s war Mace’ Idee«, sagte die Frau, als ob das alles erklärte.

Sie saßen auf zwei Stühlen mit hohen Rückenlehnen und blickten auf den leeren Kamin des Zimmers. Es war kalt, doch Kelsea hatte sich die Vorsicht der Roten Königin zu Herzen genommen und weigerte sich, ein Feuer zu entzünden. Sie verstand nicht, auf was Row Finn es letztendlich abgesehen hatte – noch nicht –, aber wenn er wirklich frei war, stellte Kelsea jetzt eine Bedrohung für ihn dar.

Obwohl das Fackellicht nicht besonders hell war, konnte Kelsea den Blick nicht von ihrer Mutter abwenden, in der Hoffnung, einen Makel an ihrer Erscheinung zu finden, et­­was, das darauf hindeutete, dass es sich um eine Täuschung handelte. Doch sie fand nichts. Die Frau vor ihr war älter als auf dem Gemälde, das Kelsea in der Festung gesehen hatte; feine Linien zeichneten sich in Augen- und Mundwinkeln ab. Das schwarze Kleid und der Schleier – Trauerkleidung – ließen sie noch älter aussehen. Aber sie war unzweifelhaft Elyssa Raleigh.

»Was wollte Mace damit erreichen?«

»Nun, mich aus der Festung zu schaffen.« Elyssa lachte glockenhell. »So viele Menschen haben versucht, mich zu töten. Es war fast schon aufregend.«

Leicht verzweifelt, blickte Kelsea zur Tür. Sie hatte Elston befohlen, Mace so schnell wie möglich zu holen, doch sie hatte durch die geschlossene Tür gesprochen und fürchtete, dass er sie missverstanden haben könnte. Wenn Mace hier war, würde sie ihn erwürgen. All die Schuldgefühle, die er in ihr geweckt hatte, weil Kelsea Sachen für sich behalten hatte, und er hatte das größte Geheimnis von allen vor ihr verborgen.

»Carroll und Mace waren die besten meiner Wachen, die klügsten, weißt du …« Elyssa unterbrach sich und zog die Winkel ihres Puppenmundes nach unten. »Mace hat mir gesagt, dass Carroll tot ist.«

»Ja«, erwiderte Kelsea automatisch, dann fiel ihr ein, dass sie auch seine Leiche nie gesehen hatte. War auch er noch irgendwo da draußen? Barty und Carlin ebenso? Wie konnte sie Mace überhaupt noch etwas glauben? Jahrelang hatte Kelsea so viel von der Frau vor ihr gewollt, Liebe, Bestätigung, Rechtfertigung; später eine Chance, sie anzuschreien. Doch jetzt, da dieser Moment gekommen war, wusste Kelsea nicht, was sie wollte, außer nicht in diesem Zimmer zu sein. Sie war so an den Hass auf ihre Mutter gewöhnt, hatte sich damit eingerichtet. Sie wollte nicht alles noch einmal neu durchdenken müssen.

»Die Idee stammte von beiden, aber es war Mace, der mich aus der Festung geschmuggelt hat. Du weißt ja, seine ganzen Geheimgänge und Verstecke. Er hat mich hierhergebracht.« Wieder runzelte Elyssa die Stirn. »Es ist langweilig, so weit von der Hauptstadt entfernt. Mace besucht mich, so oft er kann, und ich habe mein Geschäft …«

»Was für ein Geschäft?«, fragte Kelsea scharf.

»Kleider«, erwiderte Elyssa stolz. »Ich bin eine der begehrtesten Schneiderinnen in Tearling. Doch ich muss von hier aus arbeiten und jemanden schicken, der Maße und Aufträge einholt.« Ihre Mundwinkel hingen wieder herab. »Ich kann nirgendwo hin.«

Kelsea verzog das Gesicht. Viele harte Entgegnungen lagen ihr auf der Zunge, doch sie schwieg. Sie würde dieser Frau die Meinung sagen, allerdings erst, wenn sie die ganze Geschichte gehört hatte.

»Aber ich freue mich so, dich zu sehen!«, rief Elyssa und legte ihr eine Hand auf den Arm. Kelsea versteifte sich, was Elyssa nicht zu bemerken schien. Sie war viel zu beschäftigt, ihre Tochter zu mustern.

»Und wie hübsch du bist!«

Kelsea zuckte zurück, als hätte man sie geschlagen. All die Tage, die sie im Cottage am Fenster gestanden und auf ihre Mutter gewartet hatte … sie war sich so sicher gewesen, dass ihre Mutter weise, freundlich und gut wäre, dass sie Kelsea im Gegensatz zu Carlin loben würde für alles, was sie gelernt, alles, was sie getan hatte. Auch wenn Kelsea tatsächlich hübsch war, war das nicht das Lob, auf das sie gewartet hatte, denn selbst als Kind hatte sie bereits ge­­wusst, wie wenig das Aussehen bedeutete. Kurz erwog sie, Elyssa zu erzählen, dass diese Schönheit nicht ihre eigene war; stattdessen brachte sie nach einer Weile mühsam hervor: »Ich dachte, es hätte eine Leiche gegeben … als du ge­­storben bist.«

»Das stimmt«, erwiderte Mace plötzlich hinter ihr, so­­dass Kelsea zusammenzuckte. Er hatte sich ins Zimmer ge­­sch­lichen, während die Frauen sich unterhielten, und jetzt löste sich seine große Gestalt aus den Schatten. Er legte Elyssa eine Hand auf die Schulter.

»Wie seid Ihr hier hereingekommen?«, fragte er.

»Dieses Haus ist voller Geheimgänge. Das habe ich von Euch gelernt.«

»Die Leiche«, beharrte Kelsea. »Die gab es doch, nicht wahr?«

»Der tote Körper der Königin«, bestätigte Mace. »Er lag mit durchgeschnittener Kehle im Bett.«

»Wie?«, bohrte Kelsea weiter nach.

Mace warf ihr einen raschen Blick zu.

»Ach, Lazarus, nicht doch. Eine Doppelgängerin?«

»Eine perfekte Doppelgängerin. Wir konnten selbst den Rest der Garde täuschen.«

»Wo habt Ihr sie gefunden?«

»Carroll hat sie gefunden. Im Gut, wo sie ihrem Geschäft nachging.«

Kelsea starrte ihn an wie einen Fremden.

»Es war wirklich sehr schlau von ihnen«, schaltete Elyssa sich ein. »Auf die Idee zu kommen und dann auch noch je­­manden zu finden, der mir so ähnlich sah. Schade, dass sie sterben musste, auch wenn sie nur eine Hure war.«

Kelsea ballte die Hand zur Faust, beherrschte sich jedoch. Die Frau auf dem anderen Stuhl war es nicht wert. Mace jedoch …

»Ihr habt das eingefädelt, Mace?«

»Ich bin eine Wache der Königin, Lady. Meine oberste Priorität ist der Schutz der Königin.«

Sie starrte ihn wütend an, seine Worte hatten eine weite Kluft in ihr aufgerissen. Zum ersten Mal verstand sie, dass diese Aussage zwei Seiten hatte, eine gute und eine schreck­liche. Auch Mace musste seine Arbeit machen, genau wie Kelsea. Manchmal glaubte sie, sie würde alles tun, um ihr zerbrechendes Land wieder zu vereinen, doch unter eine be­­stimmte Grenze würde sie nie sinken. Oder?

»Jeden Tag ereignete sich ein neuer Mordversuch, Lady. Manche waren zudem überraschend durchdacht, wahrscheinlich war Demesne dafür verantwortlich. Carroll und ich wussten, dass früher oder später jemand an uns vorbeikommen würde. Wir konnten nicht einfach herumsitzen und abwarten, bis es so weit war.«

»Und das war Eure Lösung?«

»Ja, das oder die Königin sterben zu lassen.«

»Was ist mit dem Königreich, das Ihr zurückgelassen habt? Das Ihr meinem Onkel – ausgerechnet! – übergeben habt? Was ist damit?«

»Die Sicherheit der Königin, Lady«, wiederholte Mace unerbittlich.

»Habt Ihr auch für mich eine Doppelgängerin gefunden?«

»Nein, Lady. Ich wusste, dass Ihr das niemals erlauben würdet.«

»Und wie ich das nicht erlauben würde, verdammt noch mal!«, erwiderte sie scharf. »Ich weiß nicht, nach was für einem Moralkodex Ihr arbeitet, aber …«

»Ihr kennt mich jetzt, Lady, aber nicht vor zwanzig Jahren. Damals war ich ein anderer Mann, die Krippe lag noch nicht lange hinter mir.«

»Und ob!«, schaltete sich Elyssa ein und tätschelte Kelseas Hand, bevor diese sie zurückziehen konnte. »Herumgebrüllt hat er, sich mit allen angelegt und dann geschmollt, wenn er seinen Willen nicht bekam. Carroll hat ihn immer als halbwild bezeichnet, und da lag er gar nicht falsch.«

Kelsea nahm die Hand von der Armlehne, als Übelkeit in ihr aufstieg. Trotz des Altersunterschiedes kam ihr ihre Mutter jünger als sie selbst vor, fast wie ein Kind … Kelsea würde sie damit aber nicht durchkommen lassen. Elyssa schuldete ihr Antworten.

»Warum hast du mich weggegeben?«

»Ich hatte keine Wahl.« Elyssas Blick zuckte verstohlen zu Mace. »Du warst in Gefahr.«

»Du lügst.«

»Warum willst du unbedingt über die Vergangenheit sprechen?«, flehte ihre Mutter. »Die Vergangenheit ist so hässlich.«

»Hässlich«, murmelte Kelsea. Mace warf ihr einen bittenden Blick zu, den sie bewusst ignorierte. Würde er diese Frau selbst jetzt noch verteidigen?

»Lazarus, lasst uns bitte allein.«

»Lady …«

»Schließt die Tür hinter Euch, und wartet draußen.«

Er sah sie einen qualvollen Moment lang an, dann ge­­horchte er.

Kelsea wandte sich wieder ihrer Mutter zu. Etwas von ihrem Ärger schien endlich zu Elyssa durchgedrungen zu sein, die unruhig auf ihrem Stuhl hin und her rutschte und Kelsea nicht in die Augen sehen konnte.

»Du hast alle versprechen lassen, die Lieferung vor mir geheim zu halten.«

»Ja.«

»Warum?« Kelseas Stimme wurde lauter vor Wut. »Was für einen Sinn sollte das gehabt haben?«

»Ich dachte, ich könnte es wieder in Ordnung bringen«, erwiderte ihre Mutter leise. »Ich dachte, es wäre nur eine vorübergehende Lösung, und bald schon wäre uns etwas an­­deres eingefallen, lange vor deiner Rückkehr. Mace ist so klug, ich dachte wirklich, er und Thorne …«

»Thorne sollte sich eine Lösung für die Abschaffung der Lieferung ausdenken? Wovon zur Hölle redest du überhaupt?«

»Ich wünschte, du würdest nicht fluchen. Das ist so hässlich.«

Wieder dieses Wort. Wenn ihre Mutter es darauf angelegt hätte, Kelsea zu verärgern, hätte sie es nicht besser machen können. Waren nur schöne Dinge wichtig? Der Geist ihrer Mutter erschien ihr wie ein stiller, gefrorener Teich; manchmal kratzte etwas an der Oberfläche, durchbrach diese aber nie. Kelsea wollte Verantwortung, wollte, dass ihre Mutter für ihre Selbstsucht geradestand, ihre schlechten Entscheidungen, ihre Verbrechen. Doch wie verlangte man Verantwortungsbewusstsein von einer gefrorenen Leere?

»Ich hoffte, du würdest es nie erfahren müssen«, fuhr ihre Mutter fort. »Und so schlecht war es doch auch gar nicht! Immerhin herrschte durch mich siebzehn Jahre Frieden!«

»Du hast nicht für den Frieden gesorgt.« Kelsea spürte, wie sich ihre Wut nur allzu bald Bahn brechen würde. »Du hast den Frieden erkauft, mit den Menschen, die du beschützen solltest.«

»Sie waren arm!«, wehrte sich Elyssa empört. »Das Reich konnte sie sowieso nicht ernähren. In Mortmesne würde man sich wenigstens um sie kümmern und ihnen zu essen ge­­ben, zumindest hat Thorne das gesagt …«

»Und warum sollte man je das Wort von Arlen Thorne in­­frage stellen?« Der Drang, Elyssa zu schlagen, war so stark, dass Kelsea die Hände unter ihre Oberschenkel schieben musste.

Das ist meine Mutter, dachte sie. Eine unerträg­liche Vorstellung. Wie sehr wünschte sie sich, Carlins Tochter zu sein oder wessen auch immer. Diese Frau machte die Hälfte ihrer selbst aus … doch nur die Hälfte. Kelsea klammerte sich plötzlich wie an eine Rettungsleine an diesen Gedanken. Sie beugte sich vor, ihre Wut vergessen.

»Wer ist mein Vater?«

Elyssa senkte ängstlich den Blick. »Das ist doch nicht mehr wichtig.«

»Ich weiß, dass du dich durch deine ganze Garde gearbeitet hast. Das ist mir völlig egal. Aber ich will einen Namen.«

»Vielleicht weiß ich es gar nicht.«

»Du weißt es, genauso wie Lazarus.«

»Er hat es dir nicht erzählt?« Elyssa lächelte. »Meine treue Wache.«

Kelsea verzog das Gesicht. »Lazarus gehört niemandem.«

»Früher gehörte er mir.« Elyssa blickte in die Ferne. »Ich habe ihn weggeworfen.«

»Davon will ich nichts hören.«

»Warum müssen wir über die Vergangenheit sprechen?«, fragte Elyssa wieder. »Das ist so lange her. Ich habe gehört, dass die Rote Königin endlich tot ist. Ist das wahr?«

Kelsea schloss die Augen und öffnete sie wieder. »Du wirst mich nicht ablenken. Mein Vater. Ich will einen Namen.«

»Das spielt keine Rolle. Er ist tot!«

»Dann kannst du es mir doch erst recht sagen.«

Elyssa wandte wieder den Blick ab, und ein schreck­licher Verdacht keimte in Kelsea auf. Bei all ihren Überlegungen, wer ihr Vater sein könnte, hatte sie eine Möglichkeit immer außer Acht gelassen, denn sie konnte einfach nicht darüber nachdenken. Mace hätte es ihr gesagt.

Nein, das hätte er nicht, rief ihr ihr Geist ein wenig selbstzufrieden in Erinnerung. Er ist mit Leib und Seele eine Wache der Königin.

»Ein Mitglied der Garde«, antwortete Elyssa schließlich. »Ich habe mich nur ein paar Wochen mit ihm vergnügt. Er war nicht wichtig

»Sein Name?«

»Er war so traurig, als er zu uns kam!« Elyssa redete immer schneller. »Er war ein guter Schwertkämpfer, trotz seiner bäuer­lichen Herkunft. Carroll wollte ihn für die Wache, und ich wollte ihn nur ein wenig trösten, ich wollte nicht …«

»Wer?«

»Mhurn. Ich weiß nicht, ob du ihn je kennengelernt hast …«

»Das habe ich.« Kelsea hörte ihre ausdruckslose, beinahe schon verdächtig ruhige Stimme. »Wusste er es?«, wollte sie wissen. »Wusste er, dass er mein Vater war?«

»Ich glaube nicht. Er hat zumindest nie gefragt.«

Eine kleine Welle der Erleichterung stieg in Kelsea auf. Ein Teil ihres Gehirns konnte den Ereignissen folgen, der andere verharrte in Erinnerungen: das Blut auf ihrer Hand und Mhurns lächelndes Gesicht, die Augen vom Morphium verhangen.

Ich habe meinen Vater getötet.

»Carroll hat Mhurn in die Garde gebracht. Er hatte seine Frau und seine Tochter an die Mort verloren, und er war völlig am Boden zerstört.« Elyssa hob den Blick, in dem ein seltener Hauch von reuevoller Ehrlichkeit stand. »So je­­man­dem habe ich noch nie widerstehen können.«

Kelsea nickte und behielt mühsam ein freund­liches Lächeln bei. »Ich selbst kenne diese Schwäche nicht, …«

Ich habe meinen Vater getötet.

»… aber ich habe davon gelesen. Bitte erzähl weiter.«

»Als Mace es herausfand, war er schrecklich wütend, aber er hatte überhaupt kein Recht dazu, denn wir waren da schon lange getrennt. Manchmal frage ich mich allerdings, ob er dich weggebracht hat, um mich zu bestrafen …«

»Lazarus hat mich weggebracht?«

»Er und Carroll. Hinter meinem Rücken!« Elyssa verzog die Lippen zu einem leichten Schmollen. »Ich hätte dich niemals weggegeben.«

Kelsea lehnte sich zurück. Mhurn war fürs Erste vergessen. Endlich hatte sie eine Antwort auf die Frage bekommen, die sie seit dem Tag auf dem Festungsrasen gequält hatte: Warum sollte eine Frau, die so selbstsüchtig war wie diese hier, ihr Kind aus Sicherheitsgründen weggeben? Kelsea hatte alle mög­lichen Gründe durchdacht und doch den naheliegendsten übersehen: Ihre Mutter hatte sie überhaupt nicht weggegeben. Andere hatten diese Entscheidung für sie getroffen.

Warum nur?

»Zuerst habe ich dich sehr vermisst«, sagte Elyssa nachdenklich, als ob sie die Erfahrungen eines anderen Menschen beschrieb. »Du warst so ein süßes Baby, und wie du mich immer angelächelt hast! Aber letztendlich war es eine gute Entscheidung. Ansonsten hätten wir für dich auch noch eine Doppelgängerin finden müssen!«

Sie kicherte, und bei diesem Geräusch explodierte etwas in Kelsea. Sie sprang so abrupt auf, dass ihr Stuhl umkippte, packte die lächelnde Frau und schüttelte sie. Doch auch das war nicht genug. Sie wollte ihre Mutter schlagen, fordern, dass sie Verantwortung für ihre Fehler übernahm, dass sie diese irgendwie wiedergutmachen solle.

»Lady«, ertönte Mace’ leise Stimme, und Kelsea hielt inne. Er hatte sich wieder in den Raum gesch­lichen und stand ein paar Meter entfernt vor ihr, die Hände hoch erhoben.

»Was ist, Lazarus?« Ihre Finger befanden sich nur Zentimeter von der Kehle ihrer Mutter, und sie würde so gern … Elyssa war sicher nicht grundlegend böse, nicht mehr als Thorne oder der Gefängniswärter oder sogar der junge Row Finn. Dennoch würde sie so unheimlich gern …

»Tut es nicht, Lady.«

»Ihr könntet mich nicht aufhalten.«

»Vielleicht nicht, aber ich würde es versuchen müssen. Und sie ist …« Mace holte tief Luft. »Sie ist es nicht wert.«

Kelsea sah auf ihre Mutter herab, die mit weit aufgerissenen Augen überrascht zu ihr aufblickte. Nein, nicht überrascht, sondern schlimmer – vollkommen erstaunt, als wüsste sie nicht, was sie falsch gemacht haben könnte. Kelsea fragte sich, ob eine sehr viel jüngere Elyssa den Mordversuchen ebenso begegnet war, den Lieferungen, die jeden Monat unter ihrem Fenster davonrollten. Eine Frau, die nicht verstehen konnte, warum sie nicht von der ganzen Welt geliebt wurde …

»Tut es nicht, Lady«, wiederholte Mace bittend, und Kelsea erkannte, dass er recht hatte, wenn auch nicht aus den Gründen, an die er dachte. Egal, was Kelsea tat, sie würde nicht das bekommen, was sie wollte. Sie sehnte sich nach Rache, doch das hier war nicht die Frau, an der sie ihre Wut auslassen wollte. Diese kind­liche Frau würde niemals die Tragweite ihrer Fehler verstehen können. Es gäbe keine Er­­klärung, keine Verantwortung. Keine Katharsis.

Ich kann sie nicht hassen.

In einem Buch wäre der Gedanke vielleicht befreiend gewesen, hätte vielleicht einige von Kelseas Wunden ge­­heilt. In der Realität fühlte sie sich unvorstellbar einsam. Alle Kraft wich aus ihren Armen, und sie ließ von ihrer Mutter ab.

»Nun, das hätten wir ja geklärt«, sagte Elyssa, während sich ihr Gesicht aufhellte. »Können wir die Vergangenheit jetzt hinter uns lassen?«

»Ja, das können wir«, erwiderte Kelsea, auch wenn ihre Stimme in ihren Ohren entsetzlich klang. Sie konnten die Vergangenheit jetzt hinter sich lassen, wenn ihre Mutter den Grund dafür auch nicht verstehen würde. Elyssa stand mit ausgestreckten Armen auf, und Kelsea erkannte panisch, dass sie sie umarmen wollte. Sie wich stolpernd auf dem unebenen Steinboden zurück.

»Was ist los?«, fragte ihre Mutter erstaunt und, was noch schlimmer war, ein wenig verletzt. »Es gibt keine Geheimnisse mehr. Wir können einander endlich kennenlernen.«

»Nein.«

»Wie bitte? Warum nicht?« Elyssa sah Kelsea mit einem leichten Schmollen an. »Du bist meine Tochter. Ich war ganz sicher keine perfekte Mutter, aber du bist jetzt erwachsen. Lassen wir die Vergangenheit ruhen.«

»Nein.« Kelsea wählte ihre Worte mit Bedacht, denn sie wollte danach nie wieder mit dieser Frau sprechen. »Du bist ein selbstsüchtiger Mensch, rücksichtslos und dumm. Du hättest niemals die Verantwortung für andere tragen dürfen. Ich glaube, dass ich ein besserer Mensch bin, weil Barty und Carlin mich aufgezogen haben und weil ich dich nie kennengelernt habe. Ich will nichts mit dir zu tun haben.«

Ihre Mutter riss überrascht die Augen auf. Sie wollte etwas sagen, doch Kelsea hatte sich schon abgewandt. Als Elyssa ihr folgen wollte, stellte Mace sich ihr in den Weg.

»Wo ist Eure Tür?«, verlangte er zu wissen.

»Welche Tür?«

»Die Geheimtür«, erklärte Mace geduldig. »Wie seid Ihr hereingekommen?«

»Hier.« Elyssa klopfte gegen die Wand, und eine Tür öffnete sich in der Steinmauer. Ein weiterer Geheimgang; war denn kein Gebäude in diesem Königreich das, wonach es aussah?

»Geht.«

»Aber sie versteht nicht! Sie …«

»Die Königin hat gesprochen.«

Elyssa verzog wütend den Mund. »Aber ich bin die Kö­­nigin!«

»Nein. Ihr habt die Krone vor langer Zeit gegen Eure Sicherheit eingetauscht.«

»Aber …«

»Wollt Ihr endlich gehen? Oder muss ich Euch hinausbegleiten?«

»Ihr wart mein bester Gardist, Mace!« Ihr Mutter schien den Tränen nahe zu sein. »Was hat sich geändert?«

Mace spannte die Kiefermuskeln an. Ohne ein weiteres Wort führte er sie durch die Geheimtür und schloss sie. Elyssa hämmerte von der anderen Seite dagegen, dann kehrte Stille ein.

»Weiß es die Wache?«, fragte Kelsea Mace. »Die anderen?«

»Nur Carroll. Ich musste immer die Aufträge für ihn er­­ledigen, die sonst niemand übernehmen wollte. Wahrscheinlich hat er mich deshalb rekrutiert.«

»Sie könnte jederzeit zurückkommen und sich der gesamten Garde zeigen«, sagte Kelsea.

»Das wird sie nicht.«

»Warum?«

»Weil ich ihr gesagt habe, dass ich sie töten werde, wenn sie es tut.«

»War das Euer Ernst?«

»Ich weiß es nicht.«

Kelsea setzte sich auf das Bett. Am liebsten hätte sie sich hingelegt, weitergeschlafen und alles vergessen. Doch sie spürte, dass, wenn sie und Mace nicht jetzt darüber sprachen, es nie geschehen würde. Sie würden wieder zurück in ihre leichte, manchmal bissige Freundschaft verfallen, ein stilles Gewässer, an dem beide nicht rühren wollten.

»Ich habe meinen Vater getötet«, sagte Kelsea. »Ich wusste es nicht, aber ich habe es trotzdem getan.«

»Ja, Lady.«

»Warum habt Ihr es mir nicht erzählt?«

»Wenn Ihr Mhurn nicht erlöst hättet, Lady, hätten wir es getan. Es war das Richtige. Er war gebrochen, und zu diesem Zeitpunkt war es unwahrscheinlich, dass Ihr je herausfinden würdet, wer er war. Von uns hätte es Euch jedenfalls danach keiner gesagt.«

»Ihr hättet es mir erzählen sollen.«

»Und was hätte es genützt?«

Darauf wusste Kelsea keine Antwort. Sie hatte so viele Menschen getötet; was war hier der Unterschied? Und was war überhaupt so wichtig an Blutsverwandtschaft? Sie hatte gerade sämt­liche Verbindungen zu der Frau abgebrochen, die sie auf die Welt gebracht hatte, und es war die richtige Entscheidung gewesen. Sie war sich ihrer Gefühle noch nicht ganz sicher, ein wenig Bedauern schwang auch mit, doch nicht so viel, wie wenn sie eine andere Entscheidung getroffen hätte. Das Blut machte weder Elyssa zu einer besseren Mutter, noch hatte es Mhurn zu einem besseren Vater gemacht; er hatte ihr schließlich ein Messer in den Rücken gestoßen. Kelsea fühlte sich Barty und Carlin viel enger verbunden, selbst Mace, als ihren eigenen Eltern.

»Nur so stark, wie ich es zulasse«, flüsterte sie. Wer hatte das gesagt? Mace? Die Rote Königin? Sie wusste es nicht mehr. Tiere kümmerten sich um Abstammung, doch Menschen sollten darüber hinausgewachsen sein.

Die Umstände der Geburt spielen keine Rolle. Güte und Menschlichkeit bedeuten alles.

Diese Stimme erkannte sie. William Tear, als er in einer der schlimmsten Nächte ihres Lebens mit Lily sprach. Wenn es stimmte, wenn das der Tear-Test war, dann hatten Kelseas Eltern beide versagt.

»Wie geht es jetzt weiter, Lazarus?«, fragte sie. »Bleibe ich wie sie im Exil, verstecke mich hier im Nirgendwo, während sich die Situation immer mehr verschlimmert?«

»Ich weiß es nicht, Lady. Lange können wir hier nicht bleiben, aber ich weiß auch nicht, wohin wir gehen könnten. Neulondon ist vom Heiligen Vater und den Mort besetzt, Ihr jedoch verfügt nur über fünfundsiebzig Soldaten, die sich im Erdgeschoss aufhalten. Eine Rückkehr wäre reiner Selbstmord.«

Kelsea nickte. Es war ihr nicht fremd, in die Höhle des Löwen zu gehen; leichtsinniges Handeln hatte einen Großteil ihrer Regentschaft bestimmt, selbst wenn es sie in Le­­bens­gefahr brachte. Es war jedoch ebenso leichtsinnig und rücksichtslos, einfach hier herumzusitzen und für ihre eigene Sicherheit zu sorgen, während ihr Königreich brannte. So würde ihre Mutter handeln.

»Wir sind so weit gekommen, Lazarus. Und jetzt sollen wir scheitern?«

»Manchmal kommt es leider so, Lady.«

Kelsea wollte das nicht glauben. Vielleicht lag es an den vielen Büchern, die sie in ihrem Leben gelesen hatte, in denen die Handlung sorgfältig ausgearbeitet war und alles etwas bedeutete. Sie hatten zu viel gemeinsam bekämpft, um jetzt zu scheitern. Es musste einen Ausweg geben, auch wenn sie ihn noch nicht erkennen konnte. Ihr rastloser Geist durchforstete die Vergangenheit, die vielschichtige Ge­­schichte Tearlings, die sie durchlitten hatte. Jonathan Tears Tod näherte sich rasch, eine fürchter­liche Tragödie … doch hätte sie verhindert werden können? Und hätte das Tearling gerettet? Katie hätte vielleicht Row Finn töten können, die Probleme der Stadt waren aber größer als ein ein­zelner Mann. Die Beseitigung eines Möchtegerndiktators hinterließ nur ein Vakuum. Kelsea spürte, dass die Lösung irgendwo in der Vergangenheit lag.

Wie starb Jonathan Tear?

Katie hatte sich ihr noch nicht gezeigt, doch darauf konnte Kelsea auch nicht mehr warten. Sie sah zu Mace, der sie immer noch be­­sorgt beobachtete.

»Wo ist der Fetch?«

Sie fanden ihn auf dem Balkon im zweiten Stock, zusammen mit Hall und einigen Soldaten. Die Sonne war gerade im Begriff, im Osten aufzugehen, die Morgenluft war frisch und kalt; der Winter war da. Lady Chiltons Haus – das Haus meiner Mutter – war von struppigem Gras umgeben, das weiß überfroren war.

Als Kelsea und ihre Wachen auf den Balkon traten, verbeugten sich Hall und Blaser. Sie war froh, beide zu sehen, auch wenn sie Hall bei etwas unterbrechen musste, das verdächtig nach einer Entschuldigung klang. Auf dem Weg durch das Haus waren sie durch eine Galerie gegangen, von der aus man in die Eingangshalle blickte, auf deren Steinboden Kelseas Soldaten schliefen. Weniger als hundert Männer waren noch von Halls Armee übrig. Die Vorstellung, dass er sich bei ihr entschuldigen könnte, war nicht auszuhalten.

Der Fetch und seine vier Männer sahen alle durch Ferngläser Richtung Osten. Einen Moment war Kelsea von dem Anblick wie gelähmt: Howell, Morgan, Alain, Lear und Ga­­vin – fünf Jungen aus der Stadt, jetzt erwachsen und offensichtlich verdammt.

Kelsea wandte sich an ihre Garde. »Lasst uns einen Mo­­ment allein.«

»Auf gar keinen Fall!«, erwiderte Elston scharf.

»Guter Gott, El, ich möchte das jetzt nicht bei jeder einzelnen Wache durchexerzieren müssen.«

»Elston«, sagte Mace rasch. »Komm mit.«

Elston warf dem Fetch einen mörderischen Blick zu, folgte Mace jedoch durch die gläsernen Balkontüren. Pen und Dyer zogen sich ebenfalls zurück, Pen ohne das geringste Zögern, was Kelsea einen kurzen Stich versetzte. Sie würde lernen müssen, mit Pens Gleichgültigkeit umzugehen. Außerdem hatte sie Wichtigeres zu tun. Auf ein Signal ihres Anführers hin folgten die Männer des Fetch den Wachen. Morgan tippte an einen imaginären Hut, als er an Kelsea vorbeiging.

Nachdem sich die Türen hinter den Männern geschlossen hatten, drehte Kelsea sich wieder zum Fetch. Sie hatte das Gefühl, ihn schon lange nicht mehr gesehen zu haben, und er sah so gut aus wie eh und je. Nun stellte sie überrascht fest, dass er nicht mehr dieselbe Wirkung auf sie hatte. Der Mann stand zwar vor ihr, doch sie sah den Jungen Gavin: arrogant und rücksichtslos, ein leichtes Ziel für Row Finn. Der Anblick des dummen Jungen nahm dem Mann seine Ausstrahlung, worüber Kelsea nach kurzer Enttäuschung sehr erleichtert war.

»Ihr seht gut aus, Tearkönigin«, bemerkte er. »Sehr gut für eine Frau, die im Gefängnis war.«

»Es geht mir auch gut.«

»Und was wurde aus der Mortkönigin?«

»Ich habe sie getötet.«

Der Fetch gab einen amüsierten Laut von sich.

»Ihr glaubt mir nicht.«

»O nein, ich glaube Euch. Ich lache über mich selbst.«

»Warum?«

»Früher dachte ich einmal, dass das Eure Aufgabe wäre: uns ein für alle Mal von der Mortkönigin zu erlösen. Doch jetzt geht es uns auch nicht besser als vorher. Tearling bricht immer noch zusammen.«

»Woran du nicht ganz unschuldig bist, Gavin.«

Nach einem kurzen Moment des Schreckens sagte er: »Ich wusste, dass du es irgendwann herausfinden würdest. Row wusste es ebenfalls.«

»Was will er?«

»Was er schon immer wollte. Eine Krone.«

»Welche Krone?«

»Die Tearkrone. Row hat sie aus Silber und Saphiren ge­­schmiedet, doch sie war kein gewöhn­liches Schmuckstück. Er hat gesagt, mit ihr könnte er die Vergangenheit in Ordnung bringen.«

»Die Vergangenheit in Ordnung bringen«, wiederholte Kelsea, auf einmal hellwach. So lange hatte sie überlegt, wie sie die Vergangenheit ändern könnte. »Wie?«

»Ich weiß es nicht. Er hatte immer das Gefühl, beraubt worden zu sein, dass das Schicksal ihn betrogen hat. Er war zu klug, um einfach nur Sarah Finns Sohn zu sein.«

»Wo ist die Krone?«

»Irgendwo in Neulondon. Seit Wochen schon suche ich vergeblich nach ihr. Der Priester hat sie aus dem Arvath ge­­stohlen und ist dann geflohen …«

»Pater Tyler?«

»Ja, aber wir können ihn nicht finden. Ich habe seine Spur bis in die Krippe verfolgt und sie dort verloren.«

Kelsea nickte; der Gedanke, der alte Priester könnte sich da unten aufhalten, schmerzte. Mace könnte ihn vielleicht finden, doch sie konnte von ihm nicht verlangen, in dieses Höllenloch zurückzukehren. Er hatte ihr am Abend zuvor von seiner Säuberung der Krippe erzählt, und auch wenn sie sich freute, dass er sich ihre Worte zu Herzen genommen hatte, fragte sie sich, warum er die Caden mit so etwas be­­trauen würde. Jetzt wusste sie es. Wie schlimm musste ein Ort sein, der Mace Angst einjagte? Er würde all das verächtlich abtun, Kronen und Magie; Kelsea hörte beinahe die trockene Skepsis in seiner Stimme. Doch der Sirenengesang dieser Worte – die Vergangenheit in Ordnung bringen – hallte durch ihren Kopf. Sie wandte sich wieder an den Fetch.

»Hast du Jonathan Tear getötet?«

»Nein.«

»Du und Row wart Freunde.«

Er blinzelte, offensichtlich von der Frage überrumpelt, und antwortete dann: »Ja, das waren wir. Zumindest dachte ich das.«

»Warum hat er die Tears so gehasst?«

»Row hat immer gesagt, seine Geburt sei ein großer Irrtum gewesen.«

»Was hat er damit gemeint?«

»Ich weiß es nicht. Aber er hat gesagt, die Krone würde den Irrtum korrigieren.« Der Fetch wandte sich ab; seine Stimme brach. »Wir wollten nur eine anständige Gemeinschaft aufbauen, wie sie vor der Überfahrt existierte …«

»Wovon redest du?«, zischte Kelsea. »Die Welt vor der Überfahrt war noch schlimmer als unsere!«

»Aber das wussten wir nicht!« Der Fetch sah sie fast schon flehend an. »Sie haben es uns nie erzählt. Wir wussten nur, was Row gesagt hat. Laut ihm war es eine bessere Welt, in der kluge Menschen, die hart arbeiteten, mit einem besseren Leben belohnt wurden. Schönere Häuser, mehr Essen, eine strahlendere Zukunft … das bot er uns auch.«

Kelsea ballte die Fäuste. Früher einmal hatte sie geglaubt, sich in diesen Mann verliebt zu haben – jetzt erschien ihr das wie eine Episode aus dem Leben eines anderen Menschen. Gavin, der Junge, überschattete alles. Wenn ihr der Fetch in diesem Moment seine unsterb­liche Liebe erklärt hätte, hätte sie ihm ins Gesicht gespuckt.

»Warum in Gottes Namen hast du mir das nicht alles früher erzählt?«, verlangte sie von ihm zu wissen. »Was wolltest du erreichen, indem du mir so viel vorenthalten hast?«

»Du gestehst mir ein größeres Ziel zu, als ich es hatte, Tearkönigin. Die Antwort ist viel einfacher: Ich habe mich geschämt. Würde es dir so leichtfallen, deine schlechtesten Entscheidungen einem Fremden einfach so zu offenbaren?«

»Nein«, erwiderte sie nach kurzer Überlegung. »Aber ich würde meinen Stolz auch nicht über das Wohl meines Königreiches stellen.«

»Welches Wohl? Das alles liegt dreihundert Jahre zurück. Was für eine Rolle spielt das heute noch?«

»Die Vergangenheit spielt immer eine Rolle, du Narr«, knurrte Kelsea. »Zum letzten Mal, wer hat Jonathan Tear getötet?«

»Oh, Row hat ihn umgebracht«, antwortete der Fetch müde. »Er hat sie alle getötet, Dorian und Virginia und Evan Alcott, jeden, der ein Problem für ihn hätte werden können. Sogar Ms. Ziv, die Bibliothekarin, doch da kam er zu spät; sie hatte bereits die meisten Bücher der Bibliothek in Sicherheit gebracht.«

»Er hat diese ganzen Menschen doch nicht allein ermordet.«

Der Fetch sah sie mit eisigem Blick an. »Willst du mich noch mehr beschämen, Tearkönigin? Ich war ein Narr, doch getan ist getan. Ich habe meine Tränen wegen der Vergangenheit vergossen.«

»Was ist nach Jonathans Tod passiert?«

»Ich habe Katie bei der Flucht geholfen. Es war das einzig Gute, was ich je getan habe, denn Row wollte sie auch umbringen. Sie war schwanger, das hatte sie mir erzählt, und ich brachte es nicht übers Herz, die Sünde wäre zu groß ge­­wesen …«

»Hör auf!«, befahl Kelsea scharf; das Wort »Sünde« brachte sie immer auf, und die Vorstellung, dass er Katie nur wegen des ungeborenen Kindes für lebenswert befunden hatte, be­­reitete ihr Übelkeit. »Wer war der Vater? Jonathan?«

»Sie wollte es mir nicht sagen.« Der Fetch wandte den Blick ab, zuvor sah Kelsea einen Hauch des alten Schmerzes in seinen Augen, und plötzlich erinnerte sie sich, dass er Katie einmal zu einem Fest eingeladen hatte. Er hatte sie be­­wundert, vielleicht sogar tiefere Gefühle für sie gehegt, genug jedenfalls, um ihr zur Flucht zu verhelfen … doch nicht genug, um Jonathan beizustehen. »Sie ist verschwunden und hat Rows Krone mitgenommen. Als Row das herausfand, war er so außer sich vor Wut, dass ich schon dachte, er würde uns alle umbringen, aber zu diesem Zeitpunkt begann er bereits zu verblassen. Katie hatte uns alle verflucht, wir merkten allerdings erst Monate später, dass etwas mit uns geschah.«

»Sie hat euch nicht genug gestraft.«

Das Gesicht des Fetch rötete sich vor Wut, und einen Moment dachte Kelsea, er würde versuchen, sie zu schlagen. Dann ließ er die Faust sinken und stützte sich schwer auf die Balkonbrüstung. »Du kannst sagen, was du willst, Tearkönigin. Aber erst wenn du Jahrhunderte gelebt hast, wenn alle, die du geliebt hast, gestorben sind und die Welt voll Fremder ist, dann weißt du es vielleicht besser.«

Kelsea war jedoch nicht in der Stimmung für Mitgefühl. Sie blickte über das Land jenseits des Balkons und blinzelte Richtung Norden in der vergeb­lichen Hoffnung, Neulondon zu sehen. Doch welches Neulondon? Katies oder ihr eigenes? Beide wurden belagert, und Kelsea trauerte plötzlich um William Tears gescheiterte Träume. Er hatte so hart für seine bessere Welt gearbeitet … wie sie alle. Lily, Dorian und Jonathan, all die Menschen auf den Schiffen. Sie hatten gekämpft und gehungert und waren sogar bei der Verfolgung des ältesten Traums der Menschheit gestorben, doch sie hatten nicht gewusst, dass Tears Vision fehlerhaft war. Zu einfach. Die Utopie war nicht der klare Neuanfang, den Tear sich vorgestellt hatte, sondern eine Entwicklung. Die Menschheit musste alles für diese Gemeinschaft geben, hart arbeiten und stets wachsam gegenüber den Fehlern der Vergangenheit sein. Es würde vielleicht zahllose Generationen dauern, aber …

»Wir könnten es schaffen«, sagte Kelsea leise. »Und selbst wenn nicht, kämen wir dem Ideal zumindest näher.«

»Was hast du gesagt, Tearkönigin?«

Plötzlich war sich Kelsea sicher, was sie zu tun hatte. Sie blickte auf, nahm den Fetch jedoch gar nicht wahr. Sie wusste nicht, ob man die Vergangenheit ändern konnte, ob William Tears Fehler wiedergutzumachen waren. Aber es nicht einmal zu versuchen wäre der größte Fehler von allen. Kelsea erkannte, dass William Tear sie mit seiner Vision mitgerissen hatte, so wie Lily, wie alle anderen. Der älteste Traum der Menschheit … selbst für die Möglichkeit war es wert zu sterben. Sie legte die Hand auf den Tear­saphir, spürte durch den Stoff ihres Kleides die bessere Welt in Hunderten von Jahren Entfernung und doch so nahe, dass sie sie beinahe berühren konnte. Und wer konnte schon sagen, was realer war – die Gegenwart oder die Vergangenheit? In dem Moment, bevor sie sich umdrehte und nach Mace rief, erkannte Kelsea, dass es keine Rolle spielte.

Sie lebte sowohl hier als auch dort.

Zwei Stunden später saß Kelsea auf einem Pferd, umgeben von ihrer Garde sowie Hall und seinen Soldaten. Ihre Arme waren mit dicken Stricken an Mace gefesselt, der vor ihr saß. Es war seine Idee gewesen und wirklich sinnvoll, da Kelsea sich jederzeit auf eine ihrer geistigen Wanderungen begeben konnte. Falls den Wachen die Fesseln seltsam vorkamen, sagten sie jedenfalls nichts dazu; Coryn hatte die Stricke um sie geschlungen und Kibb seine kunstvollen Knoten geknüpft. Jetzt war es zu spät, um sich noch anders zu entscheiden. Kelsea war keine perfekte Atheistin; der Gedanke des Un­­aus­weich­lichen war zu tröstlich für sie.

»Wie schnell können wir reiten?«, fragte sie Mace.

»Schneller, da Ihr uns jetzt nicht mehr ausbremst, Lady«, erwiderte Mace und brachte Kelsea damit wie beabsichtigt zum Schweigen.

In der Nähe ritt General Hall auf seinem grauen Hengst, sein Bruder Simon neben ihm; die traurigen Überreste der Teararmee ritten hinter ihnen. Der Fetch und seine Männer begleiteten sie. Er und Hall schienen sich gut zu verstehen, denn Kelsea hatte gesehen, wie sie bei den Vorbereitungen zum Aufbruch miteinander gesprochen hatten. Kelsea fühlte sich wie die größte Betrügerin; ihr war klar, dass Hall und ein Großteil der Garde sich nur zu diesem Schritt bereit erklärt hatte, weil sie glaubten, dass Kelsea sich irgendwie um alles kümmern würde.

Kann ich das?, fragte Kelsea. Und wenn ja, wie?

Sie wusste es nicht. Tears Saphir hing um ihren Hals, Rows Exemplar war tief in ihrer Satteltasche verstaut, neben dem Stein, den sie aus der Vergangenheit mitgebracht hatte. Doch was hatten diese Gegenstände je Gutes bewirkt? Mace hatte ihr einmal gesagt, dass sie ohne die Saphire besser dran wäre, und Kelsea fragte sich, ob er nicht recht gehabt hatte. Irgendwo in Neulondon befand sich eine Krone, die ihr vielleicht helfen würde, was sich aber auch als närrische Hoffnung herausstellen könnte. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass sie alle in den Tod führte.

Aber ich kann nicht hierbleiben, dachte sie und spürte, wie die Entschlossenheit in ihr wuchs. Sie sah zu den Fenstern des Hauses ihrer Mutter hinauf, glänzende Scheiben, die die helle Wüste reflektierten und nichts enthüllten. Beim Gedanken, die schwarzgekleidete Frau zurückzulassen, verspürte Kelsea ausschließlich Erleichterung. Sie würde nicht hierbleiben, während Neulondon brannte. Lieber starb sie bei dem Versuch, es zu retten.

»Dann los«, sagte Mace plötzlich und wendete sein Pferd. Kelsea wurde herumgeschleudert, und ihr Magen verkrampfte sich. Ohne Kontrolle über das Pferd oder ihre Hände würde die Reise äußerst unangenehm werden. Doch dagegen konnte sie jetzt nichts tun. Katie war wieder da und übernahm ihren Geist. Kelsea erinnerte sich an die letzte Nacht in der Festung, als Lily sie ständig in die Vergangenheit zurückgezerrt hatte. Sie und Katie umkreisten einander, wie zwei Planeten im Weltraum, doch jetzt schien die Verdunkelung nahe zu sein.

»Wir reiten nach Neulondon!«, verkündete Mace vor den Soldaten. »Wir werden nicht anhalten außer auf den Befehl der Königin oder meinen! Wenn alles gut geht, sollten wir morgen Abend dort sein.«

Wenn alles gut geht, dachte Kelsea besorgt. Sie ritten Richtung Nordwesten, und sie bildete sich ein, selbst aus dieser Entfernung Schreie zu hören.

Bitte, Tear, hilf uns, flehte sie im Stillen. Sie hielt sogar den Atem an, wartete vergeblich auf eine Antwort. William Tear konnte ihnen nicht helfen. Sie waren auf sich gestellt.