Missmutig verließ Patrick die Klinik. Es störte ihn, dass immer Wolfgang ansagte, was zu tun war. Dabei hatte er doch offiziell nur noch den Status eines Beraters.
„Ha, dass ich nicht lache“, dachte er auf dem Weg nach unten. Aber er kannte Wolfgangs guten Riecher, dagegen ließ sich nichts sagen. Außerdem war er der Ältere. Patrick zuckte innerlich mit den Schultern.
‚Was soll’s‘, diskutierte er weiter mit sich selbst. ‚Mehr als ein verplemperter Nachmittag und läppische 400 Kilometer Autofahrt können es ja nicht werden.‘ Anja würde sich freuen. Nach ihrer Verletzung war die eineinhalb jährige Schäferhündin, mit der er jede freie Minute auf dem Übungsplatz verbrachte, kaum zu halten. So gut wie bei ihr war ihm die Erziehung eines Hundes noch nie gelungen. Außerdem hatten ihre Haare keinen Einfluss auf seine Allergie und das wollte was heißen.
Er fuhr nach Hause und holte sie ab. Schwanzwedelnd begrüßte sie ihn und sprang mit einem geschmeidigen Satz in den Kofferraum seines Ford Kombi. Patrick fuhr schnell und kam zwei Stunden später beim Schulheim an. Das Gebäude wirkte verlassen.
„Eigentlich müssten doch hier Kinder herumspringen und Krach machen“, dachte er sich. Obwohl er selbst noch keine Familie hatte, wusste er doch, wie laut es in Schulen und Heimen vor sich ging. Er ließ Anja im Auto und fragte einen Gärtner nach dem Weg zum Direktor. Auf halbem Weg drehte er noch mal um und fragte den Mann:
„Sagen Sie mal, wo sind denn hier alle?“ Der Gärtner schaute ihn fragend an. „Na, hier ist es ja wie ausgestorben.“
„Ach so, jetzt verstehe ich, was Sie meinen. Die Kinder sind diese Woche in einem Landschulheim einer Partnerstadt in Holland, damit sie mal was anderes sehen. Sie kommen erst übermorgen wieder.“
Patrick hakte nach: „Und der Direktor? Ist der auch mitgefahren?“
Der Mann schaute in die Luft und dachte angestrengt nach. Dann schüttelte er den Kopf.
„Der fährt nie mit weg. Aber heute habe ich ihn auch noch nicht gesehen.“
„Danke auch“, sagte Patrick noch und stieg die Treppe hoch. Jetzt begriff er auch, was Wolfgang mit „heruntergekommen“ gemeint hatte. Die gesamte Anlage war dringend sanierungsbedürftig. Er klopfte an die Tür mit Aufschrift „Direktor Preuß“. Keine Antwort. Er drückte vorsichtig die Türklinke herunter. Das Büro war leer. Patrick schaute sich um. Über der Lehne des Schreibtischsessels hing ein Jackett. Nachdenklich trat Patrick an den Schreibtisch. Die Tischplatte musste bei Wolfgangs Besuch hier sorgfältig aufgeräumt gewesen sein. Er hatte von geradezu pedantischer Ordnung berichtet. Solche Details waren in ihrem Job wichtig und Patrick hatte es sich gemerkt.
Jetzt stand eine halb leere Kaffeetasse da und aufgeschlagene Hefte waren quer über den Tisch verstreut. Es sah aus, als wäre Direktor Preuß bei der Arbeit gestört worden und hätte keine Gelegenheit mehr gehabt, für Ordnung zu sorgen. Patrick befühlte mit dem Fingerrücken die Kaffeetasse. Sie war kalt.
„Merkwürdig“, dachte er. „Das hier passt so gar nicht zu unserem Herrn Direktor Oberordentlich. Wo ist der denn hin?“ Er ging zum Fenster und sah hinaus. Hinter dem Gebäude begann ein dichter Wald. Patrick erinnerte sich an Anja, die im Kofferraum wartete. Dies war eine gute Gelegenheit, mit ihr spazieren zu gehen. Wenn er schon sonst nichts erreicht hatte, dann doch mindestens eine Tüte frische Luft geschnappt und ein paar Schritte gelaufen. Vielleicht wäre ja bis zu seiner Rückkehr der Direktor wieder zurück. Unten fragte er nochmal den Gärtner:
„Sagen Sie mal, wissen Sie, wann Herr Preuß zurückkommt oder wo er hinwollte?“ Der Gärtner fuhr fort, das Laub aufzuharken und schnaubte.
„Sie glauben doch nicht, dass der feine Herr mir sagt, wo er hinwill. Ich hab keine Ahnung.“
„Gut. Danke.“ Patrick ließ ihn stehen und öffnete den Kofferraum. Anja kam mit einem Satz herausgesprungen und setzte sich auf ein leises Kommando hin neben ihn. Erwartungsvoll fegte ihr buschiger Schwanz hin und her. Er nahm sie an die Leine und verließ das Schulgelände in Richtung Wald. Es war ein dichter Laubwald und Patrick sog tief den Duft nach feuchtem Waldboden und Blättern ein. Der Wald war einer von den wenigen Orten, wo ihn seine Allergie überhaupt nicht plagte. Anja schnüffelte aufgeregt das neue Terrain ab und markierte, wo sie konnte. Gut gelaunt ließ Patrick sie von der Leine ab. Nachdem sie etwa eine Viertelstunde lang einem kleinen Pfad gefolgt waren, schlug Anja an. Sie war darauf getrimmt, nicht zu bellen, wenn sie Witterung aufnahm. Die Hündin blieb nur stehen und knurrte leise. Ihre Nackenhaare stellten sich bis zum Anschlag auf und sie fletschte die Zähne.
Patrick nahm sie wieder an die Leine und flüsterte ihr beruhigende Worte ins Ohr. Er bewegte sich jetzt langsam und vorsichtig. Anjas Verhalten deutete auf die Witterung von Menschenblut. Sie war zwar noch jung und Patrick nicht sicher, ob sie richtig anschlug, doch ihr Verhalten versetzte ihn in höchste Alarmbereitschaft.
Er blieb stehen und horchte. In einiger Entfernung hörte er eine Männerstimme. Behutsam näherte er sich. Dabei bemühte er sich, nicht auf Zweige am Boden zu treten, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Jetzt konnte er bereits die Worte verstehen, die der Mann von sich gab. Er war offenbar nicht allein, doch hörte Patrick nur eine Person sprechen.
„Du Schwein“, zischte der Mann. Ratsch! Ein gedämpftes Stöhnen war zu vernehmen.
„Du musst es gewusst haben. Ich konnte manchmal nur kriechen vor Schmerz.“ Ratsch! Wieder das Stöhnen. Ein furchtbares Geräusch. Patrick konnte noch nichts erkennen und schlich näher.
„Ich hab dich um Hilfe gebeten! Und du? Du hast mich verspottet. Für einen Simulanten gehalten, was weiß ich. Nur weil ich so klein und mager war. Kein Wunder. Wusstest du das hier: Die anderen von deinen tollen Jungs, wie du sie immer genannt hast, sie haben mir regelmäßig alles weggegessen. Und weil ich zu spät zum Unterricht kam, wenn ich mir Essen stibitzt habe, um nicht zu verhungern, hat mir die Meier noch mit dem Lineal eins über die Finger gezogen. Die hat erst am Ende begriffen, was es heißt zu hungern.“
Patrick vernahm ein gedämpftes Wimmern. Er war lautlos noch ein Stück näher herangeschlichen. Anja klebte an seiner Seite mit aufgestellten Nackenhaaren und gab keinen Mucks von sich.
Vorsichtig bog er ein paar Zweige auseinander und musste sich auf die Zunge beißen, damit ihm nicht ein Laut der Überraschung und des Abscheus herausrutschte. Auf einer kleinen Lichtung stand eine kräftige Buche. An dem Baum war der Schuldirektor, nur mit Unterhose bekleidet, kopfüber an den Füßen aufgehängt worden. Preuß blutete aus mehreren Schnittwunden an Rücken und Beinen. Er baumelte wie ein riesiges Stück Obst hin und her, weil er versuchte, sich zu wehren und aus seinen Fesseln zu winden. Sein Gegner hatte ihn fest geknebelt. Womit, konnte Patrick nicht erkennen. Nur dass aus seinem Mund ebenfalls Blut rann.
Vor dem Direktor stand mit gezücktem Messer ein mittelgroßer, muskulöser Mann mit kurz geschnittenem Haar. Von der Messerspitze tropfte Blut. Mit einer blitzschnellen Bewegung, zog er dem Gefesselten das Messer quer über die nackte Wade. Preuß zitterte vor Schmerz. Während Patrick noch die Situation erfasste, begann der Mann wieder, höhnisch auf den Direktor einzureden.
„Und, wie fühlt sich das an, so da zu hängen und nicht zu wissen, was als Nächstes kommt? Weißt du, wie oft sie mich hier an Armen oder Füßen aufgehängt haben und dann weggegangen sind? Ich wusste manchmal nicht, wie viele Stunden ich hier hing, bevor sie mich prügelten, peitschten oder ritzten. Willst du es sehen?“
Der Direktor grunzte unverständlich und zappelte, während der Mann seinen Pullover hochzog und sich umdrehte. Der Direktor versuchte durch seinen Knebel hindurch etwas zu sagen, brachte aber nur ein unverständliches Grunzen zustande. Rasch ließ Patrick die Blätter los, damit der andere ihn nicht entdeckte. Er erhaschte noch einen Blick auf dessen breites Kreuz mit der verunstalteten, narbigen Haut. Mein Gott, dachte Patrick. Ich bin allein hier und der Direktor in Lebensgefahr. Also los. Langsam zog er seine Waffe aus dem Holster. Er spürte das Adrenalin durch seine Adern rauschen. In dem Moment, als der Mann sich wieder dem Direktor zuwandte, sprang Patrick zwischen den Ästen durch auf die Lichtung und rief:
„Polizei, Hände hoch!“
Beide erstarrten. Dann breitete sich ein Lächeln auf dem Gesicht von Andreas Eckig aus. Seine Arme hingen weiterhin schlaff neben seinem Körper. Verächtlich meinte er zu Patrick:
„Ah, die Polizei! Zur rechten Zeit am rechten Ort, wie?“
„Ich sagte: Hände hoch!“, brüllte Patrick nochmal. Die folgenden Bewegungen liefen in albtraumhafter Langsamkeit ab. Eckig machte eine schnelle Bewegung auf den Direktor zu und Patrick schoss. Er traf Eckig in den Oberschenkel. Von der Wucht des Treffers wurde Eckig von den Beinen gerissen und fiel. Plötzlich war es still und Patrick hörte nur noch seinen eigenen, stoßweise gehenden Atem. Etwas stimmte nicht.
„Ich habe Eckig erschossen!“, dachte er blitzartig. „Dabei hatte ich auf seinen Oberschenkel gezielt.“ Er schrie gar nicht. Patrick hielt die Pistole mit beiden Händen fest und ging langsam auf ihn zu. Ein Blick auf Preuß sagte ihm, dass für den Direktor jede Hilfe zu spät kommen würde. Eckig hatte es noch geschafft, ihm mit einem letzten Schnitt die Halsschlagader zu durchtrennen. Preuß pendelte nach seinen letzten Zuckungen noch leicht hin und her. Sein Blut lief ihm über das Gesicht und tropfte an der Schläfe entlang nach unten. Das Laub unter ihm war rot getränkt. Er röchelte noch leise, dann wurde auch er still. Preuß war tot. Ein schauriger Anblick. Patrick spürte seinen rasenden Puls in den Ohren klopfen.
Was war mit Eckig? Das war sein erster Schuss auf einen Menschen gewesen. Er hatte ihn nicht töten wollen, dessen war er sich sicher. Langsam ging er mit gezogener Waffe auf ihn zu. Eckig lag auf dem Rücken. Das große Jagdmesser war weit genug von ihm weg gelandet, sodass er es nicht erreichen konnte. Patrick erkannte mit einem Schaudern das Einschussloch am rechten Hosenbein, aus dem Blut in kleinen Pulswellen strömte. Also hatte er ihn doch ins Bein getroffen. Der Mann musste stärkste Schmerzen haben, doch er gab keinen Ton von sich. Seine Augen waren weit offen und blickten hoch ins Blätterdach.
„Ein schöner Tag, um zu sterben, finden Sie nicht?“, sagte er leise zu Patrick. Der steckte die Waffe ein und fackelte nicht lange. Routiniert legte er Eckig Handschellen an. Dann nahm er seine Krawatte ab und legte sie wie eine Staubinde um Eckigs Oberschenkel. Er knotete zu, bis das Blut aufhörte zu fließen. Dann atmete er tief ein. Er fuhr Anja über den Kopf und sprach mehr zu sich selbst und ihr als zu Eckig:
„Ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes wegen Mordes an diesem Mann sowie mutmaßlich vier weiteren Personen.“ Da fiel sein Blick auf einen kleinen Gegenstand, der an einem kleineren Ast unter dem toten Preuß hing. Patrick ging darauf zu und stöhnte leise. Die letzte Porzellanpuppe baumelte dort an einem Füßchen aufgehängt mit dem Kopf nach unten.
„Es ist vorbei“, murmelte Patrick. Dann nahm er sein Handy heraus und wählte den Notruf. Erschöpft setzte er sich in einiger Entfernung von Eckig ins Gras. Seine treue Hündin blieb neben ihm. Er wuschelte ihr durch das glänzende Fell und flüsterte: „Gut gemacht!“ Als Nächstes schrieb er eine SMS an Wolfgang:
„Du hattest recht. Es war Eckig. Ich habe ihn.“