27. Zu spät

Wolfgang Stahl traf seinen Kollegen Patrick Adler im Revier. Sie gaben sich die Hand und setzten sich einander gegenüber.

„Und wie war’s beim Herrn Schuldirektor?“, wollte Patrick wissen.

„Weiß nicht, Patrick. Der ist aalglatt. Die Schule ist ein Kinderheim für Jungen. So was gibt’s im Jahr 2013 noch! Die ganze Anlage ist ganz schön runtergekommen. Die Lehrerin soll seine beste Kraft gewesen sein. Er nannte sie Fräulein Meier, obwohl sie doch schon über sechzig war. Er wollte mir keine Namen nennen. Seine anvertrauten Jungen und Schüler würden es alle zu was bringen, hat er gemeint. Deshalb hat er auf dem richterlichen Beschluss bestanden. Hast du gestern noch etwas erreichen können?“ Er sah seinen Freund und Kollegen erwartungsvoll an.

Patrick schüttelte den Kopf. Seine Nase lief mal wieder besonders stark und Wolfgang vermutete einen Hausputz. Wenn er mit Hausstaub viel in Kontakt kam, war seine Allergie besonders schlimm. Aus reiner Gewohnheit reichte er ihm ein Tempo, das Patrick dankend annahm. Er schnäuzte sich geräuschvoll und meinte dann:

„Nein, leider nicht. Es war schon zu spät am Freitagabend. Aber hör mal, der Typ, der den Notruf angegeben hat, hat sich nochmal gemeldet. Enno Thielmann, ein Börsenmakler. Stinkreich. Martina hat ihn direkt zum Chef durchgestellt und der konnte mit ihm reden. Der war total außer sich. War wohl mit dem Opfer aus Bad Honnef, dem Felix Meier, locker befreundet und jetzt, halt dich fest: Sie gingen früher in dieselbe Schule. Das ist die Verbindung, nach der wir gesucht haben! Ein Kinderheim mit Schule in der Eifel. Wie findest du das? Waren dort die dicksten Freunde.“

Wolfgang sprang auf:

„Was, das gibt’s doch nicht! Schade, dass wir das nicht schon früher gewusst haben. Gestern war ich da. Ich hätte dem Preuß ganz anders auf den Zahn fühlen können. Mist!“ Patrick nickte bestätigend.

„Hm, hm. Jetzt hat er auf jeden Fall Schiss. Irgendwas müssen die zusammen in dem Heim gedreht haben. Am Telefon war aber nichts aus ihm rauszukriegen. Der hat richtig Todesangst. Der Chef hat ihm gesagt, dass wir heute Vormittag bei ihm vorbeifahren. Es ist nicht weit, er wohnt in Mühlheim, bei Offenbach.“ Adler sah auf die Uhr.

„Wenn wir gleich losfahren, müssten wir bis nachmittags wieder zu Hause sein können. Komm!“ Er nahm seine Jacke vom Haken und ging voraus zum Auto. Die beiden Polizisten fuhren mit Patricks Wagen, was Wolfgang nur recht war. Anja winselte leise im Kofferraum.

„Na, und wie geht’s mit dir weiter?“, fragte er die Hündin. Patrick seufzte.

„Ihr fehlt die Bewegung. Ich kann sie kaum noch bremsen. Aber solang die Fäden noch drin sind, darf sie nicht viel laufen. Bis Montag noch, dann gehe ich mit ihr hin.“

„Also, das geht doch.“ Wolfgang lehnte den Kopf zurück. Er fühlte sich erschöpft. Bei dem Gedanken an die letzte Nacht mit Dorothea huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Patrick bemerkte die Stimmungsveränderung bei ihm und neckte ihn:

„Na, hast du gestern noch einen schönen Abend gehabt? Du warst in Bonn, nicht wahr?“ Wolfgang seufzte.

„Ja, sie ist eine Klassefrau. Stell dir mal vor, sie geht am Wochenende in die Klinik auf die Kinderkrebsstation.“

Ein „Oh“ rutschte Patrick raus. Mit Krankheiten hatte er es nicht so und mit Krebs schon gar nicht. Das war ihm unheimlich, weil er seine Mutter als Halbwüchsiger an diese tückische Krankheit verloren hatte.

Wolfgang brummte.

„Hm, genau. Sie hilft dort bei der Beschäftigungstherapie. Hat mir erzählt, dass sie einen kleinen Bruder hatte, der an einem Gehirntumor gestorben ist. Da war er zehn und sie vierzehn. Die Familie hat den Verlust nie wirklich verkraftet.

Ich wäre wirklich gern noch das Wochenende da geblieben.“

Patrick schwieg taktvoll. Er wusste auch, dass Wolfgang heute wieder zur Nachtschicht an die Dialyse gehen würde. Er gönnte seinem Kollegen das neue Glück und fragte sich manchmal, wie der sein Leben mit der Krankheit so in den Griff bekam. Manchmal war Patrick nicht sicher, ob er das selbst so souverän wie Wolfgang bewältigen könnte.

 

Während sie an Offenbach vorbei nach Mühlheim fuhren, hatte Enno Thielmann Besuch.

Seine schlimmsten Ängste wurden Wirklichkeit.

Gerade hatte er sich von dem Schlag auf den Kopf erholt und das Bewusstsein wieder erlangt. Er war mit Klebeband an einen Esszimmerstuhl gefesselt. In seinem Mund steckte irgendetwas Hartes. Das Klebeband, das quer über seinen Mund klebte, zog schmerzhaft an seinen Bartstoppeln. Enno hatte bis spät in die Nacht ferngesehen und war noch nicht aufgestanden, als sein Besucher kam. Mit vor Angst geweiteten Augen blickte er in das Gesicht, das er gehofft hatte, nie mehr wiederzusehen. Natürlich war der Knabe verschwunden. Trotzdem erkannte Enno ihn auf Anhieb.

„Weißt du, wer ich bin?“, fragte der Mann und betonte dabei jedes Wort, als wöge es besonders schwer.

Enno nickte schnell. Vielleicht würde er ihn laufen lassen. Er versuchte, trotz des Knebels etwas zu sagen, brachte aber nur Gebrabbel hervor. Die kalte Angst griff nach ihm, als er die nächsten Handgriffe des Mannes sah.

„Weißt du noch, damals am Teich?“, fragte er langsam. „Ich hatte mir für dich überlegt, dich in einer Kühltruhe einzufrieren. Dann hätte ich, so oft es mir gefällt, deine kalte Visage ansehen können. Aber weißt du was? Ich will dich überhaupt nie mehr sehen und nie mehr einen Gedanken an dich verschwenden.“

Ohne eine Miene zu verziehen, schraubte er einen Benzinkanister auf und stieß ihn um. Die braune Flüssigkeit gluckerte aus dem Behälter und Benzingestank stieg in Ennos Nase. Er warf den Kopf hin und her. Versuchte, die Arme aus seiner Fesselung zu ziehen.

„Nein!“, schrie er hinter dem Knebel. Der Mann beachtete ihn nicht. Er durchquerte mit wenigen schnellen Schritten den Raum. An der Terrassentür drehte er sich um und bückte sich. Enno hörte, wie ein Streichholz angerissen wurde. Dann war der Mann weg. Stille, bis auf ein leises Zischen. Das Letzte, was Enno Thielmann in seinem Leben sah, war ein gleißendes Licht.

 

Patrick suchte in Mühlheim nach der Adresse und parkte vor einem großen Grundstück. Sie ließen Anja im Wagen.

„Sieht nach Geld aus“, meinte Wolfgang.

„Hm, viel Geld“, bestätigte Patrick und las den Namen am Tor. Eine kiesgestreute Auffahrt führte zum Haus. Große Bäume verbargen im Sommer Haus und Garten vor neugierigen Blicken. Jetzt lag das Laub zum großen Teil auf dem Boden und man konnte das stattliche Haus sehen.

Das ganze Anwesen war von einem hohen Zaun umgeben. Gerade, als er auf die Klingel drücken wollte, ertönte ein ohrenbetäubender Knall. Vor ihren Augen explodierte das Erdgeschoss. Glas zersplitterte, als die Fensterscheiben aus den Rahmen platzten. Flammen und schwarzer Rauch schlugen nach draußen. Die Druckwelle warf Patrick und Wolfgang von den Füßen. Sie blieben beide kurz benommen am Boden liegen und befürchteten, dass weitere Detonationen folgen könnten.

„Scheiße!“, brüllte Wolfgang und rappelte sich auf. Die Flammen schlugen rasch höher. Sie leckten bereits am ersten Stockwerk. Als weitere Explosionen ausblieben, kletterte Patrick über den Zaun und rief Wolfgang zu:

„Schnell, ruf du die Feuerwehr!“ Dann drehte er sich um und lief geduckt über den Rasen. Nahe kam er nicht an das Haus heran. Die Hitze war zu groß und hielt ihn zurück. Wenn da drinnen überhaupt noch jemand lebte, konnte er ihm nicht helfen. Wolfgang kam ihm nach und starrte entsetzt auf das Inferno.

„Wir sind zu spät“, murmelte er. Gemeinsam mit Patrick umrundete er das Haus, das nun vollkommen in Flammen stand. Wolfgang sah sich um. Er suchte das Zeichen des Mörders.

Da erkannte er etwas Helles am Fuße einer alten Eiche aufleuchten. Er ging darauf zu und eine Gänsehaut kroch von seinem Rücken zu seinem Hinterkopf hinauf, als er erkannte, was ihn angelockt hatte. Er rief seinen Kollegen und deutete stumm auf den makabren Fund.

„Ach du Scheiße!“, rutschte es Adler heraus. Gemeinsam betrachteten sie einen Scherbenhaufen. Die Scherben einer Porzellanpuppe, deren hübscher Kopf unbeschädigt in die Mitte der Scherben gelegt worden war. Fröhliche blaue Puppenaugen starrten die beiden Polizisten an.

„Also haben wir hier Opfer Nummer fünf“ sagte Wolfgang tonlos.

„Ja, sieht so aus“, stimmte Patrick zu.

„Die Spurensicherung wird mit Sicherheit Brandstiftung als Ursache für das hier finden. Von allein breitet sich ein Feuer nicht so schnell aus.“ Er deutete mit der Hand auf das Haus. Es brannte bereits lichterloh.

„Da hat jemand ganze Arbeit geleistet.“ Sie hörten die Sirenen und kurz darauf traf die Feuerwehr ein. Vier Löschzüge brauchten über eine Stunde, bis der Brand unter Kontrolle war. Von Enno Thielmann war nicht viel übrig geblieben. Die Spurensicherung fand nur noch Fetzen und verkohlte Reste von ihm.

Als Brandursache stellten sie Benzin fest.

„Der einfachste Brandbeschleuniger der Welt“, meinte der Kollege der Brandursachenermittlung zu ihnen.

„Wir haben einen Kanister gefunden. Der Fußboden muss getränkt worden sein, so, wie das gebrannt hat. Das werten wir noch aus. Dann hängst du eine Zündschnur rein, zündest sie an und bringst dich in Sicherheit.“ Wolfgang horchte auf.

„Wie lange Zeit hat er gehabt, vom Anzünden bis zum Hochgehen? Wir haben die Explosion gesehen!“, wollte er wissen. Der Kollege überlegte kurz.

„Also wenn du nicht mit in die Luft fliegen willst, läufst du sehr schnell. Du musst damit rechnen, dass sich die Benzindämpfe vor dem Kanisterinhalt entzünden und das Ganze schneller abläuft, als dir lieb ist.“

Wolfgang schlug sich mit der Faust in die Handfläche.

„Verdammt!“, rief er. „Der Mörder muss kurz vor uns noch hier gewesen sein! Wir sind doch gekommen, kurz bevor es Peng gemacht hat.“ Wolfgang sah sich fieberhaft um. Dann sagte er mit gedämpfter Stimme:

„Oder er steckt hier noch irgendwo ...“

Patrick schüttelte den Kopf.

„Das glaube ich nicht. Bei dem Tumult ist der längst abgehauen. Viel zu risikoreich, wenn es von Feuerwehr und Polizei nur so wimmelt.“

„Ja“, sagte Wolfgang resigniert. „Da hast du wohl recht. Gehen wir Klinken putzen und befragen die Nachbarn. Vielleicht hat einer was gesehen.“

 

Sie wussten nicht, dass sie beobachtet wurden. Stahl hatte den richtigen Riecher gehabt. Unter den Schaulustigen, die sich am Zaun versammelt hatten, stand ein mittelgroßer Mann, der eine Baseballkappe der Frankfurt Lions tief in die Stirn gezogen hatte. Er betrachtete das Szenario mit entrücktem Leuchten im Gesicht. Nur mühsam konnte er ein Grinsen unterdrücken, als er die entsetzten Gesichter der beiden Ermittler beim Anblick seines Souvenirs sah. Wie würden sie erst aussehen, wenn sie Enno von den Wänden abkratzten. Bei der Vorstellung huschte doch ein kleines Lächeln über sein Gesicht.

Niemand sah es, denn alle anderen starrten gebannt auf das Inferno. Er fühlte seine Macht, als würde er sie mit dem Rauch einatmen, der zu ihm herüberwehte. Langsam wandte er sich ab und ging zu seinem VW-Bus, den er in der nächsten Seitenstraße abgestellt hatte. Seine kleine Prinzessin wartete geduldig auf dem Beifahrersitz. Er stieg ein.

„Siehst du! Wieder einer weniger. Das haben WIR gut gemacht“, sagte er zufrieden zu ihr und fuhr nach Hause.