11. KAPITEL

Die Decke wurde so heftig von Starflight heruntergerissen, dass er von seinem Schlafplatz rollte und auf den Boden stürzte. Für einen Moment drehte sich alles in seinem Kopf, doch sein erster Gedanke war, dass er froh war, den Traumbesucher am Abend vorher versteckt zu haben.

»Steh auf«, knurrte Morrowseer. Sein Atem war an diesem Morgen noch schlimmer als sonst. Jedenfalls ging Starflight davon aus, dass es Morgen war, obwohl der Himmel kaum heller war als in der Nacht.

Hinter dem riesigen Nachtflügler standen Flame und Ochre, die Starflight finster anstarrten. Er hoffte, dass die beiden die Nacht im Kerker verbracht hatten.

Fatespeaker kam angerannt, um sich ihnen anzuschließen, gefolgt von Viper und Squid, die erheblich langsamer waren. Überall in der Schlafhöhle steckten Nachtflüglerdrachlinge die Köpfe aus ihren Decken und spähten zu ihnen herüber. Fiereceteeth sah ausgesprochen neidisch aus; aus ihrer Schnauze drangen kleine Rauchwolken und ihr Schwanz zuckte wütend.

Morrowseer würdigte die anderen Drachlinge keines Blickes. »Wir gehen«, befahl er. Als er sich umdrehte und aus dem Raum stürmte, hätte er Starflight beinahe mit seinem Schwanz umgeworfen.

»Wo gehen wir hin?«, fragte Fatespeaker fröhlich. Sie schien die Nachricht verdaut zu haben, dass entweder sie oder Starflight getötet werden sollte.

»Ich will herausfinden, ob es sich lohnt, noch mehr Zeit für euch aufzuwenden«, erwiderte Morrowseer. »Einige Drachen sind der Meinung, dass wir euch einsperren sollten, bis das Problem mit den Regenflüglern gelöst ist. Aber ich glaube, ihr braucht so viel Training wie möglich und das so schnell wie möglich. Und deshalb werdet ihr heute noch einen Test machen.«

»Einen Test?«, wiederholte Starflight, während er mit den Flügeln schlug. »Was für ein Thema? Wir hatten keine Zeit zu lernen! Sollten wir nicht zuerst das Material sichten?«

Morrowseer warf einen Blick über die Schulter und sah Starflight an. »Manchmal fällt es mir wirklich schwer, dich nicht zu beißen.«

Das ist nicht fair, dachte Starflight, aber er beschloss, nichts weiter zu sagen. In der Regel schnitt er bei Tests ziemlich gut ab. Vielleicht bekam er jetzt endlich einmal die Chance, sich seinen Platz in der Prophezeiung zu verdienen. Vor allem, wenn es um Geschichte geht. Ich habe jede Schriftrolle über Geschichte mehrmals gelesen.

Ihm fiel auf, dass Flame ihn immer noch vorwurfsvoll anstarrte. Starflight bewegte sich unauffällig ein Stück von ihm weg, sodass Fatespeaker jetzt zwischen ihm und dem feindseligen Himmelsflüglerdrachling ging.

Die sechs folgten Morrowseer, bis sie schließlich einen Teil der Festung erreichten, dessen Dach auf den kleinen Inselwald hinausging. Morrowseer breitete die Flügel aus und starrte mit zusammengekniffenen Augen in den dunkelgrauen Himmel, über den in einiger Entfernung Blitze zuckten. Es sah aus, als würden die Wolken ins Meer regnen. Ein Sturm auf hoher See, dachte Starflight.

Ihn schauderte, als er sich an den Sturm erinnerte, der fast die Höhle im Königreich des Meeres überflutet hatte. Clay war an die Wand gekettet gewesen, und Glory und Sunny fest entschlossen, ihn nicht allein zu lassen. Wenn Tsunami nicht gekommen wäre, hätten sie vermutlich entschieden, gemeinsam mit ihm zu ertrinken. Starflight war sich nicht sicher, ob er das Gleiche getan hätte. Er hatte viel zu viel Angst gehabt, um etwas zu sagen, und hatte schweigend zugesehen, wie das Wasser immer höher gestiegen war.

»Bleibt in meiner Nähe«, knurrte Morrowseer. Er stieß Starflight eine Kralle in den Nacken. »Keine Alleingänge.«

Und dann schwang er sich ohne jede weitere Erklärung oder Anweisung in die Luft.

Es dauerte einen Moment, bis Starflight begriff, dass sie die Insel verließen. Zurück aufs Festland? Er hob ab und folgte dem riesigen Nachtflügler, während sein Herz vor lauter Hoffnung laut klopfte.

»Warte«, jammerte Squid, während er Morrowseer hinterherflatterte. »Wir haben noch nicht mal gefrühstückt. Du willst doch nicht, dass ich mit leerem Magen fliege, oder? Dann werde ich nämlich sterben. Ich werde wirklich sterben

»Wirst du nicht, jedenfalls nicht gleich«, erklärte ihm Starflight. »Laut Naturgeschichte der unnatürlichen Drachenfähigkeiten können die meisten Drachen bis zu einem Monat überleben, ohne etwas zu fressen, wenn es sein muss.«

»Hört euch den Schriftrollenwurm an«, warf Flame gehässig ein. »Was für ein schlaues Kerlchen.«

»Ich werde niemals nie einen ganzen Monat lang nichts fressen«, meinte Ochre energisch.

»Gehört es zu diesen ›unnatürlichen Fähigkeiten‹, eine Nervensäge zu sein?«, fragte Viper. »Dann müsste nämlich ein ganzes Kapitel nur dir und Fatespeaker gewidmet sein.«

»Du kennst mich doch gar nicht«, protestierte Starflight. »Ich wollte nur helfen.«

»Ich finde das interessant«, sagte Fatespeaker. »Und möglicherweise sehr nützlich, wenn die Nachtflügler uns weiterhin mit dem grauenhaften Zeug füttern wollen, das sie uns bisher gebracht haben.«

»Oh, diesbezüglich habe ich eine Theorie entwickelt.« Als sie über den Wald und dann aufs Meer hinausflogen, erklärte ihr Starflight die Jagdmethoden der Nachtflügler, seine Thesen zu den Bakterien in ihren Mäulern, und dass er und Fatespeaker diese vermutlich nicht hatten, da sie damit groß geworden waren, lebende oder erst kurz vorher getötete Beute zu fressen, und deshalb im Gegensatz zu den auf der Insel aufgewachsenen Nachtflüglerdrachlingen diese Bakterien nicht hatten entwickeln können.

»Wow«, hauchte Fatespeaker, die von dem Thema anscheinend völlig fasziniert war.

»Ist das der Test?«, erkundigte sich Viper. »Wir müssen dir so lange wie möglich zuhören, ohne dabei vor lauter Langeweile zu sterben?«

»Mit dir redet doch niemand, Viper«, fuhr Fatespeaker den Sandflügler an. »Geh Squid ärgern und lass Starflight in Ruhe.«

Starflight starrte auf die Wellen unter ihm. Die Insel verschwand langsam hinter ihnen und war nur noch als rotes Glühen am Himmel zu sehen. Vor ihnen lag nichts als Wasser, bis zum weit entfernten Horizont. Er hatte keine Ahnung, wie Morrowseer den Weg fand – es gab keine Orientierungspunkte und der Himmel war immer noch hinter dicken Wolken verborgen.

Ich sollte aufpassen, damit ich den gleichen Weg fliegen kann, wenn ich eine Chance zur Flucht bekomme.

Eigentlich wäre es das Beste, wenn er sich aus dem Staub machte, sobald sie das Festland erreicht hatten. Flieg einfach weg. Versteck dich. Versuch, wieder in den Regenwald zu kommen.

Nicht in einer Million Jahren konnte er sich vorstellen, so etwas ganz allein zu tun. Vielleicht mit Tsunami, Clay, Glory und Sunny zusammen, aber allein? Vermutlich war es bei Weitem nicht so gefährlich, bei den Nachtflüglern zu bleiben und zu hoffen, dass jemand kam und ihn rettete.

Es begann zu regnen. Oder genauer gesagt, sie erreichten den Rand des Sturms. Plötzlich wurde Starflight klar, dass Morrowseer vorhatte, direkt hindurchzufliegen.

»Meine Flügel werden nass«, jammerte Squid.

»Ooooooh, armer, kleiner Meeresflügler«, spottete Flame.

Starflight nahm sich vor, nichts zu sagen, aber der Regen ließ seine Flügel immer schwerer werden, sodass er Mühe hatte, vorwärtszukommen. Seine Flugmuskeln waren sowieso nicht die stärksten – wenn man in einer Höhle aufwuchs, hatte man eben nicht viel Gelegenheit zum Üben. Er biss die Zähne zusammen und flog weiter. Wenn das der Test war, wollte er auf keinen Fall versagen. Er würde fliegen, bis seine Flügel versagten, und er würde sich nicht anmerken lassen, wie sehr es wehtat.

Denk an Sunny. Denk daran, der Drache zu sein, der du für sie sein willst.

Als das Wasser immer näher kam, wusste er, dass er an Höhe verlor. Der Regen wurde immer stärker; er prasselte auf seine Schuppen und machte es fast unmöglich, Ochre zu sehen, der direkt vor ihm flog. Morrowseer war ein dunkler Fleck in den Wolken. Starflight hoffte, dass er ihn nicht aus den Augen verlor. Er hoffte, dass Morrowseer nicht versuchte, sie abzuhängen, denn bei diesem Wetter würde das nicht sehr schwierig sein.

Ein Blitz zuckte zischend über den Himmel, unmittelbar gefolgt von dem lautesten Donnerschlag, den Starflight je gehört hatte. Als die Schwingungen ihn erreichten, schüttelte es ihn von den Hörnern bis zu den Klauen durch.

Ich hoffe, wir sind bald da. Ich hoffe, wir sind bald da.

Als er die Regentropfen wegblinzelte, wurde ihm plötzlich klar, dass der Himmel vor ihm leer war.

Wo sind die anderen?

Einen schrecklichen Moment lang hatte er jede Orientierung verloren.

Dann tauchte Fatespeaker an seiner Seite auf und stupste seinen Flügel an. »Da unten!«, brüllte sie gegen den Wind an.

Was aussah wie ein kleiner Klecks im Wasser, stellte sich als winzige Felseninsel heraus. Morrowseer und die anderen hockten bereits dort unten. Starflight landete unbeholfen neben Squid, der die Flügel über den Kopf hielt und etwas vor sich hin brummelte.

»Die Hälfte hätten wir geschafft!« Fatespeaker grinste ihn an.

Erst die Hälfte! Starflights gute Vorsätze wankten und er starrte nach unten auf seine Krallen. Er war so erschöpft, dass er keine einzige der vielen Fragen stellte, die ihm durch den Kopf schossen. Wie hatten die Nachtflügler ihre Insel überhaupt gefunden, wenn sie so weit vom Festland entfernt war? Wie oft waren sie auf dem Festland? Benutzten sie für ihre Besuche normalerweise den Tunnel in den Regenwald oder flogen sie übers Meer wie jetzt eben?

Er vermutete, dass sich die meisten von ihnen für den Tunnel entscheiden würden, wenn man ihnen die Wahl ließ, anstatt den beschwerlichen Flug zu riskieren.

Morrowseer ließ sie eine Weile ausruhen, sagte aber kein Wort. Seine dunklen Augen starrten alle finster an und hin und wieder warf er einen Blick zurück in Richtung des Vulkans.

Viel zu bald stand er auf, sagte »Los!« und dann flogen sie wieder alle.

Regen. Donner. Schmerzende Flügel. Regentropfen in Starflights Augen nahmen ihm die Sicht. Blitze zuckten viel zu nah an seinem Schwanz vorbei.

Ganz plötzlich war das Festland vor ihnen aufgetaucht; Starflight hatte es durch die Wolken und den Regen hindurch nicht erkennen können. Jetzt sah er eine raue Küste vor sich, mit hohen, zerklüfteten Klippen, die steil ins Meer abfielen. Dahinter ragten spitze, zum Teil mit Schnee bedeckte Berggipfel auf, die Drachenzähnen ähnelten und sich zu einer endlosen Linie am Horizont ausbreiteten.

Das Wolkengebirge.

Starflight verließ der Mut. Er hatte gehofft, dass sie in der Nähe der Südküste und des Regenwaldes waren, aber das hier musste Pyrrhias Grenze im Norden sein, wo die Himmelsflügler herrschten. Zu nah an Königin Scarlets Palast. Zu weit für ihn, um zu seinen Freunden zurückzufliegen … Es würde Tage dauern und er würde ganz allein durch das Königreich des Himmels und das Königreich der Erde reisen müssen.

Es tut mir leid, Sunny. Ich kann es nicht. Ich kann den Weg zu dir zurück nicht finden.

Seine Flügel fühlten sich wie Gletscher an, langsam, schwer und hinderlich, als er Morrowseer und den anderen bei strömendem Regen zu der Klippe vor ihnen folgte. Seine Krallen kratzten über blanken Fels, als er landete, dann beugte er sich vor und rang keuchend nach Luft.

Squid warf sich flach auf den Rücken und stöhnte vor Schmerz, Ochre dagegen fing sofort an, die Felsen abzuschnüffeln, als hoffte er, etwas aufzuscheuchen, das sich fressen ließ. Flame war der einzige Drachling, der nicht außer Atem war.

Als Starflight den Kopf hob, fiel ihm auf, dass Morrowseer wieder das Meer hinter ihnen absuchte. Plötzlich hatte er eine Art Eingebung, die aber keinen Sinn ergeben wollte.

»Könnte es sein … dass uns jemand folgt?«, fragte er Morrowseer.

»Das geht dich gar nichts an«, erwiderte der Nachtflügler. Er breitete die Flügel aus und zeigte die Küste hinunter. Wegen des tobenden Sturms konnte Starflight kaum erkennen, dass aus einer Höhle in der steilen Felswand der Schein eines Feuers drang.

»Was ist das?«, fragte Fatespeaker.

»Der äußerste Vorposten der Himmelsflügler«, erklärte Morrowseer. »Die Soldaten sollen das Königreich vor Attacken aus dem Norden schützen, falls Königin Glacier sich je dazu entscheiden sollte, den Palast von dieser Seite aus anzugreifen. Es gibt meilenweit keine anderen Drachen. Das ist euer Test.«

Sie starrten ihn verständnislos an.

»Und was ist der Test?«, fragte Starflight schließlich. Der Wind trug seine Stimme mit sich fort.

»Du willst, dass wir sie töten«, vermutete Viper. Sie wölbte ihren giftigen Schwanz und ließ die Krallen spielen. »Alle?«

»Ich will aber nicht«, quengelte Squid. »Was ist, wenn mich jemand beißt?«

»Wenn du jetzt nicht sofort das Maul hältst, beiße ich dich«, sagte Flame. Er sah tatsächlich tief bestürzt aus, als hätte er nie damit gerechnet, dass man ihm befehlen würde, Angehörige seines eigenen Stammes zu töten. Starflight fragte sich plötzlich, wo die Eltern der Drachlinge waren, und ob sie von ihrem Zuhause und ihrer Familie träumten, so wie er und seine Freunde früher.

»Nein, ihr seid nicht hier, um sie zu töten«, fuhr Morrowseer sie an. »Ihr seid die Drachlinge der Vorsehung, schon vergessen? Euer Test besteht darin, dass ihr euch auch so verhalten sollt.« Er wies auf die Höhle in der Felswand. »Ihr geht da rein, sagt den Wachen, dass ihr die echten Drachlinge aus der Prophezeiung seid, und überredet sie, Burn die Gefolgschaft aufzukündigen und sich Blister anzuschließen.«

Während des darauf folgenden schockierten Schweigens kam ein orkanartiger Wind auf, der versuchte, sie alle von der Klippe zu wehen. Starflight grub die Krallen in den Boden und machte sich so klein, wie er nur konnte.

»Einfach … überreden«, brüllte Viper in Morrowseers Richtung. Regentropfen spritzten, als sie den Kopf schüttelte. »Einen Haufen fremder Himmelsflügler. Anstatt sie zu töten, sollen wir also reingehen und sie bitten, uns zu töten.«

»Ich sehe voraus, dass das ganz, ganz böse enden wird«, schrie Fatespeaker gegen den Wind an.

»Ich auch«, brüllte Ochre. »Vielleicht habe ich ja auch ein paar von diesen besonderen Nachtflüglerfähigkeiten.«

»Sie werden mich umbringen!«, kreischte Squid. »Meeresflügler und Himmelsflügler sind Feinde! Wenn du mich da hinschickst, bin ich tot!«

Der Ausdruck auf Morrowseers Schnauze ließ darauf schließen, dass ihn das nicht sonderlich erschüttern würde.

»Wenn ihr das nicht überleben könnt«, knurrte er, »seid ihr für die Prophezeiung sowieso nutzlos.« Er wies auf Fatespeaker. »Du bleibst hier. Dieses Mal will ich sehen, wie sich der da schlägt.« Er zeigte mit einer Kralle auf Starflight.

Starflight wäre am liebsten mit den Felsen hinter sich verschmolzen oder hätte sich von der Klippe ins Meer gestürzt. Dann fragte er sich, wie weit er wohl kommen würde, wenn er jetzt versuchte, in die Berge zu flüchten. Konnte die Reise zum Regenwald schlimmer sein, als in eine Höhle voller Himmelsflüglerwachen zu marschieren und sich als einer der Drachlinge zu erkennen zu geben, die Königin Scarlet vor Kurzem abhandengekommen waren?

»Werden sie uns denn nicht sofort gefangen nehmen?«, fragte er Morrowseer. »Und uns wieder in den Palast des Himmels bringen?«

»Nicht, wenn ihr überzeugend genug seid.« Morrowseer fletschte die Zähne. »Und jetzt geht.« Er spuckte eine Stichflamme auf Squid, der es nur knapp schaffte, zur Seite zu springen.

»Ich will aber nicht«, beschwerte sich Squid wieder, aber Viper und Flame schubsten ihn bereits über den Rand der Klippe. Ochre flog ihnen nach und Starflight bildete widerstrebend die Nachhut.

Als er einen Blick zurückwarf, sah er Fatespeaker, die sich in ihre Flügel gekuschelt hatte und neben Morrowseers gewaltigem Körper klein und verloren aussah. Er hoffte, dass seine Freunde sie als den neuen Nachtflügler willkommen heißen würden, wenn es ihn nicht mehr gab.

Ich werde sterben, dachte er, und ich werde Sunny nie sagen können, dass ich sie liebe. Ich werde sterben, ohne die Welt zu retten, ohne den Krieg zu beenden … ohne jemals etwas Mutiges in meinem Leben getan zu haben.