ür eine kurze Weile hatte Kelsea immer wieder die Augen geöffnet, wenn der Wagen über eine Unebenheit holperte. So konnte sie die Veränderungen in der Umgebung beobachten und sehen, wie die Zeit verging. Doch jetzt hatte es aufgehört zu regnen, und das grelle Sonnenlicht bereitete ihr Kopfschmerzen. Als sie durch das Rütteln des Wagens aus einem endlos erscheinenden Schlaf aufgeschreckt wurde, hielt sie die Augen fest geschlossen und horchte auf die Bewegungen der Pferde um sie herum, das Klirren des Zaumzeugs und das Klappern der Hufe.
»Nicht mal ein Stück Silber«, knurrte der Mann zu ihrer Linken auf Mort.
»Wir bekommen einen Sold«, erwiderte ein anderer.
»Der kaum der Rede wert ist.«
»Das stimmt«, schaltete sich eine dritte Stimme ein. »Mein Haus braucht ein neues Dach. Dieser Hungerlohn wird niemals dafür reichen.«
»Hört auf herumzujammern!«
»Nun, was ist mit dir? Weißt du, warum wir mit leeren Händen wieder abziehen mussten?«
»Ich bin ein Soldat. Es ist nicht meine Aufgabe, etwas zu wissen.«
»Ich habe was gehört«, murmelte die erste Stimme düster. »Ich habe gehört, dass die Generäle und ihre lieben Schoßhündchen, allen voran Ducarte, ihre Anteile sehr wohl bekommen.«
»Was für Anteile? Es gab doch keine Plünderungen!«
»Sie müssen auch nicht plündern. Sie bezahlt sie direkt aus der Staatskasse. Und wir anderen müssen schauen, wie wir zurechtkommen!«
»Das kann nicht sein. Warum sollte sie sie einfach so bezahlen, für nichts?«
»Wer weiß schon, warum die Rote Lady etwas tut?«
»Haltet den Mund! Oder wollt ihr, dass der Lieutenant euch hört?«
»Aber …«
»Seid still!«
Kelsea horchte noch einen Moment länger, doch als das Gespräch nicht wiederaufgenommen wurde, öffnete sie die Augen, legte den Kopf in den Nacken und ließ das Gesicht von der Sonne bescheinen. Trotz der bohrenden Kopfschmerzen war die Wärme auf ihren Verletzungen wohltuend, als würde sie die Haut durchdringen und das darunterliegende Gewebe heilen. Ihr letzter Blick in einen Spiegel lag einige Zeit zurück, doch ihre Nase und ihre Wangen waren immer noch geschwollen und empfindlich, weshalb sie sich recht gut vorstellen konnte, welchen Anblick sie abgab.
Der Kreis hat sich geschlossen, dachte sie und unterdrückte ein resigniertes Lachen, als der Wagen erneut über eine Unebenheit in der Straße holperte. Ich sehe Lily, ich werde zu ihr, und jetzt habe ich auch noch ihre blauen Flecken.
Seit zehn Tagen war Kelsea gefangen. Sechs davon hatte sie an eine Stange gefesselt in einem Mortzelt verbracht, die letzten vier in Ketten auf diesem Wagen. Männer in Rüstung auf Pferden bewachten sie und machten jeden Gedanken an Flucht zunichte. Doch ein größeres Problem als die Reiter war der Mann auf der anderen Seite des Wagens, der sie aus gegen das Sonnenlicht zu Schlitzen verengten Augen anstarrte.
Kelsea hatte keine Ahnung, wo ihn die Mort gefunden hatten. Er schien kaum älter als Pen zu sein, mit einem sorgfältig gestutzten Bart, der in einem Streifen unter seinem Kinn verlief. Er wirkte nicht wie ein Kerkermeister; tatsächlich fragte sich Kelsea allmählich, ob er überhaupt eine offizielle Funktion hatte. Hatte ihm möglicherweise einfach jemand die Schlüssel zu Kelseas Fesseln zugeworfen und ihn mit ihrer Bewachung beauftragt? Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr war sie davon überzeugt, dass es so abgelaufen sein musste. Seit dem Morgen im Zelt hatte sie die Rote Königin nicht mehr gesehen. Ihre Gefangenschaft wirkte völlig improvisiert.
»Wie geht’s dir, Hübsche?«, fragte ihr Aufseher.
Sie ignorierte ihn, auch wenn sich ein ungutes Gefühl in ihrem Magen regte. Er hatte sie »Hübsche« genannt, doch Kelsea wusste nicht, ob das seine persönliche Meinung war oder nicht. Sie war tatsächlich hübsch geworden, Lilys exaktes Abbild, doch sie würde alles für ihr altes Gesicht geben, auch wenn sie nicht wusste, ob ihr eigenes langweiliges Äußeres ihr geholfen hätte, der Aufmerksamkeit dieses Mannes zu entgehen. Nach drei Tagen im Zelt hatte er gewissenhaft auf ihr Gesicht und ihren Oberkörper eingeprügelt. Kelsea wusste nicht, was ihn aufgebracht hatte und ob er überhaupt verärgert war; sein Gesicht hatte keinerlei Ausdruck gezeigt.
Wenn ich doch nur meine Saphire hätte, dachte sie und erwiderte seinen Blick, weigerte sich, die Augen zu senken, falls er das als Zeichen von Schwäche interpretieren sollte. Schwäche stachelte ihn an. Kelsea hatte bereits viele Stunden auf dieser Reise damit verbracht, sich auszumalen, was sie tun würde, wenn sie erst wieder im Besitz ihrer Saphire wäre. Zu ihrem kurzen Leben als Königin hatten viele Formen von Gewalt gehört, doch die von ihrem Gefängniswärter ausgehende Bedrohung war ihr neu: ziellose Gewalt, die aus dem Nichts zu kommen schien. Die schiere Sinnlosigkeit ließ sie verzweifeln, und auch das erinnerte sie an Lily.
Vor etwa einer Woche hatte sie von der anderen Frau geträumt, von der Überfahrt, ein farbenprächtiger Albtraum aus Feuer, einem tobenden Ozean und rosafarbenem Sonnenaufgang. Doch Lilys Leben war irgendwie in den Saphiren eingeschlossen, die Kelsea weggegeben hatte. Sie fragte sich, warum sie all das hatte durchmachen, warum sie hatte so viel sehen müssen. Sie hatte Lilys Gesicht, ihre Haare, ihre Erinnerungen. Doch was war der Sinn dahinter, wenn sie das Ende der Geschichte nicht sehen konnte? Row Finn hatte ihr gesagt, sie sei eine Tear, doch welchen Wert hatte diese Information ohne die Saphire? Selbst Lady Andrews’ Tiara war verloren, im Lager zurückgeblieben. Sie hatte alles aus ihrem alten Leben zurückgelassen.
Aus gutem Grund.
Richtig. Sie durfte Tearling gerade nicht zu sehr an sich heranlassen. Am Ende ihrer Reise wartete sicher der Tod auf sie – warum war sie überhaupt noch am Leben? –, doch sie ließ ein freies Königreich zurück, das von einem guten Mann geführt wurde. Sie sah Mace vor sich, mit seinem typischen grimmigen Gesichtsausdruck, und einen Moment lang vermisste ihn sie so sehr, dass sie die Tränen zurückdrängen musste. Ihr Bewacher durfte nichts von ihrer Verzweiflung merken, da er genau darauf wartete. Wahrscheinlich hatte er sie deshalb so erbarmungslos geschlagen, weil sie sich geweigert hatte zu weinen.
Lazarus, dachte sie und versuchte, wieder Mut zu fassen. Mace saß jetzt auf ihrem Thron, und auch wenn er die Welt nicht genau wie Kelsea sah, würde er ein guter Herrscher sein, gerecht und anständig. Dennoch litt Kelsea mit jeder Meile größeren Schmerz. Sie hatte ihr Königreich noch nie verlassen. Sie wusste nicht, warum sie noch am Leben war, doch man brachte sie sehr wahrscheinlich nach Mortmesne, um sie dort zu töten.
Als etwas ihren Schenkel streifte, zuckte sie zusammen. Ihr Bewacher hatte die Hand ausgestreckt und liebkoste ihr Bein mit einem Finger. Kelsea hätte nicht abgestoßener sein können, wenn sich gerade eine Zecke in ihre Haut gebohrt hätte. Wieder grinste der Mann, die Augenbrauen in die Höhe gezogen, während er auf ihre Reaktion wartete.
Ich bin bereits tot, rief sich Kelsea in Erinnerung. Auf dem Papier war sie bereits seit Monaten tot. In dieser Vorstellung lag eine große Freiheit, die ihr erlaubte, erst die Beine anzuziehen, als wolle sie sich in die Ecke des Wagens drängen, und dann mit voller Wucht ihrem Bewacher ins Gesicht zu treten.
Mit einem lauten Klatschen stürzte er auf die Seite. Die Reiter brüllten vor Lachen, das nicht besonders freundlich klang. Ihr Bewacher war offensichtlich nicht beliebt bei der Infanterie, doch das würde ihr nicht weiterhelfen. Sie zog die Beine wieder unter den Körper und hielt die gefesselten Hände vor sich, bereit, sich nach Kräften zu verteidigen. Der Bewacher setzte sich auf, Blut rann aus einem Nasenloch, doch er schien es nicht zu bemerken, machte sich nicht die Mühe, es abzuwischen.
»Ich habe doch nur gespielt«, sagte er gereizt. »Mag das hübsche Mädchen keine Spiele?«
Kelsea schwieg. Die plötzlichen Stimmungsschwankungen waren das erste Zeichen gewesen, dass er nicht ganz richtig im Kopf sein konnte. Sein Verhalten war völlig unvorhersehbar. Wut, Verwirrung, Erheiterung – jedes Mal reagierte er anders. Jetzt hatte er seine Verletzung bemerkt und wischte sich das Blut mit der Hand ab, die er am Wagenboden säuberte.
»Das hübsche Mädchen sollte sich benehmen«, schimpfte er im Ton eines Lehrers, der einen eigensinnigen Schüler tadelt. »Ich bin derjenige, der sich im Moment um sie kümmert.«
Kelsea rollte sich in der Wagenecke zusammen. Wieder dachte sie wehmütig an ihre Saphire, und plötzlich erkannte sie überrascht, dass sie diese Reise überleben sollte. Der Bewacher war nur eine von vielen Hürden, die es zu überwinden galt. Wenn alles überstanden war, würde sie nach Hause gehen.
Die Rote Königin wird das nie zulassen.
Warum nimmt sie mich dann mit zurück nach Demesne?
Um dich zu töten. Wahrscheinlich will sie deinen Kopf auf dem Ehrenplatz auf der Pike Straße ausstellen.
Doch das erschien Kelsea zu einfach. Die Rote Königin war eine Frau mit klaren Zielen. Wenn sie Kelsea tot sehen wollte, dann würde ihre Leiche bereits am Ufer des Caddell verwesen. Irgendetwas musste die Rote Königin von ihr wollen, und wenn ja, bestand auch immer noch die Chance, dass sie nach Hause zurückkehren würde.
Zuhause. Dieses Mal dachte sie nicht an das Land, sondern an die Menschen. Lazarus. Pen. Der Fetch. Andalie. Arliss. Elston. Kibb. Coryn. Dyer. Galen. Wellmer. Pater Tyler. Einen Moment sah Kelsea alle vor sich, als ob sie sich um sie versammelt hätten. Dann war das Bild verschwunden, verdrängt von der gleißenden Sonne in ihren Augen, die ihr weiter Kopfschmerzen bereitete. Keine Vision, nur ihr Geist, der sich zu befreien versuchte. Die Magie war ihr verwehrt, die Realität ein staubiger Wagen, der unaufhaltsam weiterrollte und sie von ihrer Heimat wegbrachte.
Mace saß nie auf dem Thron.
Manchmal dachte Aisa, dass er es doch tat. Die Wache machte sich bereits darüber lustig: Wie Mace energisch auf das Podest stieg … um sich dann auf die oberste Stufe zu setzen und die beeindruckenden Arme auf den Knien aufzustützen. Nach einem langen Tag geruhte er vielleicht sogar, auf einem angeschlagenen Stuhl daneben Platz zu nehmen, doch der Thron selbst blieb unbenutzt, ein leerer Monolith aus glänzendem Silber am Kopf des Raumes, der alle an die Abwesenheit der Königin erinnerte. Aisa war sich sicher, dass Mace genau das bezweckte.
Heute hatte er das Podest völlig ignoriert und sich stattdessen an den Kopf des königlichen Esstisches gesetzt. Aisa stand hinter seinem Stuhl. Auch einige andere Anwesende standen; selbst der riesige Tisch bot keinen Platz für alle. Aisa erwartete keine Gewalt, ließ ihre Hand jedoch sicherheitshalber auf dem Messer liegen. Selten legte sie es beiseite, selbst wenn sie schlief. In der ersten Nacht nach der Brücke – für Aisa gab es mittlerweile nur noch ein Leben vor und nach der Brücke – hatte Mace ihr ihr eigenes Zimmer zugeteilt, am Rand der Quartiere der Königinnengarde. Auch wenn Aisa ihre Geschwister liebte, war sie froh, ihr eigenes Reich zu haben. Dieser Teil ihres Lebens, ihre Familie, entfernte sich immer mehr von ihr, seit sie bei der Garde arbeitete. Dafür war kein Platz mehr. Aisa fühlte sich in ihrem neuen Zimmer so sicher wie noch nie zuvor, doch manchmal wachte sie morgens immer noch mit dem Messer in der Hand auf.
Arliss saß neben Mace, eine seiner übel riechenden Zigaretten zwischen den Zähnen, und sortierte einen Stapel Papiere vor sich. Arliss dachte in Zahlen und Fakten, doch Aisa wusste nicht, was ihm seine Unterlagen jetzt nützen sollten. Das Problem der Königin konnte nicht auf dem Papier gelöst werden.
Neben Arliss saß General Hall, der von seinem Gehilfen, Colonel Glaser, begleitet wurde. Beide Männer trugen immer noch Rüstung, denn sie waren gerade erst von der Front zurückgekommen. In der letzten Woche hatten die Überreste der Teararmee den breiten Kriegszug der Mort verfolgt, als dieser den Caddell überquerte und langsam, aber stetig über die Almontebene nach Osten zog. So unvorstellbar es auch war, die Mort hatten die Belagerung tatsächlich abgebrochen und waren auf dem Weg nach Hause.
Doch warum?
Das wusste keiner. Die Teararmee war dezimiert, die Verteidigungslinien von Neulondon hauchdünn. Elston sagte, dass die Mort einfach hätten hindurchmarschieren können. Die Armee behielt die Angreifer im Auge, falls der Rückzug eine Falle sein sollte, doch mittlerweile schien sogar Mace von der Wendung der Ereignisse überzeugt zu sein. Die Mort zogen sich zurück. Es ergab keinen Sinn, doch es geschah tatsächlich. General Hall sagte, die Mortsoldaten würden auf dem Heimweg nicht einmal plündern.
Das waren alles gute Neuigkeiten, doch die Stimmung am Tisch war alles andere als überschwänglich. Man hatte immer noch nichts von der Königin gehört. Ihre Leiche war nach dem Abzug der Mort nicht gefunden worden. Maman sagte, sie sei gefangen genommen worden, und die Vorstellung brachte Aisas Blut zum Kochen. Die oberste Pflicht der Königinnengarde war es, die Herrscherin zu beschützen, und wenn die Königin nicht tot war, war sie den Mort auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Selbst Maman konnte nicht sagen, was ihr in dem Mortlager widerfuhr.
Auf Mace’ anderer Seite saß ein bleicher und ausgezehrt wirkender Pen. Aisa und den anderen Wachen machte die Situation schwer zu schaffen, doch keiner litt so wie Pen, der der persönliche Leibwächter der Königin gewesen war … Und mehr, dachte Aisa. Im Moment war er zu wenig zu gebrauchen, er schien nur fähig, Trübsal zu blasen und zu trinken, und wenn ihn jemand ansprach, blickte er nur verwirrt auf. Ein Teil von Pen war an dem Tag verloren gegangen, an dem die Königin die Brücke zerstört hatte, und auch wenn er neben Mace saß, auf dem Platz der persönlichen Leibwache, blickte er starr und in Gedanken versunken auf die Tischplatte. Coryn, der neben ihm saß, war wie immer aufmerksam, doch Aisa fragte sich, wie lange Elston noch nachsichtig mit ihm sein würde. Wann würde jemand die Wahrheit aussprechen? Nämlich, dass Pen seine Arbeit nicht mehr erfüllen konnte.
»Lasst uns anfangen«, verkündete Mace. »Was gibt es Neues?«
General Hall räusperte sich. »Ich sollte anfangen, Sir, aus gutem Grund.«
»Dann los. Wo sind die Mort?«
»Sie befinden sich gerade auf der zentralen Almontebene, Sir, und nähern sich dem Ende des Crithe. Sie kommen mindestens fünf Meilen pro Tag voran, eher zehn, seit der Regen aufgehört hat.«
»Sie haben nichts zurückgelassen?«
Hall schüttelte den Kopf. »Wir haben nach Fallen gesucht. Ich glaube, der Rückzug ist echt.«
»Nun, das ist immerhin etwas.«
»Ja, aber, Sir …«
»Was ist mit den Flüchtlingen?«, wollte Arliss wissen. »Können wir sie bald wieder nach Hause schicken?«
»Ich weiß nicht, ob es schon sicher genug ist, der Kriegszug der Mort ist noch nicht weit genug entfernt.«
»Im nördlichen Reddickwald ist bereits Schnee gefallen, General. Wenn wir die Ernte nicht bald einbringen, wird es nichts mehr zu ernten geben.« Arliss stieß eine Rauchwolke aus. »Wir haben jedes Problem, mit dem sich eine überbevölkerte Stadt je auseinandersetzen musste: eine überforderte Kanalisation, Krankheiten. Je eher wir die Stadt leeren, desto besser. Vielleicht, wenn Ihr …«
»Wir haben die Königin gesehen!«
Der ganze Tisch horchte auf. Selbst Pen schien aufzuwachen.
»Worauf wartet Ihr noch?«, bellte Mace. »Berichtet.«
»Wir haben sie gestern Morgen gesehen, draußen im Crithe-Delta. Sie ist am Leben, aber mit Ketten an einen Wagen gefesselt. Sie kann nicht flüchten.«
»Sie hat die verdammte Brücke von Neulondon zerstört«, meinte Arliss scharf. »Welche Ketten könnten sie dann an einen Wagen fesseln?«
Hall antwortete kühl: »Wir konnten sie nicht klar und deutlich sehen, es war zu viel Mortkavallerie um sie herum. Doch einer meiner Männer, Llew, hat Adleraugen, und er ist sich ziemlich sicher, dass die Königin die Tearsaphire nicht mehr trägt.«
»Wie ist ihr Zustand?«, schaltete Pen sich ein.
Halls Wangen röteten sich, und er wandte sich an Mace. »Vielleicht sollten wir das nicht jetzt besprechen …«
»Ihr besprecht das hier und jetzt.« Pens Stimme war gefährlich leise. »Ist sie verletzt?«
Hall sah hilflos zu Mace, der auffordernd nickte.
»Ja. Ihr Gesicht ist geschwollen und verfärbt, das konnte ich sogar durch das Fernglas sehen. Man hat sie geschlagen.«
Pen ließ sich zurück gegen die Stuhllehne sinken. Aisa konnte sein Gesicht nicht sehen, aber das musste sie auch nicht. Seine eingesunkenen Schultern sagten alles. Der ganze Tisch schwieg einen Moment.
»Immerhin stand sie auf dem Wagen«, versuchte Hall alle aufzumuntern. »Es ging ihr gut genug, um zu stehen. Ich denke, sie hat keine gebrochenen Knochen.«
»Wo befindet sich der Wagen?«, fragte Mace.
»Mitten in der Mortkavallerie.«
»Keine Möglichkeit für einen direkten Angriff?«
»Nein. Selbst wenn meine Armee nicht auf einen Bruchteil ihrer früheren Stärke reduziert wäre, riskieren die Mort nichts. Mindestens hundert Fuß schwer bewaffneter Reiter umgeben sie an allen Seiten. Man zieht sie über die Mortstraße, weit vor der Infanterie. Ich schätze, sie halten direkt auf Demesne zu.«
»Die Kerker des Palasts.« Pen stützte die Stirn in eine Hand. »Wie sollen wir sie da nur rausholen?«
»Die Mortrebellion ist bereit, sich auf Demesne auszubreiten«, erinnerte ihn Mace. »Levieux’ Leute werden uns nützlich sein.«
»Woher wisst Ihr, dass Ihr ihm trauen könnt?«
»Ich weiß es einfach.«
Aisa zog die Augenbrauen hoch. Sie hatte nicht viele Gedanken an Levieux verschwendet, der die Festung vor einer Woche verlassen hatte. Er sah gut aus, aber das war in einem Kampf nichts wert. Sein Mann Alain beherrschte einige gute Kartentricks, doch mit Bradshaw konnte er es nicht aufnehmen. Ein Magier könnte vielleicht in die Kerker des Mortpalasts gelangen, doch Mace traute Magiern nicht.
»Die Rote Königin wird sicher ein Problem an ihrer rechten Flanke haben«, überlegte Arliss. »Es gibt keine Plünderungen … kein Gold, keine Frauen. Ich weiß nicht, wie sie ihre Armee zum Abzug bewegt hat, aber die Männer werden alles andere als glücklich sein.«
»Das vermutet Levieux auch. Unbezahlte Soldaten geben hervorragende Rebellen ab. Er glaubt, viele von ihnen nach ihrer Rückkehr nach Mortmesne rekrutieren zu können.«
»Und was bringt uns das?«, fragte Pen, »wenn wir die Königin nicht zurückholen können?«
»Das besprechen wir später, Pen«, bestimmte Mace. »Sei jetzt ruhig.«
Aisa runzelte die Stirn. Mace ging ihrer Meinung nach viel zu nachsichtig mit Pen um, versuchte, ihn aufzumuntern, und ignorierte, wenn der jüngere Mann sich ungebührlich benahm. Aisa hätte Pen auf unbestimmte Zeit freigestellt und ihm, sollte das keine Wirkung zeigen, eine scharfe Ohrfeige verpasst.
»Schickt mir weiterhin Berichte über den Rückzug«, trug Mace Hall auf, »aber konzentriert Euch auf die Königin. Zwei Eurer besten Männer sollten ihr nach Mortmesne folgen. Sorgt dafür, dass wir sie nicht aus den Augen verlieren. Ihr seid entlassen.«
Hall und Blaser standen auf, verbeugten sich und steuerten auf die Saaltüren zu.
»Wir müssen über den Arvath sprechen«, sagte Arliss.
»Warum?«
Arliss legte seine Unterlagen zur Seite. »Ein Mob hat heute Morgen Schaden in der Stadt angerichtet. Sie scheinen sich auf dem Hauptplatz versammelt zu haben und von dort den ganzen Weg bis zu Bethyn’s Close gegangen zu sein.«
»Mobs gibt es immer.«
»Dieser hier war anders. Ihr Hauptärgernis schien der Mangel an Moral in der Regierung der Königin gewesen zu sein.«
Mace runzelte die Stirn; Aisa tat es ihm nach. Gerade schien mit dem Abzug der Mort ein großes Problem gelöst, da tat sich schon das nächste auf: der Heilige Vater. Am selben Tag, an dem die Königin die Stadt verlassen hatte, hatte der Arvath öffentlich seine Weigerung verkündet, Eigentumssteuern zu zahlen, ebenso wie die Absicht, jedem Bürger die Absolution zu erteilen, der seinem Beispiel folgte.
»Was verbindet diesen Mob mit dem Arvath?«, fragte Coryn.
»Nichts«, erwiderte Arliss. »Der Mob hat sich aufgelöst, lange bevor die Stadtpolizei sich ihm nähern konnte, und es gibt keine Armee mehr, die sich um zivile Unruhen kümmern könnte. Doch sie sind in ein Haus am Rand von Bethyn’s Close eingedrungen und haben zwei Frauen geschändet. Wegen unmoralischen Lebenswandels.«
Ein Muskel zuckte in Mace’ Wange. »Der Heilige Vater glaubt, wenn er mich nur hart genug bedrängt, werde ich die königlichen Steuern nicht eintreiben. Da hat er sich geirrt.«
»Die Adeligen weigern sich immer noch, Steuern zu zahlen, mit Ausnahme von Meadows und Gillon. Die Sache mit der Krippe wird ein großes Loch in die Schatzkammer reißen. Wir haben die Einnahmen aus dem Wegzoll an der Brücke verloren. In einigen Monaten werden wir in ernsthaften Schwierigkeiten sein.«
»Sie werden bezahlen.« Mace grinste so fröhlich und gleichzeitig mörderisch, dass Aisa zurückzuckte, doch einen Moment später wurde er wieder ernst. »Gibt es etwas Neues über die beiden Priester?«
»Nichts. Sie sind wie vom Erdboden verschwunden. Doch der Arvath hat gehört, dass wir mittlerweile dasselbe Kopfgeld wie sie ausgesetzt haben.« Arliss suchte etwas in seinem Papierstapel. »Die gestrige Nachricht vom Heiligen Vater besagte, wir sollten unsere Belohnung für das Auffinden von Pater Tyler zurückziehen, damit wir unsere Hoffnung auf den Himmel nicht verwirken.«
»Die Hoffnung auf den Himmel«, wiederholte Mace. »Eines Tages schicke ich den Kerl persönlich zu einem Treffen mit Jesus.«
»Noch ein besorgniserregender Bericht: Vor zwei Tagen hat einer meiner Kundschafter einige Priester gesehen, die gerade Neulondon über die hintere Straße verließen.«
»Wohin gingen sie?«
»Sehr wahrscheinlich nach Demesne. Mein Mann hat sie ein ganzes Stück die Mortstraße entlang verfolgt.«
Mace’ Gesicht verdunkelte sich.
»Sollen wir dem nachgehen?«, fragte Elston.
»Nein«, erwiderte Mace nach kurzem Nachdenken. »Wenn er mit der Roten Königin Kontakt aufnimmt, wird meine Quelle im Palast uns das mitteilen. Was noch?«
Arliss blickte auf seine Liste. »Wir müssen die Ernte einbringen, bevor es schneit. Das ganze Königreich hungert nach frischem Obst und Gemüse. Ich könnte mir vorstellen, dass die ersten Bauern, die zurückkehren und ihre Ernte einbringen, auch ihre eigenen Preise festsetzen dürfen.«
»Das ist aber kein Anreiz für diejenigen, die das Land von Adeligen bewirtschaften.«
»Ja, aber die Adeligen sind alle noch in Neulondon.« Arliss lächelte so verschlagen, dass er Aisa in diesem Moment zutiefst sympathisch war, trotz seiner widerlichen Zigaretten. »Wenn Lord Soundso es versäumt, sich um sein eigenes Land zu kümmern, während die Mort darübertrampeln, wer weiß dann schon, wohin die Erträge gehen?«
»Und was, wenn die Mort auf dem Weg nach Hause doch noch plündern?«, wollte Elston wissen.
»Das tun sie nicht. Ich habe Halls Stellvertreter gefragt. Sie vergreifen sich nicht an dem Land, warum auch immer.« Arliss zuckte mit den Schultern. »Lassen wir die Bauern gehen und sich die Kirschen herauspicken. Selbst die Ernte von ein paar Tagen wird ihnen über den Winter helfen, wenn sie sie als Erste auf den Markt bringen können. Und ihr Erfolg wird den Rest anlocken.«
Mace nickte langsam. »Ihr kümmert Euch darum.«
»Merritt ist noch draußen, Sir«, rief Elston in Erinnerung.
»Wie viele Caden sind bei ihm?«
»Drei.«
»Nur?«
»Ja, Sir. Doch nicht irgendwelche drei, sondern die Miller-Brüder.«
»Oh.« Mace überdachte diese Information für einen Moment. Aisa wusste nicht, wer die Miller-Brüder waren, doch es hatte erbitterte Diskussionen gegeben, ob man überhaupt einem Caden Zutritt zum Königinnen-Trakt gewähren sollte. Elston war dagegen, ebenso wie die meisten anderen Wachen der Königin, doch Mace bestand auf ihrer Anwesenheit. Aisa hoffte, er könnte sich durchsetzen. Sie wollte unbedingt echte Caden aus der Nähe sehen.
»Nun, bringt sie her.«
Mace stieg auf das Podest, und Aisa hielt den Atem an. Doch wie üblich ignorierte er den Thron und setzte sich auf die oberste Stufe, während Devin die Caden in den Thronsaal rief.
Ihr Anführer, Merritt, war bestimmt über einen Meter neunzig groß, doch er bewegte sich wie Mace mit der Geschmeidigkeit eines großen Mannes, der, wenn nötig, sehr schnell sein konnte. Eine hässliche Narbe verunstaltete seine Stirn. Aisa, die im Lauf ihrer Ausbildung einige Schnittwunden an Händen und Armen davongetragen hatte, fand, dass die Narbe nicht glatt genug aussah, um von einer Klinge verursacht worden zu sein. Ihrer Meinung nach stammte sie eher von menschlichen Fingernägeln. Sie hatte schon von Merritt gehört, das hatte jeder. Denn selbst unter den elitären Caden war er noch etwas Besonderes. Doch die drei Männer hinter ihm waren ihr ein Rätsel.
Sie betraten den Saal als Dreieck, einer an der Spitze, die anderen beiden hinter ihm, eine Verteidigungsformation, die Aisa aus ihrer Ausbildung kannte. Die blutroten Umhänge hoben sich unpassend grell von den grauen Steinwänden der Festung ab. Körperlich unterschieden sich die drei Männer voneinander: Einer war groß, der andere von mittlerer Größe, der dritte klein. Ihre Haarfarben changierten von blond zu dunkel. Und doch ähnelten sie sich auf seltsame Weise, die Aisa nicht in Worte fassen konnte. Wenn einer sich bewegte, taten es ihm die anderen beiden nach. Sie agierten als Dreiergruppe, ohne sich durch Worte oder andere Signale abzustimmen, und Aisa spürte, dass sie schon sehr lange miteinander arbeiteten. Elston hatte in seiner Funktion als provisorischer Captain entschieden, dass kein Caden sich Mace weiter als bis auf drei Meter nähern durfte, und Aisa war froh um diese Vorsichtsmaßnahmen. Diese drei Männer rochen geradezu nach Ärger.
Merritt deutete nacheinander auf seine drei Begleiter. »Die Miller-Brüder. Christopher, Daniel, James.«
Mace musterte sie einen Moment und sagte dann: »Ich habe gehört, man hat Euch drei ausgestoßen.«
»Die Gilde hat es sich anders überlegt«, erwiderte Christopher, der größte, sanft.
»Warum?«
»Wir sind nützlich, Lord Regent.«
»Vor sechs Jahren wart Ihr nützlich. Seither habe ich nichts mehr von Euch gehört.«
»Und doch waren wir nicht untätig«, antwortete James.
»Natürlich nicht.« Mace’ Stimme wurde schärfer. »Ihr habt die Königin gejagt.«
Die drei Männer erwiderten seinen Blick trotzig, bis Mace schließlich nachgab.
»Das liegt in der Vergangenheit. Ich habe einen Auftrag für Euch und für so viele Mitglieder Eurer Gilde, wie Ihr miteinbeziehen wollt.«
»Unsere Gilde ist sehr beschäftigt«, entgegnete James, doch für Aisa klang die Antwort sehr automatisch. Sie fragte sich, ob die Caden bei der ersten Anfrage immer ablehnten.
»Ja, und wie beschäftigt Ihr seid«, antwortete Mace mit einem leicht spöttischen Unterton. »Wir haben von Euren Aufträgen gehört. Die Caden als Wegelagerer, die Caden als Stricher, die Caden als Veranstalter von Hundekämpfen und Schlimmerem.«
»Wir tun, was wir tun müssen. Na und?«
»Diese Tätigkeiten sind weit unter Eurer Würde, nicht das, was Ihr eigentlich tun solltet. Sie schaden dem Ansehen Eurer Gilde. Ich habe einen besseren Auftrag, der allerdings schwierig und gefährlich ist sowie einiges an Gewandtheit erfordert. Selbst wenn ich noch eine intakte Armee hätte, würde ich Soldaten nicht mit dieser Aufgabe betrauen.«
Daniel, der dritte Miller, ergriff zum ersten Mal das Wort. »Um was für einen Auftrag handelt es sich?«
»Die Krippe zu säubern.«
James lachte. »Das ist leicht. Man braucht nur einen Wassertank.«
»Nein, es ist überhaupt nicht leicht«, sagte Mace, ohne das Gesicht zu verziehen. »Es ist eng da unten, Frauen und Kinder sind in beträchtlicher Gefahr. Auch viele Männer, wie die Königin mich bitten würde zu betonen. Ich will, dass die Unschuldigen sicher herausgeschafft, die Zuhälter und Anwerber lebendig festgenommen werden.«
»Was ist unser Lohn dafür?«
»Eine Pauschale von zehntausend Pfund pro Monat für insgesamt drei Monate. Wenn Eure Gilde den Auftrag in diesem Zeitraum nicht erledigen kann, kann er wahrscheinlich überhaupt nicht bewältigt werden.«
»Gibt es einen Bonus für vorzeitige Erledigung?«
Mace sah zu Arliss, der missmutig nickte und sagte: »Erledigt alles – ich betone, alles – innerhalb von zwei Monaten, und wir bezahlen Euch für drei.«
Die Millers berieten sich flüsternd, während die übrigen Anwesenden warteten. Merritt stand unbewegt daneben. Er hatte bereits zugestimmt, ihnen ohne Entlohnung zu helfen; Mace sagte, der Mann schulde der Königin etwas. Doch Aisa hegte Zweifel. Welche Schuld würde einen Caden dazu bewegen, ohne Bezahlung zu arbeiten?
Mace beobachtete die drei Brüder mit unlesbarem Gesichtsausdruck, doch Aisa ließ sich davon nicht mehr täuschen. Irgendetwas arbeitete in ihm. Sie hatte vor der Brückenzerstörung noch nie von dieser Krippe gehört, und niemand wollte ihr genau erklären, um was es sich dabei handelte, doch mittlerweile hatte sie genug erfahren, um sich ein recht deutliches Bild davon machen zu können: ein Tunnellabyrinth unter der Stadt, in dem die schlimmsten Verbrechen geduldet wurden, wo Kinder, die jünger waren als Aisa, verkauft wurden. Aisa wurde übel bei dem Gedanken an diesen Ort. Dad war schlimm gewesen, aber er war nur ein Mann. Die Vorstellung, dass es viele solcher Menschen gab, die alle Unaussprechliches taten, dass es eine ganze Welt im Untergrund gab, in der Kinder denselben Albtraum durchlebten … es raubte Aisa den Schlaf. Auch Mace belastete es offenbar, denn er und Arliss widmeten einen Großteil ihrer Energie der Krippe, auch wenn Arliss wegen der Ausgaben verstimmt war. Doch niemand legte sich in dieser Sache mit Mace an, dem nichts schnell genug gehen konnte. Aisa war beinahe davon überzeugt, den Schatten der Königin über seiner Schulter schweben zu sehen, der ihn antrieb.
Die Caden hatten sich geeinigt und wandten sich wieder an Mace. Christopher teilte ihm ihre Entscheidung mit.
»Wir werden Euer Angebot bei der nächsten Gildenvollversammlung vorlegen. In der Zwischenzeit werden wir drei uns den Auftrag näher anschauen, ohne Lohn, aber auch ohne Verpflichtung.«
»Dagegen ist nichts zu sagen«, erwiderte Mace. »Da Ihr ohne Lohn arbeiten wollt, gebe ich euch keinen Zeitrahmen vor. Doch es ist mir wichtig, diese Sache erledigt zu haben, bevor die Königin zurückkehrt.«
Die drei Caden sahen alarmiert auf.
»Wieso denkt Ihr, sie würde nach Hause kommen?«, fragte James.
»Weil sie das tun wird«, entgegnete Mace in einem Ton, der sich jede weitere Diskussion verbat.
»Wenn Ihr den Auftrag annehmt, besprecht Ihr mit mir die Bezahlung«, fügte Arliss hinzu. »Es wird keinen Vorschuss oder irgendeinen anderen Unsinn geben, also versucht es nicht einmal.«
»Ich werde dennoch um einen kleinen Vorschuss bitten«, antwortete Daniel ungerührt. »Das Mädchen da.«
Er deutete auf Aisa.
»Wir haben von ihr gehört«, fuhr Daniel fort. »Man sagt, sie hätte eine Messerhand, aber so etwas haben wir noch nie gesehen. Bevor wir aufbrechen, möchte ich um eine Vorführung bitten.«
Mace runzelte die Stirn. »Ihr wollt mit einem Kind kämpfen?«
Aisa warf ihm einen bösen Blick zu. Sie hasste es, wenn man sie an ihr Alter erinnerte.
»Kein echter Kampf, Lord Regent«, erwiderte Daniel. »Nur eine Demonstration ihres Könnens.«
Mace sah fragend zu Aisa, die eifrig nickte. Mit einem der Caden einen Übungskampf zu absolvieren! Selbst ein Unentschieden wäre unglaublich.
»Wenn du dir eine Verletzung einfängst, Raubkatze«, knurrte Mace leise, als er sich zu ihr beugte, »wirst du das deiner Mutter erklären.«
Aisa entledigte sich bereits ihres Brustpanzers und zog ihr Messer aus der Scheide. Fell hatte es speziell für Aisa anfertigen lassen. Es hatte dieselbe Form und war aus demselben Material wie die Exemplare der Königinnengarde: im Stil des alten Belland-Modells, mit einer flachen und einer gezackten Klinge. Doch Aisa hatte kleine Hände, und Venner fand, sie bräuchte einen schmaleren Griff und eine dünnere Klinge. Fell hatte seinem bevorzugten Waffenschmied den Auftrag erteilt, und das Ergebnis war ein solides Messer, das wie angegossen in Aisas Hand lag. Venner sagte immer, dass ein guter Messerkämpfer die Waffe zu einem Teil seiner Hand machte, doch Aisa hatte manchmal das Gefühl, dass das Messer sogar Teil ihrer selbst war und ihre Dämonen in Schach hielt. Dad verblasste in der Ferne, wenn sie bewaffnet war.
Daniel hatte inzwischen auch seine Waffen abgelegt, nur das Messer schimmerte halb verborgen in seiner Hand, eine längere Klinge als ihre. Venner hatte es auch gesehen, denn er deutete auf Daniels Waffe und rief: »Das ist kein fairer Kampf!«
»Nachteil ist ein natürlicher Teil des Kampfes«, antwortete Daniel ungerührt an Mace gewandt. »Außerdem bin ich mehr als dreißig Zentimeter größer als sie. Doch da sie noch ein Kind ist, werde ich das Messer höher am Griff halten als sonst. Einverstanden?«
Mace blickte zu Aisa, die zustimmend nickte. Sie hätte sich dem Mann auch bei einer für sie noch ungünstigeren Ausgangssituation entgegengestellt; so gab es mehr Ruhm zu erlangen.
»Pass auf dich auf, Mädchen!«, rief Venner. »Vergiss nicht, was du kannst!«
Aisa schloss die Finger fest um den Messergriff und hielt die Klinge nach unten. Venner hatte ihr schon oft gesagt, dass ihre Größe immer ein Nachteil im Kampf sein würde, doch mit Schnelligkeit und Geschick könnte sie diesen ausgleichen. Die Königinnengarde hatte einen Kreis mit etwa sechs Metern Durchmesser gebildet, um den beiden genug Raum zu geben. Wie aus weiter Ferne hörte Aisa, wie um sie herum Wetten abgeschlossen wurden.
»Ich habe nicht vor, dich zu verletzen«, erklärte Daniel und brachte sich in etwa drei Metern Entfernung in Position. »Ich will nur sehen, was du kannst.«
Diese Aussage war völlig wertlos. Venner und Fell hatten auch nie vor, sie zu verletzen, doch Aisas Hände und Arme wiesen diverse verheilte Messerwunden auf. Ein Kampf war ein Kampf.
»Greif mich an«, befahl Daniel, doch sie gehorchte nicht. Venner hatte sie gelehrt, dass ein früher Ausfall ein Fehler war. Ein Angriff ohne Vorteil verspielte den Schutz ihrer Rippen und ihrer Kehle.
»Vorsichtig, hm?«, fragte Daniel.
Aisa antwortete nicht, sondern musterte ihn eingehend. Er behielt die Arme eng am Oberkörper und sparte so Kraft. Seine Reichweite war größer als ihre. Wenn sie nahe an ihn herankommen wollte, würde sie mindestens einen Schlag gegen ihren Unterarm einstecken müssen. Sie begann mit einer Reihe kontrollierter Ausfälle, alle langsamer, als es ihr möglich wäre, und von geringer Reichweite. Das Blut pulsierte in ihren Adern; Venner würde sagen, das sei das Adrenalin, doch Aisa nannte es das Lied des Kampfes. Allein in eine Ecke gedrängt mit nichts außer sich selbst und ihrer Klinge als Hilfe. Sie schmeckte Metall.
Der Caden machte plötzlich einen Ausfall auf sie zu, schwang einen Arm, um sie abzulenken, während er mit dem anderen zustach. Doch Aisa hatte gelernt, die Messerhand nicht aus den Augen zu lassen, und rollte sich geschmeidig unter dem Stoß hinweg, um wieder auf den Füßen zu landen.
»Schnell«, bemerkte Daniel.
Aisa schwieg weiter beharrlich, denn sie hatte etwas bemerkt, als der Caden sich umdrehte, um ihr zu folgen: Sein linkes Bein war schwach. Entweder humpelte er schon länger, oder es handelte sich um eine frische Verletzung, was ihr wahrscheinlicher vorkam. Er schützte das Bein unauffällig und hielt es aus der Kampfzone. Aisa täuschte einen halbherzigen Angriff auf seine Kehle vor und zischte, als sein Messer ihren Unterarm traf. Gleichzeitig trat sie mit voller Kraft gegen seine linke Kniescheibe, mit gestrecktem Zeh, wie Mace es sie gelehrt hatte. Der Caden stöhnte unterdrückt vor Schmerzen, als er stolpernd zu Boden stürzte.
»Ha! Gut so!«, brüllte Venner. »Du bist nah dran, Mädchen! Ran an ihn, solange er am Boden ist!«
Sie sprang dem Caden auf den Rücken, wollte ihr Messer auf seine Kehle richten, doch er war bereits in Abwehrhaltung und warf sie über die Schulter ab. Diesmal stöhnte Aisa, als sie auf dem Rücken landete und mit dem Kopf auf den Steinboden prallte.
»Alles in Ordnung, Aisa?«, rief Mace.
Sie ignorierte ihn und rappelte sich rasch auf, wobei sie den Caden nicht aus den Augen ließ, der sie langsam umkreiste. Sie hatte ihn mit ihrem Angriff auf sein Knie verletzt, doch sie hatte auch Schaden davongetragen; der Schnitt an ihrem Unterarm war tief, ihre freie Hand glitschig vor Blut. Venner hatte mit ihr ihr Durchhaltevermögen trainiert, doch sie spürte bereits, wie sie müde wurde, ihre Muskeln langsamer. Sie packte das Messer fester, suchte nach einer neuen Lücke in der Deckung. Der Caden würde sie nicht mehr in die Nähe seines verwundeten Beins kommen lassen, ihre früheren ungeschickten Täuschungen könnten aber Wirkung gezeigt haben; er schützte seine Rippen nicht mehr so sorgfältig wie vorher. Mit einem guten Stoß hätte sie eine Chance, doch sie würde nicht ungeschoren davonkommen.
»Pass auf deine Füße auf«, empfahl ihr Daniel. »Da ist Blut auf dem Boden.«
»Ihr wollt, dass ich nach unten schaue, nicht wahr?«
Grinsend wechselte er das Messer in seine rechte Hand. Die Wachen um ihn herum nahmen dies knurrend zur Kenntnis, doch Aisa ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen; Venner kämpfte auch immer mit beiden Händen. Sie achtete darauf, nicht auf die von ihr anvisierte Stelle zu sehen, den Rippenbogen hinter seinem linken Unterarm, wo der Brustpanzer eine Lücke bildete. Sie hatte hier einen überlegenen Gegner vor sich, der größer, schneller und besser ausgebildet war. In einem echten Kampf auf Leben und Tod hätte sie keine Chance. Hier musste sie nur einen Treffer landen.
Sie erkannte den Moment, in dem er sie angreifen würde, denn er holte tief Luft, bevor er sich auf sie stürzte, in einem weiten Bogen mit dem Messer ausholte und auf ihre Schulter zielte. Aisa duckte sich und zog ihre Klinge über seine Rippen. Der Schnitt war nicht sauber, riss ihr beinahe das Messer aus der Hand, und gleichzeitig spürte sie, wie etwas in ihrem Bizeps zerriss. Doch sie hörte auch, wie er vor Schmerz zischend die Luft einsog, bevor er sie packte und herumwirbelte. Aisa verlor das Gleichgewicht und hatte einen Moment später sein Messer an ihrer Kehle. Keuchend zwang sie sich, ruhig zu bleiben. Der Caden atmete nicht einmal schneller.
»Lasst sie gehen«, befahl Mace.
Daniel gab sie frei, und Aisa drehte sich zu ihm um. Einen Moment starrten sie einander an, während die Wachen um sie herum lautstark ihre Wettgewinne einforderten.
»Wie gut kannst du mit einem Schwert umgehen?«, fragte Daniel.
»Nur durchschnittlich«, gab Aisa zu. Ihr langsamer Fortschritt in der Schwertkampfkunst war ein wunder Punkt.
»Ich habe dich geschont, Mädchen, aber auch nicht zu sehr, und ich bin der beste Messerkämpfer der Gilde.« Er betrachtete sie nachdenklich. »Äußerst begabt mit der Klinge, durchschnittlich gut mit dem Schwert … du bist keine Wache der Königin, Mädchen, sondern eine Assassine. Wenn du ausgewachsen bist, solltest du dieses Mausoleum hinter dir lassen und dich bei uns vorstellen.«
Er berührte die Wunde an seinen Rippen und zeigte Mace dann seine blutverschmierten Finger.
»Ich danke Euch, Lord Regent. Das war eine gute Vorführung.«
Aisa nahm ihren Brustpanzer und kehrte an ihren Platz am Fuß des Podestes zurück. Kibb zwinkerte ihr zu. Beim Anlegen des Brustpanzers verschmierte sie Blut darauf. Nach der Besprechung würde Mace ihr sicher erlauben, ihren Arm von Coryn verarzten zu lassen, doch nicht jetzt schon, denn sie hatte um den Kampf gebeten. Das war nur gerecht, aber sie verlor viel Blut. Nach kurzer Überlegung wickelte sie die zerrissene untere Hälfte ihres Ärmels um die Wunde und zog sie fest.
»Wir sind hier fertig«, erklärte Christopher Mace. »Wir kehren zurück, wenn die Gilde sich entschieden hat.«
»Wenn die Gilde zustimmt, kann ich euch mindestens zwanzig Wachen der Königin als Unterstützung anbieten.«
»Abgelehnt. Wir arbeiten nicht mit Amateuren.«
Ein unwilliges Murmeln erhob sich unter der Königinnengarde, doch die Millers hatten sich bereits abgewandt und waren auf dem Weg aus dem Saal.
Merritt lachte. »Ich bringe den dreien nicht besonders viel Sympathie entgegen, Lord Regent, aber für Eure Zwecke sind sie sehr gut geeignet. Ich dagegen stehe der Königin zur Verfügung.«
Er folgte den anderen Caden Richtung Saaltüren, und Aisa entspannte sich. Auch wenn sie es niemandem gegenüber zugegeben hätte, dachte sie über Daniels Worte nach.
»Jetzt müssen wir nur noch über die Kleine Königin reden, nicht wahr?«, fragte Arliss. Während des Kampfes war er zu Aisas Verwunderung sitzen geblieben; sie hätte gedacht, dass er als Erstes Wetteinsätze annehmen würde. »Was sollen wir tun?«
»Wir werden sie holen«, erwiderte Mace. »Doch sie würde mich umbringen, wenn ich das Königreich im Stich lasse. Wir müssen uns also etwas einfallen lassen.«
Jemand berührte Aisa leicht am Arm. Als sie den Kopf wandte, sah sie Coryn, der ihre Wunden untersuchte.
»Sieht hässlich aus, Mädchen, aber die Schnitte sind nicht allzu tief. Mach mal den Ärmel ab, dann nähe ich alles.«
Aisa gehorchte und riss den unteren Teil ihres Ärmels ab.
»Du hast einen guten Kampf abgeliefert, Raubkatze«, bemerkte Mace. »Aber du hast ihm erlaubt, dich aus dem Gleichgewicht zu bringen.«
»Das weiß ich«, erwiderte Aisa mit zusammengebissenen Zähnen, als Coryn begann, die Wunden zu desinfizieren. »Er war schneller als ich.«
»Die Unbeholfenheit der Jugend. Das geht vorbei.«
Selbst auch nur ein weiterer Tag war zu viel für Aisa. Sie hatte das Gefühl festzustecken: zu alt für ein Kind, zu jung für eine Erwachsene. Sie sehnte sich danach, wie eine Erwachsene zu arbeiten und Geld dafür zu bekommen, für sich selbst verantwortlich zu sein. Sie lernte zu kämpfen, doch viele der Lektionen der Königinnengarde wurden nicht gelehrt, sondern bestimmten das ganze Leben: Wie sie sich in der Öffentlichkeit zu geben habe, wie die Garde immer an erster Stelle kam und die Königin über allem stand. Das waren Lektionen in Reife, und Aisa verstand sie auch so. Dennoch gab es Momente, wo sie zu ihrer Mutter rennen und den Kopf auf ihre Schulter legen wollte, um sich von Maman trösten zu lassen, wie früher, als Aisa ein gequältes Kind war.
Beides geht aber nicht.
Als Coryns Nadel das Fleisch an ihrem Unterarm durchstach, atmete Aisa tief durch. Niemand in der Garde sprach darüber, doch irgendwie wusste sie, dass es mindestens so wichtig war, wie jemand mit einer Verletzung umging, wie die Kampfleistung selbst. Um sich abzulenken, fragte sie: »Was heißt Ausgestoßene?«
»Was?«
»Diese Caden. Ihr habt gesagt, die drei Brüder wurden ausgestoßen.«
»Das wurden sie auch, vor sechs Jahren hat man sie der Gilde verwiesen, nachdem sie für den Verlust eines hohen Profits verantwortlich gewesen waren.«
»Autsch!«, quietschte Aisa. Coryns Nadel hatte einen Nerv oder so etwas getroffen. »Was haben sie denn getan?«
»Es ging um eine junge Adelige, Lady Cross. Lord Tare hatte ein Auge auf sie geworfen – und auf den Landbesitz ihrer Familie –, doch Lady Cross pflegte eine geheime Beziehung zu einem jungen Mann auf der Almontebene, einem armen Pachtbauern, und sie lehnte Lord Tares Avancen ab. Dieser entführte sie, brachte sie in seine Burg am südlichen Ende des Reddickwaldes und sperrte sie dort in den Turm. Er schwor, sie erst wieder herauszulassen, wenn sie einer Heirat mit ihm zustimmte.«
»Heirat ist dämlich«, erwiderte Aisa scharf und biss die Zähne zusammen, als Coryn den Faden festzog. »Ich werde bestimmt nie heiraten.«
»Natürlich nicht«, sagte Mace mit einem leisen Lachen. »Aber Lady Cross, die schließlich keine Kriegerin war, wollte gern heiraten, und zwar ihren jungen Mann. Zwei Monate saß sie in Lord Tares Burg und gab nicht klein bei. Dann hatte Lord Tare die hervorragende Idee, ihr das Essen zu entziehen.«
»Er hat sie hungern lassen, damit sie ihn heiratet?« Aisa verzog angewidert das Gesicht. »Warum hat sie ihn nicht einfach geheiratet und wäre dann abgehauen?«
»In Gottes Kirche gibt es keine Scheidung, Mädchen. Ein Ehemann hat immer das Recht, seine Frau wieder nach Hause zu holen.«
Aisa erinnerte sich, dass Dad genau das getan hatte. Mehrere Male während ihrer Kindheit hatte Maman ihre wenigen Sachen gepackt und sich davongestohlen, doch die Reise hatte immer wieder daheim bei Dad geendet.
»Und wie ging es weiter?«
»Nun, Lady Cross wurde immer schwächer, blieb aber weiterhin standhaft. Die Angelegenheit wurde zum Streitpunkt im Königreich.«
»Hat ihr Verlobter nichts unternommen?«
»Er konnte nicht viel tun. Er hatte Tare das bisschen Geld angeboten, das er hatte. Lady Cross’ Familie versuchte ebenfalls, sie freizukaufen, jedoch vergeblich. Lord Tare war wie besessen, verstehst du; sein Stolz hing davon ab, dass die Frau sich ihm ergab. Viele Adelige wandten sich ihretwegen an den Regenten, doch dieser weigerte sich, wegen einer seiner Ansicht nach häuslichen Angelegenheit die Teararmee auszuschicken. Als schließlich klar war, dass Lady Cross in diesem Turm sterben würde, wenn sich nichts änderte, legte die Familie Cross ihr Geld zusammen und heuerte die Caden an, um die junge Frau zu befreien.«
»Und haben sie das auch?«, fragte Aisa gebannt. Es war, als hörte sie Maman bei einem ihrer Märchen zu.
»Ja, und zwar sehr raffiniert«, schaltete Elston sich ein. »James hat sich als Cousin der Lady ausgegeben, der seine Verwandte zum Nachgeben bewegen wollte, Christopher und Daniel spielten seine Bediensteten. Sie trafen sich eine Stunde mit der Lady, und danach stimmte sie zu, Lord Tare zu heiraten. Er war überglücklich und legte den Hochzeitstermin auf die Woche danach.«
Eine Täuschung, dachte Aisa. Manchmal glaubte sie, dass das ganze Leben auf einen Kampf reduzierbar war.
»In der Woche vor der Hochzeit bewachte Lord Tare Lady Cross rund um die Uhr, doch das ganze Königreich dachte, sie hätte tatsächlich nachgegeben. Der Captain hier beharrte darauf, dass sie das nicht hatte«, Elston salutierte mit zwei Fingern in Mace’ Richtung, »doch wir anderen ließen uns täuschen. Lady Cross machten wir keinen Vorwurf; zu verhungern ist ein schrecklicher Tod.«
»Was passierte dann?«, fragte Aisa. Coryn nähte gerade ihren Bizeps, doch sie achtete kaum darauf.
»Am Tag der Hochzeit war Lady Cross bereit. Der Arvath hatte den örtlichen Bischof für die Zeremonie entsendet. Lord Tare hatte das halbe Königreich eingeladen, um seinem Triumph beizuwohnen, weshalb die Kirche bis zum letzten Platz mit Gästen und Wachen besetzt war. Die Familie Cross nahm nicht daran teil, doch der Rest des Adels war anwesend, selbst der Regent. Lady Cross ging zum Altar und folgte dem Bischof durch die Zeremonie, jedes Wort, zwei Stunden lang, bis sie verheiratet waren.«
»Was?«
»Die Hochzeit verlief friedlich, und sobald alles besiegelt war, ließ Lord Tare alle Achtung fahren. Er hatte ihre Ländereien und den Titel, und nur darauf hatte er es abgesehen. Er blieb unten, um sich mit seiner Hauswache zu betrinken, während Lady Cross ins Obergeschoss ging, um ihr Brautkleid abzulegen. Eine Stunde später suchte Tare nach seiner Frau, doch sie war verschwunden, entführt. Als er eine Mannschaft zusammengestellt hatte, um sie zurückzuholen, war sie bereits auf halbem Weg durch den Reddickwald.«
»Aber sie war doch verheiratet.«
»So scheint es, nicht wahr? Lord Tare bekam einen Wutanfall, schickte den Caden seine Krieger und die Bluthunde hinterher, und als er sie nicht finden konnte, wandte er sich an den Regenten. Erst nach zwei Tagen kam jemand auf die Idee, den Bischof zu befragen, den man allerdings gefesselt in seinem Palast fand, zusammen mit seinen Wachen. Der Mann war ausgehungert und fuchsteufelswild und ganz bestimmt nicht der Geistliche, der die Hochzeit durchgeführt hatte.«
»Das ist der schlaue Teil, Raubkatze«, schaltete sich Mace wieder ein. »Ich spreche kein Latein, aber ich kenne einige Leute, die es können. Diese sagten mir, dass die Hochzeitszeremonie blanker Unsinn war. Der falsche Bischof hatte eine lange Rede auf die Tugenden von Knoblauch gehalten, Kochrezepte und Gott weiß was alles. Lady Cross hat gelobt, ihr Leben lang das Bier zu lieben und ihm zu dienen. Sie sprach Latein, ganz im Gegensatz zu Lord Tare.«
Aisa dachte einen Moment nach. »Was ist mit den Gästen?«
»Viele der Anwesenden beherrschten Latein, und einige von ihnen waren sogar Freunde von Lord Tare. Doch keiner sagte ein Wort, erst als sie später bezeugten, dass die Eheschließung nur vorgetäuscht gewesen war. Die drei Caden haben riskant gespielt, aber gewonnen. Schließlich war das ganze Königreich auf der Seite von Lady Cross. Nur die Sadisten und Frauenhasser wollten sie in Lord Tares Arme treiben, und die Caden sind ein großes Risiko eingegangen, dass keiner von ihnen Latein sprechen würde.«
»Ein gewagtes Spiel«, knurrte Arliss. »Ich habe ein Vermögen bei dieser Hochzeit verloren.«
»Was hat Lord Tare getan, als er es herausfand?«
»Oh, er hat Stein und Bein geschworen, dass er sich an allen rächen würde: Lady Cross, den Caden, dem falschen Bischof – der allerdings nie gefunden wurde. Doch er hatte keinen Rechtsanspruch auf die Lady, und als alles geklärt war, war sie schon längst bei ihrem Bauern.«
»Hat sie ihn geheiratet?«
»Ja, und ihre Familie hat sie deswegen enterbt. An diesem Punkt gerieten die Millers in Schwierigkeiten. Sie hätten die Lady zurück zu ihrer Familie bringen sollen, doch stattdessen brachten sie sie zu ihrem Verlobten. Die Cross bezahlten nur die Hälfte des vereinbarten Preises. Die Caden waren außer sich und stießen die Brüder aus der Gilde aus. Außerdem wurden sie von Gottes Kirche exkommuniziert, auch wenn ihnen das sicher nichts ausgemacht hat.«
»Aber sie haben es geschafft«, bemerkte Aisa. »Sie haben sie gerettet.«
»Ja, das haben sie.«
»Was ist mit Lord Tare? Wie ging es mit ihm weiter?«
»Oh, er sitzt immer noch oben in seiner Burg, so bitter wie Winterbier«, antwortete Mace. »Er plant den Sturz der Königin, und wenn ich beweisen könnte, dass er im Frühling am Argivepass war, dann wäre er schon längst einen Kopf kürzer. Doch im Moment lasse ich ihn in Ruhe.«
Das war eine Enttäuschung. In einem echten Märchen würde der Bösewicht bestraft werden.
»Arbeiten die drei Brüder immer zusammen?«, fragte Aisa.
»Ja. Viele Caden agieren in so kleinen Gruppen, vor allem, wenn sich ihre Fähigkeiten ergänzen. Wenn alle Caden gemeinsam auf ein spezielles Ziel hinarbeiten würden, wäre das ein beeindruckender Anblick.«
»Aber warum die Krippe, Sir?«, wollte Coryn wissen. »Ich dachte, die Königin wäre unsere oberste Priorität.«
»Das ist sie auch, aber sie würde es mir nie verzeihen, wenn sie unsere einzige Priorität wäre. Sie hat es in meine Hände gelegt, versteht ihr.« Mace blinzelte, und einen Moment lang glaubte Aisa, Tränen in seinen Augen glitzern zu sehen. »Ich wusste nicht, was sie mir damit sagen wollte, doch sie hat mir aufgetragen, diesen Ort in Ordnung zu bringen. Sie hat mir aufgetragen, mich um die Wehrlosen zu kümmern, ebenso wie um die Wehrhaften, und diese Aufgabe kann nicht ruhen, bis sie wieder zurück ist.«
Faustschläge gegen die große Doppeltür donnerten durch den Saal und ließen Aisa zusammenzucken. Die Wache scharte sich eilig um Mace. Devin und Cae öffneten die Türen einen Spalt, aber davor stand nur eine weiß gekleidete Bedienstete. Aisa verstand ihre Worte nicht, doch ihr hysterischer Tonfall war deutlich zu hören.
»Was ist los, Cae?«, rief Mace.
»Es gibt unten ein Problem, Sir. Mit Thornes Hexe.«
»Was für ein Problem?«
Die Bedienstete starrte Mace mit weit aufgerissenen Augen an. Sie war nicht mehr jung, ihr Gesicht kreidebleich.
»Sprecht!«
»Sie ist weg«, krächzte die Frau.
»Was ist mit Will, der Wache?«
Die Frau brachte jedoch keinen Ton mehr heraus. Fluchend sprang Mace die Stufen hinunter und stürmte in den Königinnen-Trakt hinaus. Aisa folgte ihm durch den Korridor und die drei Stockwerke hinunter bis zu Brennas provisorischem Gefängnis. Sie fürchtete sich vor Brenna; alle fürchteten die Frau, selbst die unerschrockensten Mitglieder der Königinnengarde. Brenna in ihren Räumlichkeiten zu besuchen war gefährlich, doch Aisa musste unaufhörlich an die Worte des Caden denken.
Wenn du ausgewachsen bist, stell dich bei uns vor.
Sie eilten um die letzte Ecke, und ein paar Meter von Brennas Räumen entfernt blieb Mace plötzlich stehen. Die Tür stand weit offen, doch anstatt einer Wache war nur eine Blutlache zu sehen. Der Geruch traf Aisa wie ein Schlag. Fliegen schwirrten bereits über das Blut, und eine flog surrend um Aisas Kopf, bis sie diese wegschlug.
Mace wollte weitergehen, doch Elston legte ihm eine Hand auf die Brust. »Sir. Wir gehen zuerst.«
Mace nickte, auch wenn Aisa merkte, dass er sich nur schwer zurückhalten konnte. Elston und Kibb betraten den Raum, Aisa folgte ihnen in kurzer Entfernung. Sie wollte sehen, was passiert war, und gleichzeitig auch nicht. Sie spähte an Elston vorbei und zuckte zurück, als sie eine hellrote Masse in der Ecke erblickte.
»Ist die Lage sicher?«
»Ja, Sir«, antwortete Elston mit seltsam klingender Stimme. Er wich zurück, als Mace sich der Türöffnung näherte, sodass Aisa ungehindert den Raum überblicken konnte. Will lag auf dem Boden, seine Kehle so zerfetzt, als hätte sich ein Tier darin verbissen. Aisa hatte noch nie zuvor eine Leiche gesehen; sie erwartete, dass ihr übel werden würde, doch ihr Magen ertrug den furchtbaren Anblick ungerührt. Mace hatte Aisa nie erlaubt, sich allein bei Brenna aufzuhalten; bei ihren zwei turnusmäßigen Wachdiensten hatten Coryn oder Kibb ihr Gesellschaft geleistet. Will war ein guter Gardist gewesen, doch die Hexe war ihm offensichtlich überlegen gewesen. Vielleicht hätte man immer zwei Männer zur Wache abstellen sollen.
Kibb kauerte neben Will und hob einen Arm des Toten hoch, untersuchte erst die eine, dann die andere Hand.
»Unter seinen Fingernägeln klebt Haut, Sir.« Kibb sah auf. »Ich glaube, er hat sich das selbst angetan.«
Aisa ließ ihren Blick wieder zu Wills Kehle wandern, nicht ohne eine gewisse morbide Faszination. Warum sollte sich ein Mann die eigene Kehle herausreißen?
Ich bin stärker als früher, erkannte sie, während sie die Leiche betrachtete. Ich kann es ertragen. Eines Tages kann ich vielleicht alles ertragen.
»Holt ein paar Bedienstete mit starken Mägen, um hier sauberzumachen«, befahl Mace. »Und sorgt dafür, dass Ewen nicht hierherkommt.«
»Sollen wir der Hexe einen Trupp hinterherschicken?«
»Nein. Gebt eine Suchmeldung nach draußen, das ja. Sie sieht schließlich auffällig aus. Doch ich glaube nicht, dass wir damit etwas erreichen. Coryn hat sie letztes Mal nur durch pures Glück erwischt.«
»Aber ich verwette mein Schwert, dass ich weiß, wohin sie geht«, murmelte Coryn. »Himmel, schaut euch das an.«
Aisa riss sich von der blutigen Leiche auf dem Boden los. Brennas Zimmer war sauber und bequem, nicht luxuriös, doch mit viel Platz und einigen anständigen Möbeln. Die Überreste einer Mahlzeit standen auf dem Tisch, ebenfalls von Fliegen umschwärmt. Doch Coryn hatte die Wand an der anderen Zimmerseite gemeint. Bei ihrem Anblick sog Aisa scharf die Luft ein. Die Wand war mit seltsamen Symbolen bedeckt, die über die Steine zu tanzen schienen, um ein einzelnes Wort herum. Alles war in Blut geschrieben.
GLYNN