‚Sie kommen! Nein! Bitte nicht!‘, dachte er voller Angst. Er hörte ihre nackten Füße über den blanken Steinfußboden tappen. Auch wenn sie sich bemühten, keinen Lärm zu verursachen, er hörte sie. Fest kniff er die Augen zusammen und wünschte sich an einen anderen Ort. Kurz drückte er die kleine Figur in seiner Hand, bevor er sie langsam unter seinem Kopfkissen versteckte. Sie durften sie nicht finden. Sie war alles, was ihm von zu Hause geblieben war. Er dachte an seine Mutter und Erinnerungsfetzen liefen vor seinen geschlossenen Augen vorbei.
Seine liebevolle Mutter, wie sie mit ihren weichen Händen an dem Puppenregal entlangstrich. Genau so strich sie ihm manchmal über den Kopf. Sie hatte Porzellanpuppen gesammelt und an Sonntagen durfte er ihr beim Abstauben helfen. Ehrfürchtig hatte er dann die kostbaren kleinen Mädchen mit rosa angemalten Wangen in der Hand gehalten, bis die Mutter mit Saubermachen fertig war. Er durfte sie auch ausziehen, wenn es Zeit wurde, ihre hübschen Kleider zu waschen. Hatte er etwas ausgefressen, wurde ihm dieses Privileg entzogen. Also hatte er sich stets an die Regeln gehalten und darum bemüht, den Eltern alles recht zu machen.
Sein Vater hatte ihn einmal lauthals ausgelacht, als er sich das Knie aufgeschlagen hatte und weinte. Die Mutter hatte ihn still verbunden und geflüstert: „Wenn du ein Mann sein willst, musst du mit dem Weinen aufhören.“ Dann hatte sie ihn an der Hand gefasst und war mit ihm zu ihren Puppen gegangen. Dort fand er Frieden und Ruhe.
Dann waren Vater und Mutter allein im Winter zu einer späten Abendandacht in die Kirche gefahren und er blieb bei den Nachbarn. Sie kamen nie zurück. Spät in der Nacht klingelte ein ernst dreinblickender älterer Polizist an der Tür und erklärte, dass ein Laster auf die Gegenfahrbahn gekommen war und das Auto der Eltern frontal erfasst habe. Sie waren sofort tot.
Da er keine anderen Verwandten hatte, musste er in ein Waisenhaus. Es ging nach dem langen Warten in der Nacht am nächsten Tag sehr schnell. Ihm blieb kaum Zeit, seine Sachen zu packen.
Eine einzige Kostbarkeit seiner Mutter hatte er retten können, als er aus seinem geschützten Leben herausgerissen wurde. Die kleine Prinzessin mit dunkelblauem Kleid und dem schüchternen Lächeln. Es war sein Lieblingsstück, eine seltene Miniatur. Als sie gekommen waren, um ihn in das Heim zu bringen, war er ins Wohnzimmer gerannt und hatte seinen Liebling schnell in seine Hosentasche gestopft. Was mit den anderen Puppen und persönlichen Gegenständen seiner Eltern passierte, blieb ihm verborgen.
Stattdessen musste er von dem Tag an, als er seine Eltern verlor, erfahren, was es bedeutete, in der Hölle zu sein. Tag und Nacht misshandelten sie ihn. Er war ein schmächtiger kleiner Junge von 12 Jahren, als die Hölle ihre Türen hinter ihm verschloss. Weglaufen war unmöglich. Das Heim lag abgelegen in einem großen Wald. Ein einziges Mal hatte er es versucht und zwei Tage hungernd und frierend im Wald verbracht. Er hatte es noch nicht einmal bis zu der großen Straße geschafft, an die er sich noch dunkel von der Herfahrt erinnerte.
Jetzt war Nacht und sie kamen. Das Wegwünschen half nicht. Schon waren sie an seinem Bett und eine kalte Hand presste sich auf seinen Mund. Als ob er schreien würde. Bestimmt nie mehr.
Er hatte einmal geschrien und wurde dafür so furchtbar bestraft, dass er fortan die Zähne zusammenbiss. Sie hatten ihm mit Gewalt den Mund aufgerissen und eine Hand voll Reißzwecken hineingestopft. Nur mit Mühe hatte er es geschafft, keine zu verschlucken. Einige der scharfen kleinen Dinger aber hatten sich schmerzhaft in Zunge und Zahnfleisch gebohrt. Wenn er an diese Nacht dachte, konnte er noch immer den Schmerz und das Blut im Mund schmecken. Er würde nicht schreien. Er würde nicht weinen.
Dies war die Hölle, genau wie der Pfarrer es predigte. Und die Teufel dachten sich stets eine andere Peinigung für ihn aus. Sie waren gerissen und achteten darauf, ihm keine sichtbaren Verletzungen zuzufügen. Wenn es doch gelegentlich passierte, zwangen sie ihn, eine Ausrede dafür zu erfinden.
Einmal hatte ihn der Heimleiter zu sich zitiert, weil er vor Schmerzen im Unterricht nicht sitzen konnte, nachdem sie ihm den Hintern mit Weidenruten versohlt hatten. Die Striemen waren auch am nächsten Tag noch gut sichtbar gewesen, sein Hintern blau verfärbt. Der Heimleiter, Herr Direktor Preuß, hatte bei der kurzen Besichtigung seines Hinterteils nur fragend eine Augenbraue hochgezogen. Seine Erklärung, er hätte zu lange am Ufer auf den kalten Steinen gesessen, war wirklich lahm, hatte aber gereicht, um weiteren Fragen zu entgehen.
Die Strafe, die sie ihm androhten, wenn er sie verriet, war zu grauenvoll.
„Wenn du redest, bist du tot! Verstehst du? Dann bist du tot!“ Das hatten sie ihm ins Ohr geflüstert. Einer nach dem anderen und er wusste, dass sie es ernst meinten.
Was würde es heute sein, das sie ihm antun würden? Sehr lange würde er es nicht mehr durchhalten. Dann sollten sie eben ein Ende mit ihm machen oder er würde es selbst tun. Mehr als einmal hatte er vom Fenster im vierten Stock nach unten in den Hof gesehen. Nur der Mut für den letzten Schritt fehlte ihm. Er ließ sich von ihnen aus dem Bett ziehen. Sie waren zu dritt und größer als er. In ihre Mitte genommen, drängten sie ihn über den kalten Steinfußboden nach draußen. Wie viele Augen sie dabei heimlich im Schlafsaal beobachteten, wusste er nicht. Keiner kam ihm zu Hilfe. Er weinte nicht.