ie Stadt hatte sich verändert.
Katie konnte nicht genau in Worte fassen, was so anders war. Doch sie spürte es jedes Mal, wenn sie durch die Straßen ging. Diese waren leer und kalt, nicht wie in Katies Jugend. Nachbarn hatten Zäune um ihre Häuser gezogen, von denen manche bereits baufällig waren. Wer sich nicht selbst helfen konnte, dem wurde nicht mehr geholfen. Die Stadt stank nach Verfall.
Eines Nachts waren vierzig Familien einfach weggegangen. Als man ihr Verschwinden bemerkt hatte, war die Gruppe bereits weit draußen auf der Ebene und bewegte sich Richtung Süden. Jonathan hatte ihnen nachreisen wollen, doch Katie hatte ihn davon abgebracht. Keine der Familien gehörte zu Rows Kirche, und mindestens die Hälfte davon war im letzten Jahr angegriffen worden. Selbst wenn Jonathan sie zur Rückkehr überreden konnte, würde man sie genauso verfolgen wie vor ihrer Abreise: Steine waren nachts durch ihre Fenster geworfen, Haustiere getötet worden. Vor zwei Wochen hatte ein Mob Ms. Ziv in die Enge getrieben und mit Stöcken auf sie eingeschlagen und sie damit gezwungen, die Bibliothek zu schließen.
Wenn sie nicht eine so große Verantwortung getragen hätte, wäre Katie vielleicht auch weggegangen. Da Jonathan aber noch hier war, würde auch sie bleiben. Der Verlust von vierzig Familien hatte eine tiefe Wunde hinterlassen; unter ihnen waren die beiden besten Zimmerleute der Stadt gewesen, einige Milchbauern und – was Katie am härtesten traf – Mr. Lynn, der die Schaffarm betrieben hatte. Ohne ihn würde sich die Qualität der Wolle in der Stadt sicher verschlechtern.
Es gab viele Schuldige – Engstirnigkeit nährte sich genauso von Religion wie andersherum –, doch Katie musste immer wieder nach Norden sehen, zum Turm der kleinen weißen Kirche am Stadtrand. In dem Jahr, seit Row die Gemeinde übernommen hatte, waren seine Predigten immer düsterer geworden, ebenso wie die Kirche selbst. Rows Gott war ein eifriger Wächter über das persönliche Verhalten, und dass so etwas der ursprünglichen Idee der Stadt völlig widersprach, schien außer Katie und Jonathan niemanden mehr zu stören. Diejenigen, die nicht arbeiteten, hielten sich ständig in der Kirche auf, egal, ob Row gerade predigte oder nicht. Katie hätte gern der Religion an sich die Schuld gegeben, doch selbst sie konnte sich nicht so weit täuschen. Eine Kirche war nur so gut oder schlecht wie die Philosophie, die von der Kanzel verkündet wurde. Ihre gesamte Wut richtete sich auf die Menschen, die Row folgten, Menschen, die es hätten besser wissen müssen. Einmal mussten sie tatsächlich klüger gewesen sein, sonst hätte William Tear sie nicht auf die Überfahrt mitgenommen. Er hatte seine Leute sorgfältig ausgewählt, das hatte Mum immer gesagt. Die Dinge hatten sich so gründlich geändert, dass Katie nicht mehr wusste, wie sich ihre Mitbürger verhalten würden, bis auf Jonathan und – seltsamerweise – Row.
Sie hatte Row anfangs nur als eine Art Übung verfolgt. Er führte etwas im Schilde, doch das ließ sich ihm kaum nachweisen. Er ging jeden Tag in die Kirche, wo er morgens und abends für alle predigte, die ihm zuhören wollten. Wenn er die Kirche verließ, war er von Frauen umgeben; jede Nacht schlief eine andere bei ihm, auch wenn er sehr vorsichtig war. Seine Geliebten kamen immer erst um Mitternacht oder ein Uhr morgens, wenn die Stadt schon längst schlief. Katie überlegte kurz, die nächtlichen Besuche publik zu machen, schwieg jedoch, auch wenn sie sich dafür verachtete. Sie fühlte sich von Row angezogen – den Moment in seinem Schlafzimmer hatte sie nicht vergessen –, und sie gestand sich ein, dass sie durchaus eifersüchtig war, doch das betraf sein Privatleben, das auch privat bleiben sollte, trotz der damit verbundenen Heuchelei. Wenn sie Row bei etwas erwischen wollte, müsste es in der Öffentlichkeit geschehen, bei etwas, das die ganze Stadt betraf. Nur das würde genügen.
Zwischen den Predigten arbeitete Row in Jenna Carvers Werkstatt. Seine Hingabe an die Arbeit verwirrte Katie immer mehr. Sie hatte ein wenig herumgefragt und erfahren, dass die Kirche sich um Row kümmerte: Die Gemeinde hielt sein Haus in Ordnung, die Frauen hatten schon bis aufs Blut darum gekämpft, ihm das Abendessen bringen zu dürfen. Er brauchte keine reguläre Arbeit mehr. An jedem Tag, ohne Ausnahme, ging er zur Werkstatt und blieb dort fünf oder sechs Stunden. Als Katie sich eines Nachmittags an das Gebäude herangeschlichen hatte, waren die Fenster mit Papier verklebt.
Er führt etwas im Schilde, dachte sie auf dem Heimweg. Sie erinnerte sich noch allzu gut an die lang vergangene Nacht, in der Row sie mit in die Werkstatt genommen und ihr Tears Kette gezeigt hatte. Mittlerweile konnte er wer weiß was in der Werkstatt herstellen. Katie beschloss, dass sie es in Erfahrung bringen musste.
Am nächsten Tag wartete sie vor dem Laden, versteckt hinter Ellen Wycrofts Mühle. Row war bereits zu seiner Abendpredigt aufgebrochen, Katie musste aber noch eine Stunde bis zur Abendessenzeit warten, bis Jenna Carver nach Hause ging. Die Sonne war bereits untergegangen, bald würde der Winter kommen. Am Freitagabend fand das Herbstfest der Stadt statt, die letzte große Feier, bevor alles gegen den Schnee gesichert wurde, der unweigerlich kommen würde. Als Jugendliche hatte Katie das Fest geliebt, seit William Tears Tod erschien es ihr immer gezwungener, die Fröhlichkeit aufgesetzt. Jeder beobachtete jeden und suchte nach Zeichen der Schwäche. Da Jonathan dem Fest nicht fernbleiben konnte, musste auch sie daran teilnehmen. Katie ließ ihn kaum mehr aus den Augen. Virginia und Gavin aßen im Moment mit ihm zu Abend, doch selbst dieses Arrangement war ihr nicht völlig recht. Sie überzeugte sich gern mit eigenen Augen von Jonathans Sicherheit.
Die Ladentür war verschlossen. Katie blickte sich rasch um, niemand war zu sehen. Seit sie mit Row vor Jahren hier gewesen war, hatten einige Leute Häuser am Lower Bend gebaut, doch auch die aßen gerade zu Abend und hatten ihre Türen geschlossen. Die Hälfte der Lampen auf der Straße brannte. Ein Stück entfernt hörte Katie einen Hund bellen, ein kurzes, stakkatoartiges Kläffen, das nicht aufhören wollte. Niemand versuchte, den Hund zu beruhigen, niemand nahm mehr Rücksicht.
Nachdem sie sich versichert hatte, dass sie nicht beobachtet wurde, zog Katie ihr Messer und beugte sich über das Schloss. William Tear würde ihr Tun nicht gutheißen, ein Schloss aufzubrechen in einer Stadt, die auf dem Recht auf Privatsphäre aufgebaut war. Dann erkannte sie, dass das Unsinn war – schließlich hatte Tear es ihnen erst beigebracht. Schlösser knacken, Barrikaden errichten, mit dem Messer umgehen, Kampf Mann gegen Mann, Befragungen widerstehen … all das hatte Tear sie gelehrt. Früher einmal war das einzige verschlossene Gebäude die Bibliothek gewesen, nachdem Ms. Ziv nach Hause gegangen war. Doch seit Tears Tod verriegelten die Menschen die Türen und bauten sogar noch zusätzliche Schlösser ein. Während jene hauptsächlich selbst gefertigte Riegel und Ketten waren, war das Schloss an Jennas Laden ein echtes aus Metall, für das man einen Schlüssel benötigte.
Geheimpolizei, hörte sie Rows leise Stimme in ihrem Kopf. Eine Geheimpolizei mit Jonathan als Anführer.
Das Messer rutschte ihr aus der Hand. Katie fluchte, schob sich eine verschwitzte Haarsträhne aus den Augen und begann von Neuem. Nach fünf Minuten ließ sich die Tür öffnen. Jenna war eine hervorragende Metallarbeiterin, aber keine Schlosserin; Tear wäre enttäuscht gewesen.
Katie schlich in die dunkle Werkstatt und schloss die Tür hinter sich. Sie zündete ein Streichholz aus ihrer Schachtel an und entdeckte auf der Werkbank eine Lampe, die sie entzündete. Die Flamme war schwach, warf jedoch genug Licht, um sich zurechtzufinden. Katie fand ein Stück Holz auf der Werkbank und rammte es unter die Tür. Falls Jenna – oder Row – unerwartet zurückkäme, könnte sie durch das hintere Fenster flüchten.
Seit der Nacht vor fünf Jahren war sie nicht mehr hier gewesen, doch es hatte sich nur wenig verändert. Die Werkbank und die Tische waren immer noch mit Gegenständen übersät, an denen gearbeitet wurde. Jenna stellte Schmuck her, reparierte aber auch viele Stücke, die man bei der Überfahrt mitgebracht hatte. Katie hielt die Lampe in die Höhe, während sie an dem langen Tisch entlangging, an dem Row arbeitete. Sie sah einige Silberstücke, aber keinen Saphir. Die Schublade, in der Tears Stein damals gewesen war, enthielt nur noch einen kleinen Spachtel.
Ich hätte ihn schon vor Jahren beobachten sollen, dachte Katie verärgert. Wie viel hat er schon im Geheimen angestellt, während wir herumsaßen und mit unseren Messern spielten?
Eine andere Stimme fragte jedoch, ob sie in so einer Stadt wirklich leben wollte: eine Gemeinschaft, die im Namen der Sicherheit ständig überwacht wurde. Tear hatte einmal so etwas erwähnt, nicht wahr? Ja, vor langer Zeit, als Lear eine Frage über die Verpflichtung einer Regierung gestellt hatte, für die Sicherheit der Bürger zu sorgen. Katie schloss die Augen und war wieder in Tears Wohnzimmer. Sie war fünfzehn oder sechzehn, das Feuer brannte, und Lears Frage hing in der Luft.
»In so einem Fall ist Sicherheit eine Illusion, Lear«, hatte Tear geantwortet. »Eine unzufriedene Bevölkerung wird noch den sichersten Staat zermürben. Doch selbst wenn man Sicherheit irgendwie mit Gewalt durchsetzen könnte, Lear, frage ich zuerst Folgendes: Wie wichtig ist die Sicherheit? Ist sie es wert, nach und nach jedes Prinzip zu untergraben, auf dem eine freie Nation gegründet wurde? Was für eine Nation wäre das Ergebnis?«
Katie stockte der Atem. Sie hatte halbherzig mit der Hand über Rows Arbeitsplatz gestrichen, schon überzeugt, dass, was auch immer sie zu finden geglaubt hatte, nicht hier war. Doch ihre Finger hatten gerade etwas ertastet, das zu symmetrisch und glatt für Holzsplitter war. Sie hielt die Lampe über die Stelle und entdeckte eine Erhebung, eine Art Kante. Sie versuchte, den Fingernagel darunterzuschieben, die Messerspitze, doch es gelang ihr nicht. Katie dachte einen Moment nach, dann legte sie die Fingerspitzen auf die Erhebung und drückte zu. Mit einem leisen metallischen Geräusch hob sich ein Stück der Tischplatte und enthüllte ein Geheimfach. Darin lag eine glänzend polierte Kiste aus tiefrotem Holz.
Kirsche, dachte Katie. In der Stadt selbst gab es keine Kirschbäume, aber Martin Karczmar hatte bei seinen Erkundungsgängen am Fluss einige gefunden. Die Kirschen, die er mitgebracht hatte, waren sehr begehrt gewesen, ebenso wie sich die Schreiner über einige Äste gefreut hatten. Doch für so viel festes Holz musste man einen ganzen Baum fällen. Wer würde sich so viel Mühe machen?
Sie hob die Kiste aus dem Geheimfach. Die Oberfläche war fast so glatt wie Eisen. An der Seite war eine Schnalle angebracht, aber zum Glück kein Schloss. Katie öffnete den Deckel und schnappte nach Luft.
In die Kiste gebettet lag eine Krone. Sie schien aus massivem Silber zu sein, durchsetzt mit leuchtend blauen Steinen, die William Tears Saphir bemerkenswert ähnelten. Es war eine wundervolle Handarbeit. Während Katie sie staunend ins Licht hielt, rasten gleichzeitig ihre Gedanken. Warum sollte Row heimlich so etwas anfertigen? Wofür brauchte er eine Krone?
Sei nicht dumm, flüsterte ihr Geist. Darauf gibt es nur eine Antwort.
Da klapperte das Türschloss. Katie drückte rasch Krone samt Kiste gegen die Brust, um sie nicht fallen zu lassen. Der Knauf drehte sich, doch der Keil unter der Tür hielt.
Jemand klopfte.
Leise legte Katie die Krone in die Kiste, die sie auf dem Tisch abstellte, und ging auf Zehenspitzen zur Tür; gleichzeitig zog sie ihr Messer. Möglicherweise drang Licht durch den Türrahmen, aber Jenna hätte auch eine Lampe brennen lassen können, während sie daheim zu Abend aß. Katie lehnte sich gegen die Tür und horchte. Auch wenn kein Geräusch zu hören war, so spürte sie, dass der abendliche Besucher noch nicht weggegangen war.
Bist du es?, fragte sie im Stillen. Row schien immer alles zu wissen; wusste er auch jetzt, dass jemand hier war und mit seinem neuesten Spielzeug spielte?
Das Messer fest in der Hand, bückte sie sich und zog den Keil leise unter der Tür hervor. Ihr Herz hämmerte, ihr Blick war verschwommen und ihre Handfläche um das Messer schweißnass.
Wie unsere Körper uns verraten, dachte sie kläglich. Es war überhaupt nicht wie beim Training. Langsam richtete sie sich auf, ein Knie knackte laut. Sie legte eine Hand auf den Türknauf und wollte schon die Tür aufreißen, dann zögerte sie, konnte sich nicht zu dem letzten Schritt durchringen. Wenn dort jemand stand, was wollte sie tun? Ihn erstechen? Könnte sie einen Menschen wirklich töten? Was, wenn es sich um Row handelte? Könnte sie ihn töten? Sie wusste es nicht, weshalb sie wie erstarrt dastand.
Schritte ertönten, die sich die Treppe zur Werkstatt hinunterbewegten. Katie sackte erleichtert gegen die Tür. Sie wischte sich mit der Handfläche den Schweiß von der Stirn. Nach ein paar Sekunden eilte sie zurück zum Tisch. Sie war schon viel zu lange hier, Rows Predigt würde bald beendet sein. Er konnte jeden Moment zurückkehren.
Katie schloss den Deckel der Kiste und betrachtete die glänzende Oberfläche. Es war nur eine Krone, keine Waffe; selbst wenn Row insgeheim der König der Stadt werden wollte – und das würde er auch, dessen war sie sich sicher –, würde ihm die Krone nicht dabei helfen, dieses Ziel zu erreichen. Sie konnte sie hierlassen, sie wieder in ihrem Versteck verstauen, und keiner wäre schlauer. Doch ihr ließ keine Ruhe, dass die Krone so fein ausgearbeitet und mit so vielen Saphiren besetzt war. Was wollte Row erreichen?
Diebstahl war eines der schlimmsten Verbrechen, der absolute Gegensatz zu allem, wofür die Stadt stand. Es existierte keine eindeutigere Aussage, dass etwas nicht freiwillig gegeben wurde, was man sich nehmen musste. Katie hatte noch nie im Leben etwas gestohlen, und sie hatte das Gefühl, dass sie eine Grenze überschreiten und eine dunkle Tür in sich öffnen würde, die sich nicht mehr so leicht schließen ließ.
Wir dachten, Tear wäre perfekt, doch das war er nicht, dachte sie grimmig und blickte auf die glänzende Kiste. Er hat uns verlassen, als wir ihn am dringendsten brauchten. Und wenn man Tears Worten nicht vertrauen kann, wem können wir dann trauen?
Uns selbst.
Diese Vorstellung war ein noch schlimmeres Vergehen als Diebstahl. Doch Katie fiel nichts anderes ein. Sie packte die Kiste, schob sie unter ihren weiten Pullover, dessen Saum sie in den Hosenbund steckte; dann zog sie den Strick, der als Gürtel diente, fest. Sie löschte die Lampe und schlich nach draußen. Niemand war zu sehen, auch wenn sie aufmerksam nach Row Ausschau hielt. Als sie um die Ecke in die nächste Straße bog, hielt sie die Kiste mit dem Arm fest und begann zu laufen. Sie hatte furchtbare Angst, doch gleichzeitig war ihr nach Lachen zumute. Als sie in den Wald rannte, auf die Stadt zu, entfuhr ihr ein übermütiges Glucksen.
Das diesjährige Herbstfest war genauso prachtvoll wie immer: Girlanden schmückten die Bäume um die Stadtmitte, die Straßen waren mit Papierlaternen erleuchtet. Die Handwerker bauten Stände auf dem Gemeindeplatz auf und boten ihre Waren feil oder tauschten sie ein. Dennoch war etwas anders als früher. Die Fröhlichkeit, die das Fest sonst immer ausgezeichnet hatte, war verschwunden. Die Stadtbewohner spazierten zwischen den Ständen umher, das Ale floss in Strömen, doch überall standen die Menschen in kleinen Gruppen beisammen und sprachen verstohlen miteinander, während sie immer wieder über die Schulter blickten. Die Handwerker, die den Kindern normalerweise immer kleine Stücke zum Spielen gaben, verhandelten nun hart über jeden einzelnen Gegenstand.
Katie konnte sich nicht entspannen. Überall schien geflüstert zu werden. Sie, Gavin und Virginia gingen mit Jonathan in der Mitte über den Platz, und sie spürte die Blicke auf sich, Augen, die sich in dem Moment abwandten, in dem sie den Kopf drehte. Sie hatte das Gefühl, immer paranoider zu werden, konnte sich aber nicht einreden, dass sie sich alles nur einbildete. Das Lächeln, das die Menschen Jonathan zuwarfen, wirkte falsch.
Als ihr jemand einen Krug Ale in die Hand drückte, ließ Katie ihn auf einem Tisch stehen. Mum war ebenfalls da und beobachtete alles, doch das war nur ein Grund. Katie spürte, dass sich etwas über ihnen zusammenbraute, wie die statische Aufladung in der Luft, bevor ein Sturm aus dem Süden über die Stadt hereinbrach. Wo sie auch hinblickte, sah sie glänzende Augen, leuchtende Zähne, schimmernde Haut. Sie fühlte sich, als hätte sie Fieber. Die Musik hatte eingesetzt, und die Menschen tanzten auf der freien Fläche in der Mitte des Gemeindeplatzes, aber irgendwie wirkten die Tänzer falsch auf Katie, als ob sie zu angestrengt versuchten, eine fröhliche Atmosphäre zu verbreiten, etwas Gärendes zu überdecken und den Roten Tod abzuwehren.
»Katie!«
Sie zuckte zusammen, als jemand sie um die Taille fasste. Ihre Hand wollte schon das Messer unter ihrem Hemd hervorziehen, als sie erkannte, dass es nur Brian Lord war.
»Tanz mit mir, Katie!«
»Nein!«, erwiderte sie entschieden und schob seine Hände weg. Jeder schien sie anzustarren, doch als sie sich umdrehte, um es zu überprüfen, hatten sich alle abgewandt. Brian verschwand, und sie drängte sich weiter durch die Menge auf der Suche nach einem Sitzplatz.
»Katie.«
Row stand hinter ihr. Sein Blick zuckte zu Jonathan, musterte ihn kurz und unbeeindruckt, dann konzentrierte Row sich wieder auf Katie.
»Was willst du, Row?«
»Einen Tanz, was sonst?«
Katie sah in Jonathans Richtung, doch er, Gavin und Virginia waren zu einem nahegelegenen Stand gegangen, an dem Lederwaren wie Stiefel und Gürtel angeboten wurden.
»Es geht ihm gut«, flüsterte Row ihr ins Ohr. »So wie immer, Katie. Er braucht dich nicht. Warum gönnst du dir nicht ein wenig Zeit für dich? Niemand muss es wissen.«
Er zog an ihrer Hand, und Katie folgte ihm an Mrs. Harris’ Pfefferkuchenstand vorbei in den dahinterliegenden Wald. Die Bäume standen dicht beieinander, und Katie war einen Moment lang beunruhigt – es ist so dunkel hier! –, bevor sie sich an ihr Messer erinnerte. Row versuchte, sie tiefer in den Wald zu führen, doch sie blieb stehen und entzog ihm ihre Hand.
»Was willst du?«, wiederholte sie.
»Du hast etwas gestohlen, Katie.«
»Und was soll das sein?«
Er legte ihr eine Hand an die Hüfte, worauf sie zusammenzuckte.
»Wo ist es?«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, erwiderte sie und versuchte, ihre Gedanken zu verschleiern. Sie hatte die Krone im Wald hinter dem Stadtpark vergraben, tief unter den Wurzeln einer alten, trockenen Eiche. Niemand würde sie finden, außer man suchte danach, doch Row hatte schon früher ihre Gedanken lesen können. Ein Ast zerbrach unter seinen Füßen, als er noch näher an sie herankam und in der Dunkelheit über ihr aufragte. Sie dachte an jene Nacht vor langer Zeit, und ein eisiger Schauder überlief ihren Rücken. Wie hatte aus den zwei Kindern, die durch die Wälder streiften, das hier werden können? Seine Hand lag immer noch auf ihrer Hüfte, und Katie schob sie weg.
»Spiel nicht mit mir, Row. Ich bin keiner deiner Kirchennarren.«
»Nein, das bist du nicht, aber du wurdest hinters Licht geführt, wie wir alle. Von Tear.«
»Nicht schon wieder.«
»Denk darüber nach, Katie. Warum wird alles geheim gehalten? Warum wird nicht über die Vergangenheit gesprochen?« Er packte ihren Arm, sein Gesicht war bleich, die Augen aufgerissen und fiebrig. Im Mondlicht leuchteten sie beinahe rot. Einen schrecklichen Moment lang erinnerte er sie an das Wesen, das sie in jener Nacht im Wald gesehen hatte, und sie stolperte zurück, wobei sie beinahe gegen einen Baum prallte. Als sie aufblickte, war er wieder der alte Row.
»Ich weiß, warum er die Vergangenheit verschwiegen hat, Katie. Er wollte nicht, dass wir wissen, dass es auch anders sein könnte. Jeder nach seiner Begabung … die Klugen und hart Arbeitenden werden belohnt, die Faulen und Dummen bestraft.«
»Das funktioniert vielleicht in deiner Gemeinde, Row, aber nicht bei mir. Du kannst mir viel erzählen. Ich lese, Row. Dein Paradies ist ein Albtraum.«
»Nur für die Schwachen, Katie«, erwiderte Row mit einem Lächeln. »Die Schwachen waren Bauern, Spielfiguren. Du und ich – wir könnten alles sein.«
Er drängte sie gegen einen Baumstamm, seine Hände machten sich an ihrer Kleidung zu schaffen, und Katie stellte fest, dass sie ihn nicht aufhalten wollte. Sie war betrunken, jedoch nicht vom Alkohol. Sie ließ sich einfach treiben, erinnerte sich an jene Nacht, wie Row vor ihrem Fenster aufgetaucht war und sie bat, mit ihm in die Nacht hinauszuziehen. Sie hatte damals nicht gewusst, warum sie mit ihm ging, und sie wusste es auch jetzt nicht … außer vielleicht, dass sie es nicht tun sollte. Vielleicht war allein das der Grund. Sie liebte Row nicht, dachte, sie würde ihn vielleicht sogar hassen, tief unten an einem dunklen Ort, an dem Liebe und Hass enger miteinander verbunden waren als Blutsverwandtschaft. Doch Hass war ein mächtiges Aphrodisiakum, weshalb sie ihre Finger krümmte und in Rows Rücken krallte.
Er schob sich in sie, und Katie kam völlig unerwartet sofort zum Höhepunkt. Rinde schnitt in ihren Rücken, es war ihr aber egal; der Schmerz erschien ihr passend. Row stieß so heftig in sie hinein, wie sie es in den Büchern gelesen hatte, und es fühlte sich so unglaublich gut an, dass Katie die Hand vor den Mund schlug, um nicht aufzuschreien. Nur dreißig Meter entfernt ging das Fest seinen Gang. Sie versuchte, an Jonathan zu denken, doch er war weit weg, in dem hell erleuchteten Universum hinter den Bäumen. Rows Lippen waren an ihrem Hals, auf ihren Brüsten, er biss in ihre Brustwarzen, bis es schmerzte, was sie nur noch mehr erregte. Ein Teil von ihr wünschte, dass sie ewig so weitermachen könnten, dass sie niemals in die Stadt zurückkehren müssten, wo sie Feinde waren. Sie spürte ihren dritten Orgasmus nahen, als Row sich versteifte, tief in sie hineinstieß und sie fest umklammerte. Dann brach er schwer atmend an ihrer Schulter zusammen.
»Es ist noch nicht zu spät, Katie«, flüsterte er. »Wir könnten die Könige sein.«
Sie starrte ihn an, spürte, wie die Kluft in ihrem Inneren sich schloss und sie wieder sie selbst wurde. Sie war zwanzig Jahre alt, Jonathan beinahe einundzwanzig, Row zweiundzwanzig. Keiner von ihnen konnte entschuldigt werden.
»Könige«, wiederholte sie, schob ihn von sich und zuckte zusammen, als er aus ihr herausglitt. »Und doch hast du nur eine Krone angefertigt, Row. War sie für mich?«
»Katie …«
»Natürlich nicht. Du kannst nicht teilen, also spiel mir hier nichts vor. Das ist nicht deine Stadt. Sie gehört den Tears.«
Row lachte. Katie hatte das Gefühl, irgendetwas Wichtiges zu übersehen. Zum sicher hundertsten Mal fragte sie sich, warum William Tear Row nicht schon vor langer Zeit getötet hatte. Er musste das doch vorhergesehen haben.
»Ich gebe dir eine letzte Chance, Katie. Komm auf meine Seite.«
»Und wenn nicht?«
Row schwieg, aber das spielte keine Rolle, denn einen Moment später zerriss ein Schrei die Luft. Katie wirbelte herum, doch die Bäume versperrten ihr den Blick. Weitere Schreie ertönten und hallten von dem hell erleuchteten Gemeindeplatz durch die Bäume. Katie richtete rasch ihre Kleidung und begann zu rennen. Sie hatte das Gefühl, durch Schlamm zu waten. Row lachte hinter ihr, ein grausames Geräusch, das Katies Vorstellung nach Würmer von sich gaben, wenn sie sich in einen Sarg drängten. Sie sah Kleider vorbeihuschen, als die Menschen schreiend wegrannten. Im Laufen zog sie ihr Messer; jetzt war es egal, ob man sie damit sah. Die Menschen sollten wissen, dass man sich in der Stadt gegen Row und seine jämmerliche Bande von Heuchlern wehrte, selbst wenn Jonathan später würde dafür zahlen müssen.
Sie bog um die Ecke von Mrs. Harris’ Zelt und hielt inne. Der Gemeindeplatz war verlassen, das Lampenlicht beleuchtete die Zelte, deren Bahnen im Wind flatterten, und den Boden, ein Teppich aus zerschlagener Keramik. Erst nach einem Moment verstand Katie, was die Scherben zu bedeuten hatten: Bierkrüge, die bei der Flucht fallen gelassen worden waren. Sie wandte sich nach rechts und erstarrte.
Zwei Menschen lagen in der Mitte des Platzes, der Boden unter ihnen war blutdurchtränkt. Katie näherte sich ihnen vorsichtig, beugte sich hinab und drehte einen Körper um. Mit einem leisen Schreckensschrei sprang sie zurück, als sie Virginias Gesicht sah, deren Augen weit offen standen; ihr Mund hing schlaff herab. Man hatte ihr die Kehle durchgeschnitten. Ein dünner Blutfaden rann über ihr Kinn. Ohne nachzudenken, getrieben von dem Gefühl schrecklicher Unausweichlichkeit, drehte Katie den zweiten Körper zur Seite.
Es war Mum.
Zuerst war Katie dankbar, dass Mums Augen geschlossen waren. Ihr Hals war blutig, ebenso wie ihr Hemd, doch mit geschlossenen Augen wirkte sie seltsam friedlich, so wie Katie sie immer im Schlaf gesehen hatte. Dann verschwand die Lähmung, und Katie stolperte keuchend davon, die Arme um den Leib geschlungen, die Augen weit aufgerissen vor Schmerz.
Jonathan!
Panisch blickte sie umher, er war nirgends zu sehen, ebenso wenig wie Gavin … Gavin, der zur Wache eingeteilt war, während Katie sich ein wenig Entspannung im Wald gönnte. Eine Scherbe klirrte hinter ihr, und Katie wirbelte herum, überzeugt, dass Row es auch auf sie abgesehen hatte. Das hier war Rows Werk, seine Leute, und sie konnten nicht Mum töten und Katie leben lassen, denn sie würde sie alle umbringen …
Doch es war nur ein Fuchs, einer der kleinen Jungtiere, die im Wald lebten, der die Essenreste auf dem Boden untersuchte.
Katie wandte sich wieder den beiden Leichen vor ihr zu; sie fühlte sich wie betäubt und gleichzeitig hellwach. Irgendjemand hatte Virginia und Mum erstochen, jedoch nicht Row. Wer? Virginia hatte auf Jonathan aufgepasst. Sie und Gavin … wo war Gavin? Niemand kam mit einem Messer an ihm vorbei. Katie sah sich auf dem Gemeindeplatz um, spürte Blicke auf sich. Row musste noch irgendwo hier sein. Draußen im Wald vielleicht, er beobachtete sie und freute sich darüber, wie leicht er sie hatte ablenken, sie fortlocken können, wie leicht sie sich zum Idioten gemacht hatte …
»Wo bist du?«, schrie sie.
Doch nichts regte sich bis auf die Lampen, die im Spätherbstwind schaukelten.
Die Tür zu Rows Haus ließ sich leicht eintreten; es war ein altes Haus, direkt nach der Überfahrt gebaut, und die Tür fiel mit einem Knall in die Diele. Katie stürzte mit gezücktem Messer hinein.
Ein großes Gemälde von Row, das seine Mutter angefertigt hatte, schmückte den Eingangsbereich. Auf dem Bild war er acht oder neun, es war auch nicht besonders gut, und seine Mutter hatte den Rahmen lächerlich mit Blumen und Stechpalmzweigen geschmückt. Katie war schon Hunderte Male an dem Bild vorbeigegangen und hatte es kaum bemerkt, geschweige denn sich darüber Gedanken gemacht, was die ganzen Blumen bedeuten könnten, die sich über den Rahmen ergossen und einen süßlichen Gestank nach Fäulnis verbreiteten.
Mrs. Finn saß im Wohnzimmer in ihrem Schaukelstuhl und starrte in den Kamin. Das Haus war kalt, doch es brannte kein Feuer, was Katie unerklärlich beunruhigte. Mrs. Finn sah kaum auf, als Katie den Raum betrat.
»Verschwinde, Tearhure.«
Verblüfft blieb Katie stehen. Sie hatte Rows Mutter nie gemocht, doch sie waren immer gut miteinander ausgekommen. Katie hatte ihre Verachtung für die Frau tatsächlich sehr viel besser verborgen als Row selbst. Doch Mrs. Finns Stimme war ebenso ätzend wie ihre Worte.
»Wo ist er?«
»Er hat jetzt das Sagen«, erwiderte Mrs. Finn. »Wir müssen euch nicht länger ertragen.«
»Wen meinen Sie damit?«, fragte Katie und sah sich im Zimmer um. Row war nicht hier, und sie fand auch nichts, was auf seinen Aufenthaltsort hinwies. Katie fragte sich, ob sie ihn aus seiner Mutter herausprügeln musste. Könnte sie das überhaupt? Wahrscheinlich nicht, doch jedes Wort aus dem Mund der Frau ließ die Vorstellung verlockender erscheinen. Mum war tot – Katie verdrängte den Gedanken rasch wieder –, und dieses schreckliche Weib lebte weiter und entschuldigte ihren Sohn selbst jetzt noch.
»Ihr alle«, keifte Mrs. Finn, »ihr glaubt, ihr seid so viel besser als wir. Habt meinen klugen, tapferen Jungen wegen dieses Schwächlings ignoriert. Die ganzen Bücher haben euch jetzt auch nicht geholfen, nicht wahr? Mein Junge hat jetzt das Sagen in dieser Stadt.«
»Sie sind also auch eifersüchtig auf Jonathan«, sagte Katie und betastete ihr Messer. »Genauso wie Row.«
»Jonathan Tear ist ein Lügner!«, erwiderte Mrs. Finn scharf. »Er ist nicht sein Vater, und warum sollte er das auch sein? Seine Schlampe von Mutter hat alles kaputtgemacht.«
Katie holte verletzt Luft. Sie dachte an das Porträt von Jonathans Mutter im Wohnzimmer der Tears: Lily, den Bogen in der Hand, das Gesicht leuchtend vor stillem Glück. Das blumengeschmückte Haar ergoss sich auf ihren Rücken. Auch wenn sie das Wort aus den Büchern kannte, hatte Katie noch nie gehört, wie jemand »Schlampe« tatsächlich in den Mund nahm. Der Hass in diesen zwei Silben ließ sie erstarren.
»Du warst doch Rows Freundin, Mädchen. Ich erinnere mich, und er hat es auch nicht vergessen. Sie mussten nur den Finger krümmen, und schon hast du ihn fallen lassen.«
»Wo ist Jonathan?«, verlangte Katie zu wissen. Erst jetzt fragte sie sich, warum man sie nicht mit Jonathan zusammen entführt hatte, und die Antwort war einfach: Row wollte seine Krone zurück und hatte gehofft, dass Katie ihn zu ihrem Versteck führen würde. Sie verstand die Welt nicht, in der Row und die Tears lebten, die Edelsteine und die Magie und die Visionen, doch sie wusste, dass die Krone nur Ärger bedeutete. In diesem Moment beschloss sie, sich ihr nie wieder zu nähern. Das Ding konnte in der Erde verrotten.
Mrs. Finn lächelte voller Bosheit. »Mein Junge braucht dich nicht mehr. Er hat seine eigenen Gaben. William Tear kann ihm nicht länger wehtun.«
Katie verengte die Augen und versuchte, den letzten Satz zu verstehen. Soweit sie wusste, hatte William Tear Row nie besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Gerade das war ja das Problem, dass man Row niemals die Wertschätzung entgegengebracht hatte, die er verdiente.
William Tear hatte Row nie gelobt oder herausgestellt, nicht einmal wenn es angemessen gewesen wäre, selbst dann nicht, wenn er es angesichts von Rows Intelligenz und Fähigkeiten hätte tun sollen. Tear hatte ihn so gekonnt ignoriert, dass er es mit Absicht getan haben musste … Ein schrecklicher Verdacht wuchs in Katie. Sie starrte Mrs. Finn an, versuchte, ihre Gedanken zurückzudrängen, denn sie wollte keine Antwort auf diese Frage, wollte nicht wissen …
»Ich habe den ganzen Morgen gelesen«, verkündete Mrs. Finn. Sie streckte die Hand zum Tisch aus, und Katie machte einen Satz nach vorn, überzeugt, dass auch Rows Mutter ein Messer besitzen müsse. Sie griff aber nur nach einem ledergebundenen Buch mit einem goldenen Kreuz auf der Vorderseite.
»Kennst du die Geschichte von Kain, Kind?«
»Kain?«, fragte Katie ahnungslos. Sie hatte die Bibel natürlich gelesen, um zu verstehen, was Row da predigte. Doch in diesem Moment verband sie nichts mit dem Namen.
»Kain. Der ungeliebte Sohn, der ignoriert und ohne eigene Schuld übergangen wird. Gottes Wille.« Wieder lächelte Mrs. Finn, diesmal nicht boshaft, sondern schaurig, als ob sie durch eine Öffnung auf ihren eigenen Tod blickte. »Ich habe oft von Kain und Abel gelesen. Wir hatten einen Gott in dieser Stadt, der ungerecht und korrupt war, aber er ist nicht mehr hier. Mein Sohn wird seinen rechtmäßigen Platz einnehmen.«
»Ihr Mann …«
»Mein Mann ist vier Jahre vor der Überfahrt gestorben!«, antwortete Mrs. Finn scharf. »Wir kamen hierher, um eine bessere Welt aufzubauen, und was macht er als Erstes? Entscheidet sich für sie! Sogar noch bevor das erste Schiff landete, wussten es alle!« Mrs. Finn umklammerte die Armlehnen ihres Schaukelstuhls, ihre Stimme hob sich zu einem Schrei. »Ich war im vierten Monat schwanger, und er hat mich für eine Amerikanerin verlassen!«
Katie wich zurück und unterdrückte den Impuls, sich die Ohren zuzuhalten. Mrs. Finn würde ihren Sohn niemals verraten. Doch wenn Katie blieb, würde die Frau immer weiterreden, und das ertrug sie nicht länger. Sie dachte daran, wie sie mit William Tear auf der Bank gesessen hatte. Wenn sie damals schon alles gewusst hätte, hätte sie dann immer noch zugestimmt?
»Ich kenne meine Bibel«, murmelte Mrs. Finn mit grimmiger Befriedigung. »Hier wohnen gottesfürchtige Leute. Kain ist aufgestiegen.«
Katie wollte etwas sagen, wusste jedoch nicht was – vielleicht dass Kain und seine Nachkommen wegen ihrer unverzeihlichen Tat verflucht worden waren –, doch in diesem Moment stellten sich die Härchen in ihrem Nacken auf. Sie wirbelte herum und erblickte Gavin und seine erhobene Faust. Der Schlag schleuderte sie gegen die Wand. Und dann war ihr alles egal … William Tear, Mum, Jonathan, alle anderen.
Als Katie erwachte, zitterte sie vor Kälte. Es war stockfinster. Ihre Nasenlöcher brannten, und sie roch Schimmel, Verfall und feuchte Erde. Sie streckte die Hand aus und traf auf warmes Fleisch.
»Katie.«
»Jonathan«, sagte sie atemlos. Einen Moment war sie so erleichtert, dass ihre Gefangenschaft beinahe unwichtig erschien. Jonathan war normalerweise sehr zurückhaltend, was Körperkontakt anging, aber das war Katie egal; sie zog ihn an sich und schlang im Dunkeln die Arme um ihn. Mum war tot, ebenso wie Virginia. Sie waren alle tot: Tear, Lily, Tante Maddy. Nur noch sie und Jonathan waren übrig.
»Bist du verletzt?«, fragte sie.
»Noch nicht.«
Katie gefror bei dieser Antwort das Blut in den Adern. Sie gab Jonathan frei und tastete ihre Umgebung ab. Steinboden, Steinwände, alles mit einer dünnen Schicht einer schleimigen Substanz bedeckt, die sich wie Moos anfühlte. Irgendein Keller. Jeder hatte einen Keller, doch die Häuser der Stadt waren aus Holz, nicht aus Stein. Über sich hörte Katie in der Ferne etwas, das sie zuerst für Wind hielt, doch dafür war das Geräusch zu musikalisch.
»Gesang«, murmelte sie und erkannte einen Moment später: »Wir sind unter der Kirche.«
»Ja.«
Sie legte den Kopf zur Seite und horchte noch einmal. Es klang nach Chorgesang, schien jedoch aus weiter Ferne zu kommen. Sie waren tief unter der Erde, zu tief, als dass jemand sie hören könnte, selbst wenn sie mit vereinten Kräften schrien. Bei dieser Erkenntnis überzog Gänsehaut ihre Arme. Row hatte dieses Verlies gebaut, es konnte nur sein Werk sein. Nur wofür?
»Es muss eine Tür geben.«
»Mach dir keine Mühe«, sagte Jonathan. »Sie ist verschlossen.«
»Ein Schloss kann ich knacken.«
»Dieses nicht.« Jonathan seufzte, und Katie hörte den düsteren Humor in seiner Stimme. »Dein Freund ist ein begnadeter Schlosser.«
»Er ist nicht mein Freund«, erwiderte Katie scharf und tastete weiter die Wand ab. Ihre Hand traf auf Holz, den Türrahmen, schließlich die Tür. Diese war so dick, dass Katies Faust nur schmerzte, als sie dagegenhämmerte, und nichts als ein dumpfes Geräusch zu hören war.
Sie wich zurück, machte einen vorsichtigen Schritt über Jonathan und setzte sich wieder an die Wand.
»Sind sie tot?«, fragte Jonathan. »Virginia und deine Mutter?«
»Ja«, erwiderte Katie. Ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle. Sie schluckte dagegen an, drängte die Tränen zurück und biss sich auf die Lippe, bis sie blutete. Wenn sie hier unten in der Dunkelheit zu weinen anfing, würde sie nie wieder aufhören können.
»Gavin«, sagte Jonathan nachdenklich. »Von Row wusste ich, aber Gavin … ich hätte nie gedacht …«
Warum nicht?, hätte Katie am liebsten geschrien. Warum wusstest du es nicht? Sonst wusstest du doch auch alles? Warum das jetzt nicht?
Sie holte tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen.
Panik war sinnlos, hatte William Tear ihnen immer gesagt, und selbst die Erinnerung an ihn wirkte beruhigend. Gavin war ein Verräter, und Katie musste davon ausgehen, dass auch der Rest der Wache sich ihm angeschlossen hatte. Niemand würde nach ihnen beiden suchen. Wenn es einen Weg nach draußen gab, dann mussten sie ihn hier in diesem Raum finden. Über ihren Köpfen schraubte sich der Gesang himmelwärts bis zu einem hohen Crescendo und erstarb.
»Was hat Row mit uns vor?«, fragte Katie.
»Er will den Saphir meines Vaters.«
»Nun, warum nimmt er ihn sich dann nicht?«
»Weil er es nicht kann«, antwortete Jonathan. Katie spürte, dass er seine Worte mit großer Vorsicht wählte. Wieder brandete Wut in ihr auf – musste er auch jetzt noch aus allem ein Geheimnis machen? –, verebbte jedoch rasch wieder. Die Tears waren nun einmal so. Sie hatte gewusst, worauf sie sich einließ, seit dem Tag auf der Lichtung, an dem Jonathan ihre Hand genommen und Unsinn geredet hatte. Sie hatte kein Recht, sich jetzt darüber zu beschweren.
»Ich verstehe den Saphir selbst nicht ganz«, fuhr Jonathan fort. »Ebenso wenig wie mein Vater, auch wenn er auf jeden Fall mehr darüber wusste als ich. Row wollte ihn immer haben, aber man kann ihn sich nicht einfach nehmen. Ich muss ihn freiwillig weggeben, und das weiß er auch.«
»Was geschieht, wenn er es trotzdem versucht?«
»Er wird bestraft.«
»Was heißt das?«
»Gib mir deine Hand.«
Katie gehorchte, und Jonathan legte etwas Kaltes hinein. Seit vielen Jahren hatte sie Tears Saphir nicht mehr gehalten, sie erinnerte sich aber noch deutlich daran, wie er sich anfühlte: kalt, und auch lebendig, fast so, als ob er zwischen ihren Fingern atmete.
»Sie sind alle da drin«, sagte Jonathan leise und schlang seine Finger um Katies. »Generationen von Tears. Ich weiß nicht, wie weit sie zurückreichen; ich habe nur an der Oberfläche gekratzt. Dieser Stein hat seinen eigenen Geist, der sich aus allen Stimmen der Vergangenheit zusammensetzt. Mein Vater ist darin, eines Tages auch ich … wir alle zusammen.«
Katie schloss die Augen und hielt einen Moment den Atem an. Sie wünschte, sie könnte den Stein als das sehen, als was Jonathan ihn sah, wissen, was er wusste, sich durch diese geheime, unsichtbare Welt bewegen. Doch sie war keine Tear, war es nie gewesen. Sie würde nie über das hinausblicken, was Jonathan ihr erzählte, und auch wenn diese Vorstellung traurig war, war sie auch eine gewisse Erleichterung. Jonathans Leben war von quälenden Visionen bestimmt; Tears Magie hatte ihren Preis, auch wenn das nur wenige wussten. Lily hatte es sicher gewusst, Mum vielleicht auch. Doch Katie hatte das Gefühl, dass Row es vielleicht nicht wusste. Eine Idee blitzte in ihrem Kopf auf und huschte dann wieder davon.
Was können wir nur tun?, fragte sie sich. Bei einem Kampf könnte sie es wohl mit Row aufnehmen. Aber ihn töten? Sie dachte an das Wesen, das sie durch den Wald gejagt hatte, die weißen Gliedmaßen und die glühend roten Augen, unzweifelhaft Rows Geschöpf, das er im Geheimen geschaffen hatte, während die Stadt schlief. Könnte sie es töten? Sie hatte kein Messer; man hatte es ihr abgenommen, während sie bewusstlos war. Doch spielte das überhaupt eine Rolle? Gegen diese Bedrohung konnte ein Messer nichts ausrichten.
»Row hat Macht«, fuhr Jonathan fort. »Aber er ist nicht unfehlbar. Er spielt mit Dingen, die er nicht versteht, und auch wenn ihm das nicht bewusst ist, schwächt es ihn.«
Katie nickte, wenn sie diese Aussage auch nicht in allen Einzelheiten verstand. Row war vorsichtig, aber nicht umsichtig. Er hatte immer zu viel gewollt, und eine der ersten Lektionen in Tears Unterricht war gewesen, dass man dadurch verwundbar wurde, selbst wenn einem diese Verwundbarkeit nicht bewusst war. Von außen war so etwas immer leichter zu erkennen; wenn sie doch auch hier von außen auf alles schauen und die Situation so leidenschaftslos hätte einschätzen können wie damals.
Katie.
Sie zuckte zusammen. Etwas hatte sich in ihrem Geist bewegt, bewusst und doch fremd, eine Stimme, die nicht ihr gehörte.
»Was ist denn?«, fragte Jonathan.
Sie schüttelte den Kopf. Über ihnen hatte der Gesang wieder eingesetzt. Ihr Gehirn fühlte sich an, als würde es in zwei Hälften zerrissen. Wusste Jonathan, wer Rows Vater war? Wenn nicht, dann konnte sie es ihm nicht sagen. Sie hatte nie verstanden, was sie für diesen seltsamen jungen Mann empfand, und egal, was es war, sie wollte ihm nicht die Wahrheit über William Tear erzählen und sein Weltbild erschüttern. Das war nie ihre Aufgabe gewesen.
Die Kette an der Außenseite der Tür rasselte, und Katie hörte, wie ein Vorhängeschloss aufgesperrt wurde. Fackellicht erleuchtete den Raum, und sie sah, dass sie sich in einer langen, schmalen Kammer befanden, die etwa sechs mal drei Meter maß. Die Steinwände waren feucht, Wasser tropfte von der Decke.
Wer hat das hier gebaut?, fragte Katie sich erneut. Und wann?
Gavin kam herein, gefolgt von Lear, Morgan, Howell und Alain. Katie musterte sie mit versteinertem Gesichtsausdruck und wünschte, sie bekäme ihr Messer nur für fünf Sekunden zurück. Mit Gavin konnte sie es nicht aufnehmen, aber die anderen vier wären kein Problem.
»Wir haben euch Wasser mitgebracht«, verkündete Gavin knapp, während Lear und Howell einen Eimer auf dem Boden abstellten. Gavin schien ihre Gedanken gelesen zu haben, denn er hielt sein Messer in der Hand und ließ Katie nicht aus den Augen, als er durch den Raum ging.
»Wie lange wollt ihr uns hier festhalten?«, verlangte sie zu wissen.
»Nicht mehr lange, denke ich. Row ist noch beschäftigt, aber danach kümmert er sich um euch.«
»War ich nicht nett genug zu dir, Gav?«, fragte Jonathan, und Katie konnte angesichts seines spöttischen Tons ein Lächeln nicht unterdrücken. »Hat mein Vater dir nicht das Gefühl gegeben, etwas Besonderes zu sein?«
»Darum geht es nicht!«, erwiderte Gavin scharf. »Es geht um die Stadt, die wir wollen!«
Jonathan schüttelte den Kopf, und ein verächtlicher Ausdruck huschte über sein Gesicht. Gavin zuckte zusammen. Er wollte so unbedingt gemocht werden, selbst von den Menschen, die er hintergangen hatte. Das war seine große Charakterschwäche, und Katie sah ihn mit so viel Abscheu an, dass er wieder zusammenzuckte.
»Und was für eine Stadt soll das sein?«, fragte sie. »Eine Stadt, in der Row euch sagt, was ihr zu tun habt, und ihr tut es dann auch? Euch hat er jedenfalls schon gut im Griff.«
»Ich treffe meine eigenen Entscheidungen«, zischte Gavin. »Und das kann keiner von uns in einer Stadt, die den Tears gehört.«
»Das hat er euch also erzählt«, sagte Jonathan nachdenklich. »Wir stehen der Demokratie im Weg?«
»Ja, denn das tut ihr!«
Katie hätte Gavin am liebsten widersprochen, ihm gesagt, er solle den Mund halten, doch sie schwieg. Einen Moment sah sie Jonathan mit Gavins Augen, Rows Augen, und eine unleugbare Wahrheit stieg in ihr auf. Sie waren alle im Unrecht, doch in dieser einen Sache sprachen sie die Wahrheit. Wie konnte man predigen, dass alle gleich waren, wenn sich die Tears gleichzeitig so strahlend von allen unterschieden? Wie konnte man eine gerechte Gesellschaft in William Tears Stadt aufbauen?
Nur einen Moment später verdrängte sie erschrocken diesen Gedanken.
»Und was ist mit euch vieren?«, fragte sie und wandte sich an Howell und die anderen. Bis auf Lear mieden alle ihren Blick.
»Wir haben versprochen, die Stadt zu beschützen«, erklärte er. »Wir brauchen eine klare Richtung. Wir müssen Ballast abwerfen.«
»Ballast. Und was hat Row mit uns vor?«
Lear warf den anderen vier Jungen einen gequälten Blick zu, und Katie realisierte beunruhigt, dass es keiner von ihnen wusste.
»Ich verstehe. Ihr seid mir vielleicht hilfreiche Ratgeber.«
»Halt die Klappe, Katie!«, brüllte Gavin. Er trat gegen den Eimer auf dem Boden, der gefährlich ins Schwanken geriet; Wasser schwappte über den Rand auf Jonathans Füße.
»Deshalb habe ich dich nicht ausgewählt, Gavin«, sagte Jonathan leise. »Du bist innen hohl und versuchst, dieses Loch mit allem Möglichen zu füllen. Egal von welcher Qualität.«
Gavin hob schon das Messer, als Lear seinen Arm packte und rasch sagte: »Wir sollten nur das Wasser herbringen.«
Gavin starrte Jonathan und Katie wütend an, dann steckte er das Messer weg und ging Richtung Tür. »Kommt. Sie sind nicht mehr unser Problem.«
Katie fletschte die Zähne. Bis jetzt hatte sie Gavin für zu dumm gehalten, um ihre Wut auf ihn zu verschwenden. Doch bei seinen Worten, ihrem wegwerfenden Klang, der Vorstellung, dass er seine Hände in Unschuld waschen könnte, einfach, weil er glaubte, es zu können, explodierte etwas in Katie.
»Oh, ich werde dein Problem sein, Gavin Murphy!«, schrie sie ihm nach, als die jungen Männer den Raum verließen. »Du bist ein Verräter, und wenn ich hier herauskomme, werde ich dich wie einen behandeln! Selbst Row kann dich nicht vor mir schützen!«
Die Tür schlug hinter ihnen ins Schloss, zuvor erhaschte Katie aber noch einen Blick auf Gavins bleiches und panisches Gesicht. Sie grinste hasserfüllt in seine Richtung, dann hörten sie und Jonathan, wie das Vorhängeschloss zuschnappte. Die Fackel hatten die vier mitgenommen.
»Ich bewundere deinen Mut«, bemerkte Jonathan trocken. »Es ist nur eine schwer umzusetzende Drohung.«
»Das ist mir egal. Er hat Angst vor Row; dann soll er auch vor mir zittern.«
»Gavin hat vor allem Angst. Deshalb kann man ihn so leicht manipulieren. Diese Angst hat die Zeit vor der Überfahrt beherrscht; mein Vater hat oft darüber gesprochen. Ganze Länder haben ihre Grenzen geschlossen und Mauern gebaut, um eingebildete Bedrohungen abzuhalten. Kannst du dir das vorstellen?«
»Ja«, erwiderte Katie knapp. Nur zwanzig kurze Jahre waren nötig gewesen, um Tears großartige Stadt in ihren Grundfesten zu erschüttern. Row hatte nur eine Kirche dazu benötigt und – welch Ironie – mangelnden Glauben. Sie konnte sich jetzt alles vorstellen. Sie lehnte den Kopf wieder gegen die Wand und schloss die Augen. Die Dunkelheit ließ sich so irgendwie leichter ertragen. »Wie hat dein Vater sich dagegen behauptet?«
»Gar nicht. Er hat es versucht, doch letztendlich musste er fliehen. Sie haben es die Überfahrt genannt … im Grunde war es ein Rückzug. Der jetzt auch gescheitert ist.«
Seine Stimme war so trostlos, dass sie Katies Innerstes traf. Sie tastete nach seiner Hand und verschränkte ihre Finger mit seinen.
»Sei kein Idiot.«
»Das bin ich nicht.« Jonathan klang plötzlich stärker, als wäre er zu einem Entschluss gekommen. »Du musst etwas für mich tun.«
»Was denn?«
Metall klirrte leise, und dann zuckte Katie zusammen, als etwas über ihren Hals glitt und ein schwerer Stein auf ihr Brustbein sank.
»Was tust du da?«
»Ich gebe ihn dir.«
»Warum?«
»Weil du stärker bist als ich. Das warst du schon immer.« Jonathan klang bitter. »Dich kann man nicht so schnell brechen.«
»Uns beide doch nicht.«
»Doch, mich schon.« Jonathan packte ihre Hand. »Wir haben keine Wahl mehr. Es ist besser als nichts.«
Katie verzog das Gesicht. Die Tears waren Pragmatiker, schon immer gewesen. Aber sie sehnte sich nach etwas Besserem: keinem Kompromiss, sondern der Silberkugel, dem heiligen Gral der Regierung. Wo war es, dieses perfekte Etwas? Wenn sie es nur finden könnte, dann würde sie ihr Leben darauf verwenden, es zum Funktionieren zu bringen.
Große Worte in einem Kerker, hörte sie Jonathans spöttische Stimme in ihrem Kopf.
Katie runzelte die Stirn. Sie musste warten, die Gedanken klären, sich auf den Moment vorbereiten, wenn ihr ältester und bester Freund durch die Tür kam, mit einem Messer, das für sie bestimmt war.
Die Zeit verging. Stunden, vielleicht Tage. Katie wusste es nicht. Manchmal schlief sie an Jonathans Schulter gelehnt, manchmal er an ihrer. Oft wachte sie im Dunkeln auf und wusste nicht, wo sie sich befand. Dann spürte sie Jonathans Hand in ihrer und erkannte, dass es beinahe egal war, ob sie in einem Kerker waren oder auf einer Lichtung, in der Stadt oder außerhalb. Sie waren zusammen, teilten das gleiche Schicksal, und das brachte sie einander tausendmal näher als bisher. So nahe, dass, als Jonathan seine Hand unter ihr Hemd schob und Katie auf seinen Schoß rutschte, es sich wie die natürliche Weiterführung von etwas anfühlte, wo sie bereits gewesen waren. Keine Liebe, sondern etwas tausendmal Stärkeres. Als Jonathan in sie eindrang und ihren Kopf an ihren Haaren zurückzog, um ihre Kehle zu entblößen, schrie Katie vor Lust beinahe auf. Als der Saphir an ihrem Hals zu glühen begann und ihrer beider Gesichter beleuchtete, sah sie, dass Jonathan nicht er selbst war, dass auch er sich in den Händen von etwas anderem befand. Und dann dachte sie nur noch, immer wieder: Jetzt sind wir zusammen, jetzt sind wir eins …
Als es vorbei war, fielen ihnen die Augen zu. Jonathan schwieg, ebenso wie Katie, beide dösten. Sie warteten … bereiteten sich vor, jeder auf seine Weise, auf den ultimativen Moment: das Klicken des Schlosses, das Öffnen der Tür.