33. In der Klinik

Dorothea konnte sich später nicht mehr erinnern, wie sie zur Uniklinik gefahren war. Sie fragte sich zur Wachstation durch. Die Nachtschwester zog die Stirn kraus und blaffte sie an:

„Also hören Sie mal. Sie können jetzt nicht hier rein. Es ist fast ein Uhr nachts. Die Besuchszeit beginnt erst morgen früh um acht.“

Dorothea raufte sich die Haare. Sie war vollkommen aufgelöst und fest entschlossen, sich nicht abwimmeln zu lassen.

„Hören Sie, ich bin aus Bonn hierher gefahren, um meinen Freund zu besuchen. Er muss heute Nacht transplantiert worden sein. Können Sie nicht eine Ausnahme machen. Bitte? Vielleicht ist er wach?“ Das Gesicht der Krankenschwester, eine Matrone von mindestens 240 Pfund Lebendgewicht, wurde weich. Sie schnaufte.

„Na gut“, sagte sie durch das Fenster. „Ich will mal nachsehen.“ Sie entfernte sich und Dorothea trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Endlich kam die Schwester zurück und betätigte den Summer.

„Sie haben Glück. Er ist wach und will Sie sehen.“

 

Dorothea betrat die Wachstation. Seit der Facharztweiterbildung hatte sie keine Intensivstation mehr von innen gesehen. Alles war weiß gefliest und wirkte steril.

„Sie müssen sich einen Kittel und Mundschutz anziehen. Dann bitte Händedesinfektion nicht vergessen. Sie sind hoffentlich nicht erkältet?“, fragte die Matrone streng. Dorothea schüttelte den Kopf und tat mechanisch, was ihr aufgetragen wurde.

So vermummt führte die Schwester sie zu einem Zimmer und klopfte an die Tür. Dann ließ sie Dorothea eintreten und schloss die Tür hinter ihr. Wolfgang lag allein im Zimmer. Sein Gesicht war blass. Langsam ging Dorothea an das Bett heran. Sie sah mit Schrecken die vielen Schläuche und Kabel, die unter die leichte Decke führten, mit der Wolfgang bedeckt war. Ihr Blick fiel auf eine Drainage und sie registrierte erleichtert, dass sie praktisch kein Blut förderte. Ihre Klinikzeit lag zwar schon einige Jahre zurück, doch dieses gute Zeichen wusste sie zu deuten. Sie trat an seine Seite. Er sah sie an und lächelte scheu.

„Dorothea“, flüsterte er heiser, sonst nichts. Dann atmete er tief ein und schloss die Augen. „Dass du hier bist.“ Sie zog einen Stuhl heran und setzte sich. Sie würgte den Kloß im Hals hinunter und nahm seine Hand. Er erwiderte den Druck, den sie sachte ausübte. Sie beugte sich vor und küsste ihn vorsichtig und sehr sanft auf die Stirn. Dann zog sie den Mundschutz wieder über Mund und Nase. Sie wollte ihn als frisch Transplantierten auf keinen Fall durch Bakterien gefährden.

„Dachtest du, du musst das hier allein durchstehen?“ murmelte sie zärtlich an sein Ohr. „Ich bleibe bei dir.“

Mehr brauchten sie sich nicht zu sagen. Dorothea wich nicht von seiner Seite. Als die Schwester kam, um Wolfgang mit einem feuchten Tuch das Gesicht zu erfrischen, nahm sie ihr das Tuch ab und erledigte diese kleine Tätigkeit für ihn. In regelmäßigen Abständen befeuchtete sie seine Lippen. Er küsste ihr dafür die Fingerspitzen und schenkte ihr dieses scheue Lächeln, das sie bis dahin noch nicht an ihm gesehen hatte. Irgendwann nickte sie, mit dem Kopf auf seinem Bett, im Sitzen ein. Die Krankenschwester weckte sie erst am nächsten Morgen, als die Visite vor der Tür stand. Dorothea streckte sich.

Ihr Nacken war vollkommen verspannt. Sie wollte gehen, doch Wolfgang hielt sie zurück. „So wie du hat mich noch niemand gesehen, Dorothea. Du kannst bleiben und hören, was die Ärzte sagen. Natürlich nur, wenn du möchtest.“

Er sah sie fragend an. Sie blickte in seine schönen braunen Augen und erkannte darin ein Meer an Zuneigung für sie und noch etwas anderes. Hoffnung las sie darin und sie sah sein großes Herz. Dieser Mann war fähig, mit Haut und Haar zu lieben. Die Tür ging auf. Wolfgang hielt ihre Hand. Von dem lateinischen Genuschel der Ärztegruppe verstand er nur Bahnhof, doch Dorothea hörte aufmerksam zu. An Wolfgang gewandt meinte der Oberarzt:

„Sie haben wirklich Glück gehabt, Herr Stahl. Eine Fullhouse-Niere nach nur 1,5 Jahren Wartezeit ist wie ein Sechser im Lotto. Die Operation ist gut verlaufen. Heute Mittag verlegen wir Sie auf die Normalstation.“

Sie wollten schon gehen, da fiel Wolfgang ein:

„Muss ich denn heute nicht dialysieren? Es ist Dienstag!“

Der Arzt lächelte überlegen. Dann sagte er: „Mit etwas Glück brauchen Sie in Ihrem ganzen Leben keine Dialyse mehr. Ihre Blutwerte sind schon jetzt sehr gut.“ Damit rauschte der ganze Pulk zur Tür hinaus. Sie waren allein und ein nachdenkliches Schweigen breitete sich aus. Dorotheas Gefühle fuhren Achterbahn und Wolfgang fragte sich, womit er soviel Glück verdient hatte. Dorothea sah ihn an.

„Ich freue mich für dich, Wolfgang. Ich habe mir gestern solche Sorgen gemacht, weil du nicht gekommen bist und mich nicht angerufen hast. Tu so etwas nicht wieder, okay? Sag mir einfach kurz Bescheid.“

Wolfgang wusste genau , was sie meinte. In der Aufregung nach dem Anruf hatte er nur schlicht an gar nichts anderes gedacht, als zur Klinik zu fahren. Er feixte und murmelte:

„Mein Kopf war leer, nachdem mich die Klinik angerufen hatte. Aber ich hoffe doch, dass dies hier die einzige Transplantation in meinem Leben bleibt.“ Er hatte es als Scherz gemeint, doch sie wussten beide, dass ein Körnchen Wahrheit und ein winziger Zweifel immer bleiben würde, dass die neue Niere nicht ewig funktionieren würde.

 

Sie teilten sich sein Frühstück und Dorothea ging sich später noch einen Kaffee aus dem Automaten ziehen. Wolfgang wurde wie versprochen mittags auf die Normalstation verlegt.

Gegen vierzehn Uhr klopfte es an seine Tür und Patrick Adler lugte zur Tür hinein.

„Wollte mich mal kurz zur Runde der Mundschutzträger gesellen“, witzelte er und Wolfgang grinste zurück. Er freute sich sichtlich über Patricks Besuch und bald schon zog er ihm die neuesten Ermittlungsdetails aus der Nase. Viel war es nicht und Wolfgang war enttäuscht.

„Was ist mit Eckig. Habt ihr ihn gefunden?“, wollte er wissen. Dorothea staunte. Er war doch frisch operiert und dennoch drehten sich seine Gedanken um den Fall ... Patrick druckste herum.

„Nee, wir haben ihn nicht gefunden. Er ist seit gestern zur Fahndung ausgeschrieben und ich warte auf den Durchsuchungsbeschluss für seinen Laden und die Wohnung. Das Schild hängt noch immer und in seiner Wohnung ist er bisher nicht aufgetaucht. Keine Ahnung, wohin der sich abgesetzt hat.“ Wolfgang erzählte Patrick noch einmal detailliert von seinen Beobachtungen bei der letzten Begegnung mit Eckig.

„Wir suchen den Puppentöter und da sitzt bei ihm ein Porzellanpüppchen mitten auf der Kasse. Ich hab’s schon vorher gesehen, aber irgendwie nicht wahrgenommen. Der hängt da drin, Patrick. Vielleicht ist er es sogar selbst! Ich spür’s und uns läuft die Zeit davon.“

Patrick winkte ab und zog die Nase hoch.

„Moment mal, Wolfgang. Du kommst jetzt erst mal wieder auf die Beine, klar? Bis dahin haben wir den Kerl längst geschnappt. Verlass dich drauf.“ Er wollte aufstehen, doch Wolfgang hielt ihn zurück.

„Warte, Patrick. Tu mir einen Gefallen. Fahr nochmal zu Direktor Preuß raus in die Eifel. Quetsch ihn aus über die Klasse. Wer war Streber, wer hat die meisten Strafen oder Klassenbucheinträge bekommen. Sowas alles. Darüber wissen wir noch viel zu wenig. Wirst du das tun?“

Patrick sah ihn nachdenklich an. „Du lässt nicht locker, was?“

„Nee, du kennst mich doch.“ Die große Uhr über der Zimmertür zeigte halb drei.

„Du könntest jetzt noch fahren, da sind die Straßen frei.“ Wolfgang sah unschuldig die Zimmerdecke an, so als hätte er nichts gesagt.

„Also jetzt halt mal die Luft an, ja?“, knurrte Patrick. „Ich mach das so, wie ich denke, klar?“ Wolfgangs überlegene Art nervte ihn manchmal, obwohl er wusste, dass der andere recht hatte. Wer wusste besser über die Schüler Bescheid als der Schulrektor? Lehrer kamen und gingen, ein Direktor leitete meistens viele Jahre dieselbe Schule. Sie hatten vielleicht nicht die richtigen Fragen gestellt. Wolfgang ließ sich resigniert in die Kissen zurückfallen und seufzte.

„Na klar. Mach, wie du denkst, Patrick. Ich kann erst mal gar nix machen.“

„Oh doch“, fauchte Patrick und deutete mit einem Finger auf ihn. „Du wirst gesund!“ Er betonte jedes Wort wie einen einzelnen Befehl, dann drehte er sich um und ging.

Auf dem Flur überfiel ihn ein gewaltiger Niesanfall. Krankenhäuser machten ihn allergisch. Patrick war froh, dass er es noch bis aus dem Zimmer geschafft hatte. Er schnäuzte sich geräuschvoll. Danach fühlte er sich befreit und wusste, was er unternehmen würde.

 

Im Zimmer schüttelte Wolfgang den Kopf.

„Mann, so ’ne hitzige Debatte hab ich mit Patrick noch nie gehabt. Er ist Mister Beherrschung in Person und schnauzt mich hier an. Na so was!“

Dorothea wartete darauf, dass Wolfgang sich beruhigte. Sie legte ihm vorsichtig eine Hand auf die Schulter und drückte sie.

„Wolfgang, er hat recht. Lass deine Kollegen das machen. Du hast jetzt genug mit dir zu tun. Konzentriere dich auf dich allein, okay?“ Wolfgang bedeckte seine Augen mit der Hand.

„Ja ja, ich mach immer alles allein“, sagte er lahm.

Dorothea zog sanft, aber bestimmt seine Hand weg und sagte:

„Sieh mich an, Wolfgang. Bist du jetzt allein und bin ich nicht bei dir?“ Er blickte lange in ihre wunderschönen Augen und schwieg. Dann nickte er und murmelte:

„Danke, dass du da bist.“