und wenn nötig, würden die Lebensmittel lange reichen. Doch bei einer Belagerung wusste man nie.
Nach langem Kampf war es ihnen schließlich gelungen, das Tor zur Festung mit Holzbalken zu verstärken. Vil hatte außerdem eine mutige kleine Gruppe nach draußen auf die Ziehbrücke geführt, wo sie eine Ziegelmauer errichtet hatten, während die Mort schliefen. Als diese aufgewacht waren, war der Mörtel bereits fest getrocknet und die Mauer ein echtes Hindernis. Gestern hatten die Mort sie jedoch durchstoßen und bearbeiteten nun das Tor. Die Holzverstärkungen würden nicht mehr lange halten, was Vil nicht zu beunruhigen schien. Er handelte wie ein wahrer Held, dachte nicht an sich, sondern nur an die Menschen in der Festung, die Frauen und Kinder, die in dem Gebäude gefangen waren. Javel jedoch hatte Angst.
Gelegentlich ging Vil mit zwei oder drei Torwachen auf einen Balkon in den oberen Stockwerken, von dem aus sie über die Stadt blicken konnten. Die Aussicht war trostlos: Etwa doppelt so viele Mort, wie auf dem Festungsrasen und der Ziehbrücke lagerten, schienen sich über die Stadt zu verteilen, Feuer zu entzünden, Güter wegzuschleppen und noch viel Schlimmeres anzurichten. Javel wollte es nicht mit ansehen, doch er konnte den Blick auch nicht abwenden. Alles war so deutlich zu erkennen, die Schreie der Menschen drangen bis zur Festung. Heute war die Aussicht zum Glück von dem Rauch vernebelt, der aus dem Feuer, das auf der westlichen Stadtseite wütete, aufstieg.
»Wenn das Feuer doch nur hierherziehen würde«, meinte Martin. »Da unten haben sie Öl und können es nirgends entsorgen.«
»Für uns wäre ein Feuer aber auch verheerend«, erwiderte Vil. »Zu viel Holz. Die Brücke zum Beispiel ist aus Holz.«
Javel schwieg. Die Vorstellung, von den Flammen eingeschlossen zu werden, war zu schrecklich. Er fragte sich zum sicher hundertsten Mal, warum er nicht so tapfer auf die Welt gekommen war wie die anderen Männer. Hatte seine Feigheit je schon mal jemandem genützt? Allies verächtliches Gesicht blitzte vor ihm auf, und er schloss die Augen, als ob er ihrem Blick so ausweichen könne.
»Ist der Heilige Vater heute schon aufgetaucht?«, fragte Vil.
»Noch nicht«, erwiderte Martin. »Aber er wird kommen. Das sind seine Leute. Die Königin sollte ihn wegen Hochverrats anklagen.«
»Welche Königin? Ist hier irgendwo eine?«
»Ich meinte …«
»Ich weiß, was du meintest«, sagte Vil müde. »Genug. Gehen wir wieder hinunter. Wir müssen schlafen.«
Doch als sie wieder unten angekommen waren, fanden sie keine Ruhe vor, sondern einen lautstarken Streit vor dem Tor, in den die gesamte Torwache sowie eine Gruppe Gardisten und eine Frau verwickelt waren, die Javel sofort erkannte: Andalie, die Hexe der Königin. Sie hielt das kleine Mädchen an der Hand, das zuvor mit Javel gesprochen hatte. Er schauderte bei ihrem Anblick.
»Was ist hier los?«, verlangte Vil zu wissen. »Warum seid ihr nicht auf eurem Posten?«
»Die Frau, Sir«, antwortete Ethan. »Sie besteht darauf, dass wir das Tor öffnen.«
Vil wandte sich ungehalten an Andalie. »Schwachsinn.«
»Die Königin kommt«, beharrte sie. »Öffnet das Tor.«
Einer der Wachen trat vor, derselbe Bogenschütze, der Javel zuvor schon aufgefallen war. Er war kaum älter als ein Junge, doch seine Haltung war so kämpferisch, dass Vil tatsächlich einen Schritt zurücktrat.
»Mace hat Andalie den Oberbefehl übertragen«, sagte der Mann scharf. »Öffnet das Tor!«
Er verpasste Vil einen Stoß, sodass dieser nach hinten taumelte. Marco und Jeremy zogen ihre Schwerter, sahen sich jedoch mehr als zwanzig Gardisten der Königin gegenüber, die alle bis an die Zähne bewaffnet waren. Javel betrachtete die Männer vor sich, und plötzlich sah er statt ihrer eine große Frau auf einem Pferd, eine Frau mit vielen Sorgen, auf deren Kopf eine Krone saß. Er hörte die Schreie von Frauen und Kindern.
Nur ein mutiger Mann könnte das Tor öffnen, flüsterte Dyers Stimme.
Bist du mutig, Javel? Allies Stimme, weder grausam noch freundlich, ernsthaft im Zweifel. Und schließlich die Stimme der Königin in der Festung, vor langer Zeit:
Wollt Ihr es nicht herausfinden?
Doch, das wollte Javel.
Einen Moment später stand er vor dem Tor und begann, die Holzverstärkungen abzureißen. Hände packten seine Schultern und wollten ihn zurückziehen, doch schon bald erkannte er dankbar, dass man ihm zu Hilfe eilte, dass viele Hände die großen Holzbretter abrissen, unter denen langsam die dicke Eiche des Festungstores zum Vorschein kam.
Der Arvath fiel als Erstes.
Das Gebäude stürzte so schnell ein, dass Kelsea sich beinahe betrogen fühlte. Sie hatte sehen wollen, wie das Heim des Heiligen Vaters Stück für Stück einbrach, wie die weißen Steine erst von Rissen durchzogen wurden, dann aufsprangen und schließlich in großen Brocken zu Boden regneten, wie Schnee, der während der ersten Frühlingsschmelze von den Bäumen fiel. Sie wollte sehen, wie das Monstrum in die Knie ging. Doch alles ging sehr schnell; kaum hatte sie ihren Geist auf die hoch aufragende Spitze gerichtet, als schon breite Sprünge im Mauerwerk auftauchten, die Kelsea sogar aus der Ferne sah. Das glänzende Kreuz an der Spitze fiel zuerst, und innerhalb von zehn Sekunden war das ganze Gebäude in einer riesigen Staubwolke eingebrochen.
An sich war das ein guter Anfang. Erst jetzt erkannte Kelsea, wie viel von sich selbst sie in den letzten langen Wochen weggegeben hatte, welch große Teile ihrer Persönlichkeit tot gewesen waren, in Schach gehalten von der unnachgiebigen Kontrolle, die sie sich auferlegt hatte, um im Kerker zu überleben. Dort unten war alles grau gewesen, und es hätte keinen Sinn gehabt, ihrer Wut freien Lauf zu lassen. Sie fragte sich, ob sie kurz vor dem Wahnsinn gestanden hatte, ob sie es überhaupt bemerkt hätte, wenn sie die Grenze überschritten und im Irrsinn versunken wäre. Vielleicht wäre es ihr nur wie der nächste Schritt vorgekommen.
Doch das spielte jetzt keine Rolle mehr. Sie war frei.
Wie durch einen Schleier nahm sie ihre Garde wahr, die ihr folgte, als sie sie im Laufschritt durch die Stadt führte. Row Finns Geschöpfe waren direkt hinter ihnen. Mittlerweile spürte Kelsea auch den Mann selbst, dessen Aufmerksamkeit ausschließlich auf sie gerichtet war. Manchmal dachte sie, sogar seinen Blick auf sich zu fühlen. Einige Male blieben ihre Wachen stehen, um Pfeile auf die Straße hinter sich abzuschießen, doch Kelsea wusste, dass sie nichts treffen würden. Rows Kinder waren zu schnell.
Sie überquerten den Hauptplatz, und Kelsea spürte eher, wie die Menschen vor ihr auseinanderstoben, als dass sie es sah. Sie spielten auch keine Rolle, ihre Probleme waren so klein, Konflikte mit den Ehepartnern, Geldsorgen, Alkohol.
Sie sollten auch besser vor mir davonlaufen, dachte sie grimmig, als ob diese Reise ein Streit wäre, bei dem Kelsea sich im Recht fühlte. Sie sollten weglaufen. Ich bin die Pik-Königin.
Sie rannten an der Außenseite des Guts entlang, wo die Häuser und Gebäude in eine Vertiefung mündeten, das Tal zwischen zwei Hügeln. Früher einmal war hier ein Amphitheater gewesen, in dem sich William Tears Utopisten zu ihren Versammlungen trafen, bei denen Entscheidungen durch Abstimmung getroffen wurden. Lebendige Demokratie, doch eigentlich auch wieder nicht. Hinter allem hatte Tear gestanden, und als diese treibende Kraft verschwunden war, stand die Stadt dem kleinsten gemeinsamen Nenner weit offen. Nur die Führerschaft stand zwischen der Demokratie und dem Mob. Als die das Gut durchquerten, spürte Kelsea die Krippe unter ihnen, diesen riesigen Ameisenhaufen aus Kammern und Tunneln, von Gott weiß wem erbaut. Vielleicht hatte sogar Row selbst diesen tief unter der Erde verborgenen Kerker angelegt. Wer wusste schon, was er insgeheim vollbracht haben könnte?
Wenn ich es nur aufhalten könnte, dachte sie, ein mittlerweile so vertrauter Gedanke, dass er wie von selbst auftauchte. Wenn nur irgendwer dem Ganzen hätte Einhalt gebieten können! Als sie das Gut hinter sich ließen, schickte Kelsea einen breiten Spalt durch die Erde, wie vor langer Zeit bei der Brücke von Neulondon. Die Straße unter ihr erzitterte, doch Kelsea blieb nicht stehen, um zu sehen, was passierte. Das wusste sie schließlich, konnte es genauso präzise vorhersagen, wie Simon die Wirkungsweise einer seiner Maschinen berechnen konnte. Der Spalt würde bis tief in die Tunnel reichen, in denen das dunkle Herz der Stadt lebte. Stützen würden einbrechen, Fundamente einsinken, selbst die Straßen würden in dem von ihr verursachten Riss versinken. Es würde Stunden dauern, vielleicht Tage, doch schließlich wären das Gut und die Krippe nur noch eine archäologische Ausgrabungsstätte unter unzähligen Schichten Holz und Stein, der sich Forscher in der Zukunft widmen konnten.
»Lady, nicht!«, brüllte Mace. »Das Mädchen! Aisa!«
Kelsea war verärgert über die Störung. Welchen Wert konnte schon ein Leben haben im Vergleich zu dem unglaublichen Leid, das unter diesen Straßen geherrscht hatte? Wenn man ihr genug Zeit gab, verschwand vielleicht die ganze Stadt durch ein Loch in der Erde und hinterließ nur noch einen Haufen Schutt. Dieses Ende erschien ihr völlig richtig. Wie sollte man denn auf einem zerbrochenen Fundament aufbauen? Am besten entfernte man alles und begann völlig von Neuem.
So würde Row argumentieren.
Katies Stimme, aber Kelsea ignorierte auch sie. Der Wiederaufbau musste warten. Jetzt wollte sie nur noch strafen. Sie rannte die große Hauptstraße entlang, und die Menschen machten eilig den Weg frei. Sie blickte einer Frau, die vor einem Hutmacherladen stand, in die Augen, und diese begann zu schreien.
Was sehen sie?, fragte sich Kelsea. Sie drehte sich um, wollte Mace fragen, doch er war verschwunden. Sechs Meter hinter ihr kämpfte Elston mit einigen Männern in schwarzen Uniformen der Mortarmee.
Mort? Hier?
Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Mortsoldaten, und diese stürzten mit blutigen Uniformen zu Boden. Die Gardisten waren noch bei ihr, doch Kelsea bemerkte, dass sie ihren Blick mieden. Niemand mochte die Pik-Königin – weder Mace noch ihre Wache, niemand. Der Saphir pochte an ihrem Brustkorb, und jetzt spürte sie Row Finn auch in ihrem Kopf, sein langes Leben, die endlos scheinende Anhäufung von Erfahrungen; sie hatte keine Zeit, sie einzeln zu studieren. Einige nahm sie jedoch bewusster wahr:
Ihre eigenen pummeligen Finger spielten mit Murmeln.
Ihre wertlose Mutter saß an einem Tisch und weinte im Kerzenlicht. Kelsea beobachtete die Frau und empfand beinahe so etwas wie Hass und Verachtung.
William Tear stand auf der anderen Straßenseite und sah aus der Entfernung zu ihr; auf seinem Gesicht waren sowohl Misstrauen als auch Trauer zu lesen.
Sie folgte Jonathan Tear die Straße entlang, beide waren jung, höchstens zehn oder elf Jahre. Doch Kelseas Herz brannte vor Hunger, dem Verlangen, jemand Besonderes zu sein, ein goldenes Kind in den Augen der Stadt.
Jen Devlin unter ihr, deren Augen hervortraten und deren Wangen sich röteten, während Kelsea die Frau erwürgte. Die qualvolle Verwirrung in Jens Augen berührte sie nicht, sie dachte nur, dass es Jens Fehler gewesen war, Vertrauen gehabt zu haben; geglaubt zu haben, dass sie nur Gutes im Sinn hatte.
Sie blickte auf einen Haufen Saphirrohschnitt in ihrer Hand und wusste nicht genau, was sie damit anstellen sollte. Sie war sich nicht sicher, was sie erreicht hatte, nur dass das hier endlich etwas war, was ihr gehörte.
Sie erreichten den Kopf der Hauptstraße, und der Festungsrasen tauchte vor ihnen auf, doch er war nicht mehr so, wie sie ihn zurückgelassen hatte. Überall auf dem Rasen und um die Festung herum waren Mort. Die Zugbrücke war heruntergelassen, und obwohl das Tor bereits gefallen zu sein schien, gingen die Mort trotzdem mit einem Rammbock darauf los. Einige von ihnen versuchten, die Steinmauern der Festung zu erklimmen und auf die Balkone im dritten Stock zu gelangen.
»Wo ist der Captain?«, brüllte Coryn hinter ihr.
»Weg!«, antwortete Elston genauso laut. »Auf der Hauptstraße war er noch bei uns, danach habe ich ihn nicht mehr gesehen!«
Kelsea schüttelte den Kopf. Sie konnte sich jetzt nicht um Mace oder die anderen kümmern. Sie musste einiges erledigen, denn sie hatte etwas auf dem Rasen entdeckt: ein weißes Zelt, auf dem ein Kreuz prangte. Umso besser, wenn Seine Heiligkeit aus dem Arvath entkommen war. Ihr Geist suchte nach Row Finn und seinem Feuer, das er immer kontrolliert hatte, und als Kelsea es fand, schnappte sie vor Freude nach Luft. Das weiße Zelt ging in Flammen auf, Schreie ertönten hinter den Stoffbahnen. Die Männer an den Mauern waren als Nächstes an der Reihe; sie stürzten in den Burggraben und gingen unter; nur eine größer werdende Blutlache auf der Wasseroberfläche war zu sehen. Die Männer am Tor wollten mit Öl ein Feuer entzünden und die Vorderseite der Festung in Brand setzen. Sie packte das Innere der Männer und zog; als ihr Blut über den Rasen spritzte und ihre Körper zu Boden sanken, lächelte Kelsea.
»Lady! Der Captain!«
Elstons Stimme. Verärgert wandte Kelsea sich um und sah, dass er auf die Anhöhe deutete, wo die Hauptstraße begann. Der Anblick weckte etwas in ihrer Erinnerung, so deutlich, dass es beinahe ein Déjà-vu war. Sie zitterte, als sie ein wenig zu sich selbst zurückfand. Wann …
Bevölkerung von Tearling!
… war das gewesen?
Am Beginn des Festungsrasens kämpfte Mace mit vier Männern in roten Umhängen. Eine weitere Erinnerung, und einen Moment fragte Kelsea sich, ob sie wieder am Ufer des Caddell waren und um ihr Leben kämpften. Eine kleine Gestalt kämpfte neben dem riesigen Mace. Die Kapuze des kleinen Kriegers rutschte nach hinten, und Andalies Tochter Aisa kam zum Vorschein, die versuchte, zwei Caden mit ihrem Messer abzuwehren. Ihr Gesicht brannte vor Fieber, und ihr linker Arm hing leblos an ihrer Seite. Diesmal war es kein Test; einer der Caden packte das Mädchen, schlang ihm den Arm um den Hals und brach ihm das Genick.
Da hörte Kelsea einen langen Schrei aus der Festung: Andalie. Doch auch um sie konnte Kelsea sich gerade nicht kümmern. Eine dritte Gestalt rannte den Abhang hinunter auf Kelsea und ihre Garde zu, und der Sturm der Gewalt in ihr verebbte einen Moment lang, als sie Pater Tyler erkannte. Ein unwirkliches, traumhaftes Gefühl überkam sie, das sie seit dem Zeitpunkt, an dem sie im Haus ihrer Mutter aufgewacht war, immer wieder befiel.
Pater Tyler sah aus wie eine Vogelscheuche, seine schmutzige Kleidung hing an ihm wie schlaffe Segel. Mace deckte ihn und hielt die vier Caden in Schach. Dyer und Kibb eilten auf ihn zu, um ihm zu helfen, doch das war nicht nötig; Kelsea konnte es leicht mit den vier Männern aufnehmen. Sie hatte keine Angst mehr vor den Caden oder vor irgendjemand anderem.
»Bringt sie hinein!«, schrie Mace. Er ließ Dyer und Kibb zurück und rannte den Abhang hinunter, wobei er alle in Richtung Festung scheuchte.
Wo hinein?, fragte sich Kelsea, doch als sie sich umdrehte, sah sie, dass das Festungstor wie durch ein Wunder geöffnet war. Tote Mort lagen auf der Zugbrücke und dem Rasen. Kelsea war verblüfft; war das ihr Werk? Nein, natürlich. Die Pik-Königin war dafür verantwortlich.
»Lady, rennt!«, brüllte Elston, packte ihren Arm und deutete auf den Hügel hinauf. Als sie seinem Blick folgte, überfiel sie zum ersten Mal an diesem Tag echte Furcht. Am Beginn der Hauptstraße drängten sich Rows Kinder dicht an dicht und stießen sich gegenseitig aus dem Weg. Wie das kleine Mädchen im Kerker rannten sie auf allen vieren, weshalb die Gestalt auf zwei Beinen in ihrer Mitte leicht zu erkennen war: Row Finn. Seine Haut war weiß, seine Augen glühten rot, sein hübsches Gesicht verschwunden. Kelsea konnte ihn nicht aufhalten. Eine Wand schien ihn und die Kinder zu umgeben, eine Art Schutzschild, wie ihn die Rote Königin um ihre Armee vor den Mauern von Neulondon errichtet hatte.
»Kommt, Lady!«, brüllte Elston erneut, und Kelsea gestattete ihm, sie über den Festungsrasen zu ziehen. Zusammen mit ihren Wachen rannte sie weiter und sah nicht, was aus Dyer und Kibb oder den Caden wurde.
»Majestät«, keuchte Pater Tyler neben ihr. Noch nie hatte sie einen Mann gesehen, der so verhärmt war und kurz vor dem Zusammenbruch stand. Er hielt ihr einen breiten Gurt hin, und Kelsea sah, dass er immer noch seine alte Tasche bei sich trug, auch wenn sie kaum mehr als solche erkennbar war. Erwartete er, dass sie diese für ihn trug? Jetzt?
Die alte Kelsea hätte es getan, hörte sie Carlins tadelnde Stimme in ihrem Kopf. Mit gerunzelter Stirn nahm Kelsea die Tasche.
»Gott sei Dank«, sagte Pater Tyler, während ihm Tränen über die Wangen rannen. »Gott sei Dank.«
Verwirrt starrte sie ihn einen Moment an, dann rannten sie weiter über die Zugbrücke und durch das Tor. Mace holte sie ein, und sobald sie sich im Hof befanden, brüllte er Befehle und führte Kelsea um einige Haufen Ziegel und Holz herum. Viele Gesichter umgaben sie: Andalie, die weiß vor Angst Glee fest im Arm hielt, Devin, sogar Javel in der Uniform einer Torwache. Doch sie konnte mit niemandem sprechen, da ihre Garde sie bereits in die Festung schleuste. Kelsea hörte die hohen Schreie von Rows Kindern, sowohl real als auch in ihrem Kopf. Als sie sich umblickte, war der Korridor hinter ihr voll von ihnen. Sie überrannten die Torwache, kletterten an den Wänden und der Decke entlang, mit grauenhaften, insektenartigen Bewegungen. Pater Tylers Tasche schlug schmerzhaft gegen ihr Knie, doch sie konnte sie nicht zurückgeben, da der Priester hinter ihnen zurückgeblieben war.
»Hier«, rief Mace und drückte eine der vielen Türen auf dem Korridor auf. »Wir schließen uns ein.«
Nachdem er Kelsea in den Raum geschoben hatte, sah sie zu ihrer Erleichterung, dass Pen, Elston, Ewen, Coryn und Galen ihnen folgten. Hinter ihnen warf Mace die Tür ins Schloss.
»Verrammelt die Tür!«, brüllte er.
Elston und Coryn stemmten sich in dem Moment dagegen, als sie zu erzittern begann. Pen stand mit dem Schwert in der Hand vor Kelsea. Blinzelnd sank sie zu Boden, und Pater Tylers Tasche traf mit einem dumpfen Geräusch neben ihr auf.
»O Gott, Lazarus«, sagte sie leise. »Wie habe ich nur versagt.«
»Das seid nicht Ihr, Lady, die da spricht«, knurrte Mace und eilte den Männern an der Tür zu Hilfe. »Werdet mir jetzt nicht weinerlich.«
Was soll ich denn sonst tun?, hätte sie am liebsten gefragt. Mace hatte den Raum klug ausgewählt; die Tür war aus dicker Eiche, doch auch sie würde nicht ewig standhalten. Die Pik-Königin war verschwunden, nur noch Kelsea war übrig, die längst nicht so widerstandsfähig war. Ein harter Schlag erschütterte die Tür, und das Ächzen des Holzes hallte durch den Raum. Mangels anderer Dinge zu tun öffnete Kelsea Pater Tylers Tasche, in der sich zwei Gegenstände befanden: eine alte, abgegriffene Bibel und eine große rote Holzkiste.
»Drückt, Jungs!«, brüllte Mace. »Drückt für die Königin!«
Ein weiterer Schlag donnerte gegen die Tür, doch Kelsea hörte ihn kaum. Sie starrte auf das polierte Kirschholz. Sie hatte die Kiste schon einmal gesehen, als Katie sie in Händen hielt. Sie war beinahe so alt wie Tearling, und jetzt war sie hier. Kelsea klappte den Riegel hoch, hob den Deckel und betrachtete die Krone, perfekt bis ins kleinste Detail, wie Katie sie gesehen hatte.
Er wollte ein König sein, dachte sie. Das war immer sein einziges Ziel, und würde ich ihn nicht zu gern der Pik-Königin vorstellen? Oh, wie gern würde ich …
Ein weiterer gewaltiger Schlag erschütterte den Türrahmen, und die Wachen schrien laut auf. Coryn taumelte nach hinten.
Kelsea war wieder sie selbst und nahm die Krone in die Hand, ignorierte die Stimme, die von ihren Fingern bis zu ihrem Gehirn strömte und sie einzuschüchtern versuchte …
Wag es ja nicht!
… und setzte das Geschmeide auf. Hinter den Steinmauern hörte sie Row Finn vor Wut aufschreien.
Sie hatte gedacht, die Krone wäre schwer – in der Kiste hatte sie sich so angefühlt –, doch sie saß so leicht wie Luft auf ihrem Kopf. Kelsea spürte, wie ihre Macht sie erfüllte, ein steter Strom durch ihre Brust, ein fast schon quälendes Hochgefühl, bei dem sie die Augen schließen musste. Als sie sie wieder öffnete …
… befand sie sich im Cottage.
Es war leer. Sie hatte immer gewusst, selbst kurz nach dem Aufwachen, ob Barty und Carlin zu Hause waren. In diesem Moment spürte sie ihre Abwesenheit. Nichts bewegte sich in den Räumen. Selbst die Staubkörner, die im Licht tanzten, wirkten lethargisch.
Kelsea stand in Carlins Bibliothek. Es kam ihr vor, als sei sie sieben oder acht Jahre alt, wie an einem dieser Morgen, an denen sie hierherkam und sich auf ihrem Platz zusammenrollte und wusste, dass alles in Ordnung war. Doch ihr Platz war nicht hier, der Raum enthielt keine Möbel, nur die Bücherregale. Carlins Bücher umgaben sie von allen Seiten … sie waren aber nicht alt und abgestoßen wie in Kelseas Kindheit. Diese Bücher sahen neu aus. Aus einem Impuls heraus zog Kelsea eines heraus – oh, wie lange hatte sie schon kein Buch mehr in der Hand gehalten! – und stellte fest, dass es sich um Sehr blaue Augen von Toni Morrison handelte. Nur als sie es aufschlug, waren die Seiten leer.
Beunruhigt nahm sie ein zweites Buch aus dem Regal – Das Böse kommt auf leisen Sohlen von Ray Bradbury – und blätterte darin. Auch hier waren die Seiten weiß.
»Carlin!«, rief sie. Doch sie erhielt keine Antwort, nur die schläfrige Stille des leeren Cottages an einem Sonntagnachmittag in ihrer Kindheit. Sie liebte es, wenn Carlin ausgegangen war, wenn nur sie und Barty zu Hause waren und sie nicht jeden Moment mit einem Tadel rechnen mussten. Beim Anblick der leeren Seiten verwandelte sich die vertraute Ruhe des Cottages jedoch in einen Albtraum.
Sie holte Carlins Shakespeare-Ausgabe hervor – dieses Bollwerk aus Sprache konnte sicher nicht ausgelöscht werden –, doch auch hier waren alle Wörter verschwunden. Panisch zog Kelsea ein Buch nach dem anderen heraus – alle waren leer. Ohne Worte hatte das Papier keinen Wert.
»Carlin!«, schrie sie.
»Sie ist nicht hier.«
Kelsea drehte sich um und sah, dass William Tear hinter ihr stand. Seine Anwesenheit erschien ihr logisch, wie immer in Träumen. Nur die unbeschriebenen Seiten der Bücher waren zu schrecklich, um wahr zu sein.
»Warum enthalten sie keinen Text?«, fragte sie.
»Ich schätze, weil die Zukunft noch nicht festgelegt ist.« Tear nahm zwei Bücher auf und stellte sie sanft ins Regal zurück. »Aber ich bin mir nicht sicher. Ich habe noch nie versucht, die Vergangenheit zu ändern.«
»Warum nicht?«, fragte Kelsea. »Die Zeit vor der Überfahrt … Ihr hättet zurückgehen und sie ändern können, nicht wahr? Frewell, die Notfallgesetze …«
»Es erschien mir einfacher, die Zukunft zu steuern, indem ich die Gegenwart ändere. Die Vergangenheit ist so schwerfällig.«
Seine Worte weckten eine Erinnerung. Irgendjemand hatte ihr beinahe dasselbe erzählt, oder? Etwas über Schmetterlinge … es schien unendlich lange her zu sein.
»Ihr glaubt, ich habe kein Recht, mich in die Vergangenheit einzumischen?«, fragte sie.
»Das habe ich nicht gesagt. Aber du solltest darauf vorbereitet sein, dass dich die Entscheidung einen hohen Preis kosten wird.«
»Darauf bin ich vorbereitet«, erwiderte Kelsea, auch wenn sie sich nicht sicher war, ob das zutraf. »Es gibt keine andere Möglichkeit. Tearling steht vor dem Abgrund.«
»Tearling«, murmelte er nachdenklich. »Ich habe ihnen doch gesagt, sie sollen nichts nach mir benennen.«
»Sie haben nicht zugehört.« Kelsea sah sich in der Bibliothek, dem leeren Cottage um. »Warum sind wir hier?«
»Um miteinander zu sprechen, Kind. Ich habe auch immer mit meinen Vorfahren gesprochen, wenn auch nicht hier. Wir trafen uns in Southport, an der Promenade, wo ich aufgewachsen bin. Es hat mir immer Angst eingejagt, die Promenade so leer zu sehen … aber da war ich auch noch jünger als du.«
»Wisst Ihr, wer ich bin?«, fragte Kelsea.
»Ich weiß, dass mein Blut in dir fließt, sonst wäre ich nicht hier. Aber bist du eine Tear oder eine Finn?«
Kelsea überlegte und gab dann zögernd zu: »Ich weiß es nicht. Ich glaube, das weiß keiner. Warum habt Ihr Row von Euch ferngehalten?«
»Wir haben es ihm nicht gesagt. Seine Mutter hätte es geheim halten sollen.«
»Warum habt Ihr es ihm nicht gesagt?«
»Ich habe erst nach der Landung erfahren, dass Sarah schwanger war. Aber ich konnte nicht bei ihr bleiben, nicht nachdem ich gemerkt hatte, dass Lily mehr als eine Vision war. Sarah verlangte von mir, dass ich mich entscheide. Ich habe mich für Lily entschieden und meinen Sohn verloren.«
»Aber Row wusste es.«
»Ja. Sarah war eine schwache Frau und Row ein perfekter Manipulator. Sie konnte nie etwas lange genug vor ihm geheim halten.«
»Ihr wart stolz auf ihn.«
Tear runzelte traurig die Stirn. »Ich war stolz auf sein Potenzial. Doch ich habe auch den Untergang gesehen.«
»Der Untergang steht uns bevor«, drängte Kelsea. »Könnt Ihr uns nicht helfen?«
»Wie heißt du, Kind?«
»Kelsea Glynn.«
»Glynn … diesen Namen kenne ich nicht. Ich sehe, dass du viel zu erzählen hast, und ich würde gern wissen, was aus unserer Stadt wurde. Aber deine Zeit ist knapp. Komm.«
Er führte sie aus der Bibliothek in den kleinen Eingangsbereich des Cottages. Überall sah Kelsea etwas, an das sie sich erinnerte: Carlins silberne Kerzenleuchter, die Vase, die Kelsea mit zwölf angeschlagen hatte, das Schuhregal, das Barty für ihre Schuhe geschnitzt hatte. Doch es steckten keine Kerzen in den Kerzenhaltern, keine Schuhe standen auf dem Regal, die Vase war unbeschädigt.
Tear öffnete die Haustür und bedeutete Kelsea, ihm zu folgen. Sie erwartete, das vertraute Beet vor dem Haus zu sehen – bei dem, was stattdessen vor ihr lag, schnappte sie nach Luft und legte die Hände auf die Ohren.
Sie befanden sich in einem Tunnel, in dem ein schrecklicher Wind heulte und aus allen Richtungen zu wehen schien. Kelsea fühlte sich wie in den Tunneln aus Lilys Erinnerung, schnelle Autos und ohrenbetäubender Lärm, nur dass dieser hier leer war, ohne Autos oder Menschen. Statt der Betonmauern aus Lilys Zeit erstreckten sich meilenweit Bilder vor ihr, Menschen und Orte, die ständig in Bewegung waren.
»Was ist das?«
»Die Zeit«, sagte Tear neben ihr. »Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft.«
»Und was ist was?«, fragte Kelsea und sah sich um. Sie konnte die Szenerien vor sich nicht unterscheiden.
»Es ist alles eins«, erklärte Tear. »Die Vergangenheit steuert die Zukunft; bist du nicht deswegen hier?«
Kelsea fixierte eine Szene und näherte sich ihr durch den leeren Tunnel: ein kleiner Raum mit Holzboden und Steinwänden. Einige Männer stemmten sich mit aller Kraft gegen die geschlossene Tür, hinter ihnen saß eine Frau mit überkreuzten Beinen und geschlossenen Augen auf dem Boden. Den Kopf mit der Krone hielt sie gesenkt. Ein Riss ging durch die Tür, das Holz begann zu splittern.
»Sehr wenig Zeit«, wiederholte Tear. »Du solltest zurückgehen. Du könntest dich aber auch für etwas anderes entscheiden.«
Doch Kelsea durchsuchte bereits die Szenen vor sich, schneller, als sie je ein Buch gelesen hatte.
So viel Zeit war um sie herum!
Und das war es, aber es handelte sich um Kelseas Zeit, denn in der unendlichen Abfolge von Szenen vor sich erkannte sie alle Ereignisse wieder. Sie sah, wie die Wagen der Lieferung über die Almontebene rollten, neun lange Käfige, die sich ihren Weg Richtung Mortmesne bahnten. Sie sah, wie das Weiße Schiff in dem schrecklichen Sturm unterging – Großer Gott, wenn sie das nur hätte verhindern können –, sie sah Präsident Frewell hinter einem Rednerpult stehen, sie sah einen viel jüngeren William Tear aus einem Flugzeug springen. Sie sah, wie Lily weinend beobachtete, wie ihre jüngere Schwester von vier Männern in schwarzen Uniformen abgeführt wurde … und so ging es weiter. Kelsea sah auch Szenen, die weiter zurücklagen, in einer Zeit ohne Autos oder Elektrizität oder sogar Bücher. Die klagende Leere dieser Welt machte ihr Angst, eine Welt, in der ein Großteil der Menschen allein ums Überleben kämpfte. Dorthin wollte sie nicht zurück.
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit der Zukunft zu, doch was sie dort fand, war noch furchterregender. Sie würde in der Festung sterben, in Stücke gerissen von Rows Kindern. Diese würden die Menschheit weiter bedrohen und eines Tages ausgerottet werden, nachdem jemand eine Impfung dagegen erfunden hatte. Kelseas Blick weitete sich, und sie sah Tearling in einigen hundert Jahren, ein despotisches Königreich, das auf Kelseas Erbe aufbaute und seine Herrschaft auf die gesamte Neue Welt erstreckte. Dieses neue Tearling war keinen Deut besser als Mortmesne, aufgebläht von der eigenen Macht und getrieben von einem Gefühl der Überlegenheit. Und das war auch völlig logisch. Die Gefahr eines großen Reiches lag schließlich immer in der Person des Herrschers.
»Wähle rasch«, sagte Tear unbewegt.
Kelsea blickte zurück und sah, dass Rows Kinder über ihre Garde herfielen und sich schneller bewegten als die Klingen der Männer. Eines von ihnen brachte schließlich Mace zu Fall und verbiss sich in seine Schulter. Ein tiefer Riss ging durch Kelsea, und sie schlug die Hand vor den Mund, um ein Wehklagen zu unterdrücken. Pen fiel als Nächstes, sein Schwert war nutzlos gegen die Kreaturen, die sich um seine Knöchel wanden. Innerhalb weniger Sekunden war die Frau mit dem gebeugten Kopf schutzlos, und die Kinder rannten auf sie zu.
»Selbst hier bleibt die Zeit nicht für immer stehen«, sagte Tear. »Wähle.«
Kelsea wandte sich wie betäubt wieder zu den Szenen vor ihr, blätterte durch sie hindurch, immer schneller, bis sie fand, wonach sie gesucht hatte: Katie und Jonathan, die in einem nasskalten Verlies festgehalten wurden. Der Raum war dunkel, doch Kelsea konnte sie sehen, sie schliefen, Jonathans Kopf lag auf Kelseas Schulter.
»Das hier«, erklärte Kelsea Tear. »Ich wähle das hier.«
Sie hielt Finns Saphir in die Höhe. Die Pik-Königin lauerte im Hintergrund, aber Kelsea fürchtete sie nicht mehr. Das, was Kelsea nicht tun konnte, was aber getan werden musste, war ihre Domäne. Beide waren aus der Wut heraus geboren.
Nach Hause kommen.
»Bist du sicher?«, fragte Tear.
»Ja.«
»Dann viel Glück, Kind.« Er tätschelte ihre Schulter. »Eines Tages, wenn deine Zeit abgelaufen ist, werden wir uns vielleicht wiedersehen. Ich weiß, dass du eine Geschichte zu erzählen hast, und ich würde sie gern hören.«
Kelseas Augen füllten sich mit Tränen. Sie wollte ihm danken, doch da war er schon verschwunden.