Wolfgang Stahl fuhr am Vormittag nach Hanau ins Puppenmuseum. Er fluchte über den Stau auf der Hanauer Landstraße. Normalerweise kam man um die Zeit gut durch. Hätte er doch lieber die Autobahn genommen. Im Museum angekommen, zeigte er seinen Ausweis und verlangte nach jemand kompetenten. Der Ticketverkäufer griff zum Telefon und bat ihn zu warten.
Nach ein paar Minuten winkte ihn eine Angestellte zu sich und bedeutete ihm, ihr zu folgen. Das Alter der Frau war undefinierbar. Die Gesichtshaut war regelrecht verschrumpelt und sie ging so gebeugt, dass sie den Kopf seitwärts drehen musste, um ihn anzusehen. Wolfgang fragte sich, ob sie Schmerzen hatte. Sie führte ihn herum.
„Wir zeigen bei uns eine der bedeutendsten Spezialsammlungen für Puppen in Europa, Herr Kommissar. Außerdem können Sie antikes Spielzeug vom vierten Jahrhundert vor Christus sehen. An der Puppengestaltung lässt sich einiges der jeweiligen Mode und Stilrichtungen der Zeit ablesen.“
Während sie durch die Räume gingen, hielt sie ihm einen umfassenden Vortrag. „Die wohl bekannteste deutsche Puppengestalterin ist Käthe Kruse. Wollen Sie den Bereich von ihr auch noch sehen?“
Wolfgang winkte ab. Das reichte ihm mit Puppen für sein ganzes Leben.
„Danke, ich glaube, ein kurzer Blick in den Raum genügt.“
„Wie Sie meinen. Kommen Sie! Wir haben uns eine Pause verdient.“ Sie führte ihn in einen privaten Bereich und lud ihn zum Tee ein.
„Viele Puppen überleben nicht lange unbeschadet, wissen Sie, junger Mann“, schloss sie mit brüchiger Stimme ihre Ausführung. „Die Kinder wollen mit den Puppen spielen und dann lassen sie sie doch immerzu fallen. Das kostete so ein wertvolles Stück meistens das Leben. Oh je, das war taktlos von mir, wo Sie doch mit Mord zu tun haben. Hi hi hi. Entschuldigen Sie.“
Sie kicherte und lächelte Wolfgang an. Eine Million kleiner Runzeln verzogen sich in ihrem Gesicht. Eines war Wolfgang klar. Wenn er mal Kinder haben würde, dann würde er sie mit Plastik und Holz spielen lassen, das sie nach Lust und Laune durch die Gegend werfen könnten. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, fragte sie:
„Sie haben wohl keine Kinder, oder?“ Ohne seine Antwort abzuwarten, setzte sie nach:
„Das wundert mich. So ein stattlicher Mann wie Sie und dann keine Familie?“ Sie knuffte ihn vertraulich in die Seite. „Sie sind doch wohl nicht vom anderen Ufer, wie?“
Jetzt wurde es ihm zu bunt. Was war denn das hier? Er holte tief Luft und wies sie zurecht.
„Hören Sie, meine Familie tut nichts zur Sache. Ich würde gern wissen, ob Sie ein Verzeichnis der Seriennummern und vielleicht auch der Besitzer haben? Die Puppen sind doch nummeriert.“
Die Alte zog anerkennend die Augenbraue hoch.
„Sie haben bereits gut recherchiert, mein junger Freund.“ Ich bin nicht dein Freund, dachte Stahl, doch er musste sich beeilen, der Alten zu folgen. Sie war erstaunlich schnell aufgestanden und schlurfte in ein kleines Büro, das mit Aktenordnern vollgestopft war.
„Hier finden Sie die registrierten Nummern. Sie sind nicht unbedingt vollständig. Echte Sammler schicken uns ihre Registrierungsnummern nach dem Kauf zu. So können sie im Fall eines Diebstahls beweisen, dass es sich um ihre Puppe gehandelt hat.“
Stahl zog den Aktenordner des Jahres 1994 heraus und blätterte bis zu der Nummer, die er sich vom Rücken der Puppe abgeschrieben hatte. 47/1994. Bingo! Er notierte den Namen Isolde Stenger, Gravenbruch. Keine halbe Stunde mit dem Auto von hier. Jetzt hatte er es eilig.
Er bedankte sich schnell bei der Alten und lief zu seinem Wagen. Er fuhr direkt nach Gravenbruch. Er brauchte ein paar Minuten, bis er die Adresse gefunden hatte. Es war ein Hochhaus mit 6 Stockwerken. Der Name Stenger war nicht auf den Klingelschildern zu sehen. Er drückte auf gut Glück den ersten Namen im Erdgeschoss. Eine Stimme fragte schnarrend durch die Sprechanlage:
„Ja bitte?“
„Guten Tag. Ich bin von der Polizei und möchte zu Frau Stenger.“ Er horchte. Einige Momente war es still, dann ging der Summer. Stahl drückte die Tür auf und ging auf die geöffnete Wohnungstür im Erdgeschoss zu. Ein alter Mann stand im Morgenmantel da und lehnte sich auf eine Gehhilfe.
„Sie kommen zu spät“, sagte er mit heiserer Stimme zu ihm. Sie hörte sich an wie knarzendes Leder. Stahl runzelte die Stirn.
„Wie meinen Sie das, ich komme zu spät?“ Der alte Mann bedeutete ihm, einzutreten. Sie setzten sich im Wohnzimmer auf ein verschlissenes Sofa.
„Nun also, Isolde wohnte fast acht Jahre hier. Wir haben jeden Tag nachmittags Canasta gespielt. Sie machte immer so merkwürdige Andeutungen, wie zu Beispiel: »Er wird sie sich schon holen. Er wird sie schon finden.« Und so etwas in der Art. Wenn ich wissen wollte, was sie meinte, hat sie dicht gemacht. Vor fünf Jahren ist sie verstorben. Hatte keine Verwandten. Ihr Zeug ist auf dem Sperrmüll gelandet. War ja nix wert, das alte Zeug.“
Stahl hatte aufmerksam zugehört.
„Und Sie haben keine Ahnung, was Frau Stenger mit ihren Andeutungen sagen wollte?“
Der Alte schüttelte den Kopf. „Nee, keinen blassen Schimmer.“ Stahl beugte sich zu ihm vor.
„Sagen Sie, hat Frau Stenger Porzellanpuppen gesammelt?“
Der Alte kniff die Augen zusammen.
„Woher wissen Sie das?“, wollte er wissen.
„Ich mach’ hier meinen Job. Und ich will wissen, ob sie eine ganz bestimmte Puppe besessen hat.“ Er zog das Foto mit der beschädigten Puppe aus der Tasche. Dem Mann traten die Tränen in die Augen. Er strich mit zitterndem Finger über das Bild.
„Das ist die kleine Milicent. Sie war Isoldes Lieblingsstück. Sie hat sie verschenkt, als sie wusste, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte. Krebs, wissen Sie.“
Stahl horchte auf. Er war ganz dicht dran, das fühlte er. „An wen hat sie sie verschenkt?“, drängte er den Alten ungeduldig. „Können Sie mir den Namen geben?“
Der Alte schüttelte bedauernd den Kopf. Stahl merkte, wie ihm die gute Spur wie ein nasser Fisch aus der Hand glitt.
„Da muss ich sie enttäuschen. Ein junger Mann kam manchmal vorbei, um sie zu besuchen. Isolde war in ihrer Jugend mit seiner Mutter gut befreundet gewesen. Dann sind sie und ihr Mann bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Der einzige Sohn wurde in ein Kinderheim gegeben. Schreckliche Sache. Sie hat ihn zu sich geholt, als er 16 war und mit seiner Lehre anfing. Da wohnte sie ein paar Jahre lang in Frankfurt. Diesem Sohn hat sie die Puppe geschenkt, weil sie hoffte, dass er sie gut behandeln würde.“ Er betrachtete das Foto. „Naja, da hat sie sich wohl getäuscht, so wie Milicent zugerichtet wurde, was?“
Stahl insistierte.
„Wie heißt der Mann? Hat sie denn nie den Namen erwähnt?“
Wieder schüttelte der Alte den Kopf.
„Tut mir leid, junger Mann. Ich erinnere mich nicht. Es ist zu lange her. Sie ist schon seit fünf Jahren nicht mehr da und ich bin viel allein. Ich vergesse immer mehr. Außerdem hat sie nicht viel von ihm gesprochen. Nur, dass er immer etwas Nettes mitbrachte. Mal waren es Blumen, mal etwas zum Naschen, na, was man halt so mitbringt. Isolde war immer glücklich, wenn er kam, und gleichzeitig traurig, weil er sie an ihre verstorbene Freundin erinnerte.“ Er seufzte tief. „Mich kommt keiner besuchen. Jetzt bin ich schon froh darüber, mich mit einem Polizeibeamten unterhalten zu können. Kommen Sie gern mal wieder, junger Mann.“
Stahl erhob sich und reichte ihm die Hand.
„Ich danke Ihnen. Sie haben mir geholfen und ich glaube, ich komme nochmal wieder. Vielleicht fällt Ihnen doch noch etwas ein. Sie können mich auch gern anrufen.“ Er gab ihm seine Karte.
„Auf Wiedersehen“, sagte der Alte und nahm die Karte entgegen. Dann stand Stahl wieder draußen. Er war enttäuscht. Der Tag hatte so vielversprechend angefangen und er war vermutlich in einer Sackgasse gelandet. Vielleicht würden sie mit dem Namen Isolde Stenger über den Computer weiterkommen. Er sah auf die Uhr. Gleich halb sechs. Wo war die Zeit geblieben? Er stieg in seinen Opel und wollte nach Hause fahren, um zu duschen. Am Abend war er mit Dorothea verabredet. Er zuckte innerlich zusammen. Was sollte er ihr mitbringen? Das hatte er glatt vergessen. Er gab Gas. Sein Lieblingsladen hatte bis 18.30 Uhr geöffnet. Das schaffte er noch.
Zwanzig nach sechs kam er vor dem Geschäft an und rangierte in eine winzige Parklücke. Er war mit zwei Schritten die Stufen hoch und öffnete die Tür. Das Glöckchen bimmelte. Es roch wie immer leicht muffig, aber das störte ihn nicht. Die meisten Bücher waren alt. Vielleicht lag es auch an seinem empfindlichen Geruchssinn. Der Antiquar kam hinter seiner Ladentheke hervor. Er sah ihm wie immer nicht direkt in die Augen, als er höflich fragte:
„Guten Abend. Wie kann ich Ihnen heute helfen?“
Stahl druckste herum. Er wollte nicht einem Fremden erzählen, dass er wieder mit einer Frau verabredet war und ein Geschenk brauchte. Da kam ihm eine Idee.
„Sagen Sie, hätten Sie vielleicht ein altes Medizinerbuch? Einen Atlas oder ein Lehrbuch mit Zeichnungen oder so?“
Ein Leuchten ging kurz über das Gesicht des Antiquars. Er verneigte sich leicht vor Stahl und sagte:
„Einen Moment bitte. Ich glaube, ich hab da was für Sie.“ Bevor Stahl sich noch über diese altmodische Geste wundern konnte, die gar nicht zu dem jungen Mann passte, verschwand dieser in den Tiefen der Regale. Stahl hörte ihn Treppenstufen steigen, dann war es still in dem Laden. Er war allein. Wolfgang blickte sich um. Seine Augen streiften über die Buchrücken, die peinlich genau auf den Regalen standen. Prosa, Gedichte, Politik, Kriminalromane. Alles, was ein Lesefreund begehrt.
Die Ladenkasse war ein altmodisches Monstrum mit manueller Tastatur und Kurbel. Sein Blick wanderte ungerichtet weiter.
Da hörte er den Antiquar die Treppe wieder hochkommen und ging ihm entgegen. Er trug ein dickes großes Buch in der Hand. Liebevoll strich er über den Einband und reichte es Stahl.
„Was halten Sie von dem hier?“, wollte er wissen.
„Die Ärztin im Hause“ lautete der Titel. Es war ein etwa hundert Jahre altes Buch mit farbigen Jugendstilzeichnungen. Stahl grinste.
„Das ist perfekt!“, rief er erfreut und bezahlte den vergleichsweise geringen Betrag. Er ging die kleine Treppe zur Straße herunter und legte das Buch auf den Rücksitz. Die paar Meter nach Hause flog er regelrecht und glücklich in seinem Opel. Er war höchst zufrieden. Hatte der Tag schon etwas Gutes gebracht. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass er gerade etwas Entscheidendes übersehen hatte.