29. Die Prinzessin

Etwas außer Atem kam Wolfgang vor dem Laden im Marbachweg an. Es war geöffnet und er trat ein. Die Glöckchen über der Tür kündigten ihn als neuen Kunden an. Andreas Eckig trat auf ihn zu. Sein rechter Mundwinkel wanderte drei Millimeter nach oben.

Höflich erkundigte er sich:

„Sind Ihre Geschenke gut angekommen?“ Wolfgang fühlte, wie er rot wurde. Er verbot sich den Gedanken an Dorothea und räusperte sich. Heute war er rein dienstlich hier. Er bemühte sich darum, seine Aufregung zu verbergen und sagte:

„Ja, die Bücher waren genau das Richtige. Vielen Dank. Ich bin heute aus einem anderen Grund hier, Herr Eckig.“ Er zog seinen Dienstausweis aus der Tasche. Eckig betrachtete den Ausweis gleichmütig und fragte:

„Ja? Was kann ich für Sie tun?“ Wolfgang beschloss, direkt zur Sache zu kommen.

„Wir ermitteln in einer Mordserie. Die Fälle liegen weit auseinander und scheinen doch zusammenzuhängen. Die Opfer waren als Kinder alle in einem Schulheim in der Eifel. Ich habe auf einer Klassenliste auch Ihren Namen gefunden.“ Eckigs Gesicht blieb ausdruckslos, doch bei der Erwähnung des Heims meinte Wolfgang, ein Flackern in seinen Augen gesehen zu haben. Emotionslos erwiderte er:

„Ich war in der Tat in einem Heim in der Eifel. Meine Eltern sind bei einem Unfall ums Leben gekommen, da war ich zehn. Was möchten Sie sonst wissen?“ Wolfgang beobachtete sein Gegenüber genau, während er sprach. Es entging ihm nicht, das Eckig sich versteifte.

„Drei der Mordopfer gingen mit Ihnen in eine Klasse. Peter Schwarz, Felix Meier, Ralf Packer. Sagen Ihnen die Namen nichts?“ Gespannt wartete er auf eine Reaktion. Eckig zuckte teilnahmslos mit den Schultern.

„Das letzte Opfer in Dietzenbach, Herr Thielmann, war ein Jahrgang über Ihnen“, bohrte er weiter. „Haben Sie von den Fällen nicht in den Nachrichten gehört? Immerhin waren das Ihre Klassenkameraden.“

„Wie Sie vielleicht bemerkt haben, Herr Kommissar, interessiere ich mich mehr für Klassiker als für die neuesten Nachrichten.“ Eckig machte eine unbestimmte Bewegung, die seinen Laden einschließen sollte.

„Ich bin jetzt seit über 10 Jahren aus dieser Schule raus“, fuhr er fort. „Die Namen der anderen habe ich vergessen. Sie interessieren mich nicht. Ich hatte dort keine berühmte Zeit.“ Wolfgang hakte nach.

„Wie darf ich das verstehen?“

„Ich wurde in das Heim gebracht, als ich meine beiden Eltern bei einem Autounfall verlor. Bis dahin hatte ich ein glückliches, geborgenes Zuhause gehabt. In einem Heim sind Sie irgendwer, der gefüttert werden muss. Kein Kind geht freiwillig an so einen Ort.“ Wolfgang verstand. Er selbst war dankbar dafür, dass er in geordneten Verhältnissen aufgewachsen war.

„Ich würde gern noch wissen, ob Sie sich an die Lehrerin Frau Meier erinnern können.“ Wieder dieses kurze Flackern der Augen, ansonsten blieb Eckigs Gesicht völlig unbeteiligt.

„Sie meinen das Fräulein Meier?“ Er betonte spöttisch das „Fräulein“. Seine Stimme hob sich, als er fortfuhr: „Sie war eine Hexe. Hat uns Jungen mit sinnlosem Müll getriezt und gemaßregelt wegen Nichtigkeiten. Niemand konnte sie ausstehen, die trockene alte Jungfer.“

Wolfgang horchte auf. Endlich wurde Eckig emotional. Er hörte deutlich den Hass aus seinen Worten heraus. Sollte das, was er erzählte, der Wahrheit entsprechen, würde das nicht verwundern. Vielleicht könnte er ihn aus der Reserve locken. Rasch hatte sich Eckig wieder im Griff und fügte gleichmütiger hinzu:

„Aber das spielt ja nun keine Rolle mehr, nicht wahr? Über Tote soll man keine schlechten Worte verlieren. Haben Sie sonst noch Fragen an mich?“ Ja, er hatte.

„In welcher Form wurden Sie gemaßregelt?“ Eckig schob die Hände in die Taschen. Eine Geste, die Wolfgang nicht entging.

„Das Übliche zu der Zeit, nehme ich an. Linealschläge auf die Finger, In-die-Ecke-Stellen mit Büchern in den ausgestreckten Händen. Kennen Sie das nicht, Herr Kommissar?“ Wolfgang schüttelte den Kopf.

„Nein, wir wurden damals nicht körperlich bestraft.“

„Aha.“

Er hatte vorerst genug Informationen. Einen Schüler hatte er hier vor sich und endlich einen kleinen Einblick in die Verhältnisse des Heims bekommen. Maßregelung. Also gab es doch körperliche Züchtigung, obwohl Preuß nichts in diese Richtung zugegeben hatte.

Die Türglöckchen kündigten einen weiteren Kunden an.

„Vielen Dank fürs Erste, Herr Eckig. Ich habe später vielleicht noch weitere Fragen und werde nochmal wiederkommen. Dienstlich, meine ich. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, können Sie mich jederzeit anrufen.“

Eckig nickte und steckte die Karte in seine Hosentasche. Dann er richtete seine Aufmerksamkeit auf den älteren Herrn, der den Laden betreten hatte. Wolfgang ging zum Ausgang und stutzte. Jetzt erkannte er den Gegenstand, der ihm in der Vergangenheit schon aufgefallen war. Die Bedeutung war ihm aber nicht bis ins Bewusstsein vorgerückt.

 

Langsam ging Wolfgang zur Ladenkasse. Es handelte sich um eine altmodische große Registrierkasse mit Knöpfen und Kurbel. Eckig musste sie restauriert haben, denn er benutzte sie. Auf dem Podest neben der Kurbel saß der Gegenstand und hatte ihm den Rücken zugekehrt. Wolfgang fröstelte. Eine kleine Porzellanpuppe im langen dunkelblauen Kleid. Nur war sie viel kleiner als diejenigen, die sie bei den Tatorten gefunden hatten. War das Zufall? Wolfgang glaubte nicht an Zufälle. „Ich sollte hier noch weiter forschen“, dachte er. Aber er war allein und Eckig ab sofort im Grunde ein Verdächtiger. Und vielleicht gefährlich. Er verließ zögernd den Laden und fuhr aufs Revier zurück.

 

In der Adickesallee stürmte er ins Büro. Patrick saß allein am Schreibtisch und arbeitete. Anja lag zu seinen Füßen. Den Kopf hatte sie auf seinen Fuß gelegt.

„Trautes Heim, Glück allein“, schoss es Wolfgang bei dem friedlichen Anblick in den Kopf. Das Gefühl von Frieden wurde jäh zerstört, als eine Stimme brüllte:

„Stahl? Sind Sie das?“ Es war Krantz. Oh, nein. Der fehlte gerade noch.

„Hab ich was verpasst?“, flüsterte er zu Patrick. Der gab sich desinteressiert.

„Nö, das Übliche halt. Gehen wir rein. Ich wollte warten, bis du da bist.“ Gemeinsam betraten sie das geräumige Zimmer ihres Chefs. Seine Laune war wie immer schlecht.

„Also, meine Herren. Was soll ich davon halten, dass der Notrufer vom Freitag am Samstag in die Luft fliegt?! Wie viele Leute soll der Mistkerl noch drankriegen, bevor wir in schnappen?! Irgendwelche Vorschläge?“

Patrick antwortete zuerst.

„Wir sind am Samstag zu Thielmann gefahren, genau wie Sie persönlich es mit ihm verabredet haben, Chef. Wir können nichts dafür, dass es ihn vorher erwischt hat. Im Moment analysieren wir die Klassenlisten aus dem Schulheim in der Eifel. Dort scheint die einzige Verbindung der Toten zu liegen.“ Wolfgang ergänzte sofort, bevor Krantz unterbrechen konnte:

„Wir haben außerdem einen Verdächtigen, Chef.“

Patrick sah ihn verwundert an.

„Ich komme gerade von einem der ehemaligen Schüler und er kommt als Verdächtiger infrage. Wir werden ihn observieren lassen, wenigstens bis wir die andern gefunden und befragt haben.“ Krantz wirkte zufrieden. Ein extrem seltener Anblick.

„Gute Arbeit, meine Herren. Machen Sie weiter!“ Er winkte sie ungeduldig zur Tür hinaus. Patrick zog die Tür hinter ihnen zu.

„Nun red schon, Wolfgang. Was war das gerade?“ Als er von der kleinen Puppe auf der Kasse hörte, wurden seine Augen groß.

„Na, das ist ja ’n Ding. Die Observierung kriegen wir. Ich regel das!“

„Alles klar“, sagte Wolfgang. Bevor er sich wieder mit seiner Liste beschäftigte, gab er das Antiquariat bei Google ein. Warum war bei der Recherche nach Andreas Eckig nicht das Geschäft angezeigt worden? Google beantwortete seine Frage. Als Ladeninhaber war der Vorgänger Alois Brachmann eingetragen. Der introvertierte Eckig hatte das offenbar nie geändert.