Stahl mochte die Gerichtsmedizin nicht. Dort unten herrschte ein Geruch, der ihm Übelkeit verursachte. Heute aber war ein Tag, an dem er bei der Obduktion des Mannes aus dem Park dabei sein wollte. Es war noch unklar, woran er gestorben war und die Obduktion lieferte meist wertvolle Hinweise.
Er zog einen Mundschutz über und betrat den kleinen Raum. Auf der Bahre in der Mitte des Raumes lag der Tote. Der Mann im mittleren Alter war jetzt entkleidet. Stahl blieb mitten in der Bewegung stehen. Er hatte in seinem Beruf schon viel gesehen, aber das hier verschlug ihm den Atem. Entsetzt starrte er auf die Kniegelenke der Leiche, die grotesk geschwollen waren. Die Rundungen der Hüften waren deformiert und riesige Blutergüsse hatten die Region großflächig schwarz gefärbt. Sein Blick wanderte weiter hoch. Die Arme! Was hatte man mit den Armen angestellt? Sie waren eine aufgedunsene dunkle Masse bis hin zu den Fingern. Diese Entstellungen waren in bekleidetem Zustand nicht zu sehen gewesen. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf: Folter!
„Nicht schön, oder?“, hörte er eine weibliche Stimme sagen. Er zuckte zusammen. Er hatte gedacht, allein in dem Raum zu sein und fuhr herum. Normalerweise war er nicht auf den Mund gefallen, doch die Frau war ein so krasser Gegensatz zu der geschändeten Leiche auf dem Tisch, dass er sie wortlos anglotzte. Sie war groß und wirkte trotz des Kittels drahtig. Die hellbraunen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Er tippte sofort auf Karate oder Judo. Viel war unter dem Mundschutz nicht von ihrem Gesicht zu erkennen, doch ihre Augen sagten ihm alles.
Verblüfft erkannte er, dass sie ihn ebenfalls musterte und es schien ihr zu gefallen, was sie sah.
‚Reiß dich zusammen, Wolfgang. Sie will dich nicht und du willst sie auch nicht. Klar?‘, dachte er. Entschlossen schüttelte er kaum merklich den Kopf und trat auf sie zu.
„Wolfgang Stahl − und wer sind Sie? Wo ist Professor Hirzinger?“, fragte er barsch.
Ihr Mundschutz bewegte sich durch ein breites Grinsen, das ihre Augen erreichte und sie erklärte mit weicher Stimme:
„Mein Kollege ist derzeit bei der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin in Berlin. Sein Stellvertreter liegt mit Magen-Darm-Grippe im Bett. Ich leite die Gerichtsmedizin in Bonn und bin kurzfristig zur Vertretung eingesprungen. Es musste ja schnell gehen. Mein Name ist Dorothea Liliental. Ich kann Ihnen jetzt leider nicht die Hand geben.“
Sie hielt ihm entschuldigend die behandschuhten Hände vor die Nase. Er wich erschrocken zurück.
„Ich wollte gerade anfangen“, erklärte sie und sah ihn fragend an. Wolfgang machte eine unbestimmte Handbewegung.
„Nur zu. Was haben Sie bisher festgestellt?“
Dorothea Liliental runzelte die Stirn. „Der Tote ist circa 35 Jahre alt. Identität unbekannt. Wir röntgen noch das Gebiss. Wie es aussieht, ist er totgeschlagen worden. Jemand hat ihm nach und nach mit einem stumpfen Gegenstand, Hammer oder Baseballschläger die großen Gelenke zertrümmert. Er hat erhebliche Hämatome, wie Sie sehen können, und es würde mich nicht wundern, wenn wir innere Blutungen finden.
Ich glaube auch, dass er über eine längere Zeit gequält wurde, denn die Hämatome sind unterschiedlich alt.“
Bei ihrer Erklärung deutete sie auf die unterschiedlichen Farben der riesigen Blutergüsse. „Mindestens einige Tage würde ich sagen. Kopf und Gesicht wurden von dem Schläger ausgelassen, als habe er vermeiden wollen, dass eine intracerebrale Blutung oder ein Hirnödem einen frühen Tod herbeiführt.“
Wolfgang brummte der Kopf. Er verstand nur Bahnhof.
„Können Sie das auf Deutsch für mich zusammenfassen?“
Dorothea schaute belustigt zu ihm auf. Was war jetzt so komisch? Diese Frau brachte ihn aus dem Konzept. Er beeilte sich zu sagen:
„Sie glauben mit anderen Worten, der Mann wurde nicht nur erschlagen, sondern systematisch gefoltert?“
Dorothea hielt inne und sah ihn an. Sie nickte.
„Das könnte man so sagen. Ich werde jetzt den Brustkorb und den Bauchraum öffnen, dann erfahren wir mehr.“ Sie griff zum Skalpell und zog die ersten Schnitte. Wolfgang merkte, wie sich ein Schwindelgefühl in seinem Kopf ausbreitete.
„Nein, doch nicht jetzt!“, murmelte er zu sich selbst und griff sich an die Stirn. Vor seinen Augen tanzten schwarze Punkte. Das war doch früher nicht so gewesen. Ja, meldete sich eine andere Stimme in seinem Kopf, das war auch DAVOR!
„Ist Ihnen nicht gut?“ Ihre Stimme war jetzt ganz nah an seinem Ohr. Wie konnte das sein. Sie hatte doch gerade noch auf der anderen Seite des Tisches gestanden. Er holte tief Luft.
„Geht schon“, murmelte er, „ich warte dann mal draußen.“ Mit weichen Knien verließ Wolfgang den Raum und wankte die schmale Treppe nach oben.
Er ließ sich in einen Wartesessel vor Professor Hirzingers Büro fallen und atmete tief durch.
„Jetzt wird dir schon bei einer blöden Obduktion schlecht“, sagte er leise zu sich selbst und schüttelte den Kopf. „Du bist ein Weichei, Wolfgang.“
„Ich glaube nicht, dass Sie ein Weichei sind“, hörte er da die freundliche Stimme, vor der er gerade geflüchtet war. Er zuckte zusammen. Vor ihm stand Dorothea Liliental mit einem Becher Wasser in der Hand, den sie ihm reichte.
„Im Obduktionssaal sind schon viele Menschen kollabiert.“ Er nahm einen kleinen Schluck.
„Ich mach den Job schon eine ganze Weile und bin noch nie vor einer Leiche umgekippt“, murmelte er. In Gedanken fügte er hinzu: ‚Erst recht nicht neben einer bildschönen Pathologin.‘ Sie betrachtete ihn. Er war ein attraktiver Mann.
Jetzt wo er den Mundschutz abgenommen hatte, sah sie sein markantes Kinn und die hohen Wangenkochen. Er hatte herrliche dunkelbraune Augen und sie erkannte die Lachfältchen darum. Es lag aber noch etwas in seinen Augen. Was war es?, fragte sie sich. Irgendwie sahen sie traurig aus. Welche schlechten Erfahrungen hatte er wohl gemacht? Wie konnte dieser Baumstamm von einem Mann so traurig geworden sein. Sie fuhr mit ihrer Betrachtung fort und merkte nicht, dass er sie dabei ansah. Sie musterte seine breiten Schultern. Er musste sportlich sein.
„Wollen Sie mich heute auch noch obduzieren?“, fragte er sie belustigt.
„Bitte was?“ Sie fühlte sich ertappt und fuhr zusammen. Rasch wandte sie sich von ihm ab. Wie hatte sie ihn auch so unverhohlen anstarren können! ‚Wie ein unreifer Teenager!‘, schimpfte sie sich selbst.
„Ich habe noch zu tun!“, sagte sie noch brüsk und eilte zurück in den Keller.
Wolfgang blieb noch eine Weile sitzen und war frustriert. Früher hatte er gern mit Frauen geflirtet.
‚Aber das war auch DAVOR‘, dachte er grimmig und stand auf.