24. KAPITEL
Zwei Stunden später war Königin Glorys Armee auf dem Vormarsch.
Die Sonne versank gerade hinter den Bäumen.
Starflight stemmte die Krallen in die feuchte Erde am Bach und versuchte, seine Angst zu unterdrücken. Auf der Lichtung herrschte emsige Geschäftigkeit, aber da die meisten der anwesenden Drachen getarnt und damit unsichtbar waren, stieß Starflight immer wieder mit Hindernissen zusammen, die aussahen wie Luft.
Tsunami versuchte, die Regenflügler dazu zu bringen, sich ihr gegenüber aufzustellen und das Maul zu halten, damit sie vor der Schlacht eine mitreißende Rede halten konnte. Die Tatsache, dass sich das als äußerst schwierig herausstellte, war kein gutes Anzeichen für den Angriff, dachte Starflight beunruhigt.
»Starflight«, sagte Glory, die neben ihm sichtbar wurde. Ihre Schuppen wechselten ständig die Farbe, von Dunkelgrün zu einer Art besorgtem Hellblau und zurück. »Alles in Ordnung mit dir?«
»Ich glaube schon«, erwiderte Starflight. Er trat von einer Klaue auf die andere. »Du weißt ja. Nervös.«
»Willst du hierbleiben?«, fragte sie ihn leise. »Ich hätte vollstes Verständnis dafür.«
»Nein!«, rief Starflight. »Ich meine, ich sollte nicht. Ich kann nicht.« Er warf einen Blick auf Sunny, die Stapel aus Schlafpfeilen in kleine Beutel steckte, damit die Regenflügler sie um den Hals tragen konnten. Sie hatte keine der Waffen, über die die anderen Drachen verfügten – kein Gift, keine Tarnfarben, keine feuerfesten Schuppen wie Clay, nicht einmal den giftigen Schwanzstachel, den ein Sandflügler eigentlich haben sollte. Er würde sie nie ohne ihn in den Kampf ziehen lassen. Zurückbleiben, während sich seine Freunde in Gefahr begaben? Wie würde sie ihn jemals lieben können, wenn er sich dafür entschied? »Ich verspreche, dass ich keine Angst haben werde.«
»Es ist ganz normal, Angst zu haben«, erwiderte Glory. »Ich habe auch Angst. Du wärst verrückt, wenn du keine hättest – na ja, verrückt oder Tsunami, was ja eigentlich ein und dasselbe ist. Du musst die Angst einfach unterdrücken und das tun, was getan werden muss. Aber ich habe gemeint, willst du hierbleiben, weil wir gegen deinen Stamm kämpfen? Wenn es zu viel verlangt ist, kann ich das gut verstehen.«
»Die Nachtflügler sind nicht mein Stamm«, meinte Starflight. »Das seid ihr. Du und Sunny und Tsunami und Clay.«
»Starflight, du bist einfach hoffnungslos«, sagte sie, aber als ihre Flügelspitzen rosa wurden, wusste er, dass Glory genauso dachte, auch wenn sie es nicht laut sagte. »Na dann komm.« Sie schlug ihm auf die Schulter, eine Geste der Zuneigung, die bei ihr sehr selten vorkam, da sie Körperkontakt nicht mochte. »Lass uns die Welt retten.«
Sie hüpfte zur Tunnelöffnung und rief mit einem Schwanzschnalzen die erste Welle von Regenflüglern zu sich. Die Drachen drängten sich zusammen und lauschten auf ihre Befehle.
Starflight sah sich wieder nach Sunny um.
Vielleicht sterbe ich heute.
Und was, wenn ich heute sterbe, ohne ihr gesagt zu haben, was ich für sie empfinde?
Starflight hob seine Schnauze der untergehenden Sonne entgegen. Er hatte die Wachen der Nachtflügler getäuscht. Er war von der Insel der Nachtflügler entkommen. Dann würde er es doch wohl schaffen, drei Wörter zu einem Drachen zu sagen.
Als er wieder nach unten sah, stand Sunny direkt vor ihm. Sein Herz krampfte sich zusammen, als würde es jemand zwischen die Klauen nehmen und zudrücken.
»Es wird alles gut gehen«, sagte sie zu ihm, während sie ihre Flügel ausschüttelte. »Denk einfach an die Prophezeiung. Schließlich müssen wir ja am Leben bleiben, um die Prophezeiung zu erfüllen, oder? Deshalb können wir heute gar nicht sterben. Ist das nicht tröstlich?«
»Ich wünschte, ich hätte deinen Optimismus«, erwiderte er lächelnd.
»Das ist kein Optimismus«, wandte sie ein. »Das ist Glaube. Es gibt einen Grund für unser Dasein. Was wir heute tun, ist Teil davon, aber es gibt noch mehr, und wir müssen überleben, damit das alles wahr werden kann.« Von ihrem Lächeln wurde ihm ganz kribbelig unter den Schuppen.
»Sunny«, begann er schließlich zögernd. »Es gibt da etwas … ich meine … da ist etwas, was ich dir sagen will. Schon lange.«
»Ich höre.« Sie legte den Kopf schief.
Jenseits der Lichtung schlug Glory mit den Flügeln und wartete darauf, dass die Drachen verstummten. Jetzt oder womöglich nie, abhängig davon, was heute geschah.
»Ich liebe dich«, platzte er heraus.
Sunny blinzelte. Dann blinzelte sie noch ein paarmal. »Das … das tue ich auch, Starflight.«
»Nein«, sagte er. »Ich meine … ich meine, du bist alles, woran ich denken kann, und ich will immer in deiner Nähe sein, und es tut weh, wenn du nicht bei mir bist, und bei allem, was ich tue, denke ich, was würde Sunny wollen, dass ich tue? Und ich glaube, du bist der einzige Drache, der mich so sieht, wie ich wirklich bin, und mich trotzdem mag …« Plötzlich musste er an Fatespeaker denken. Einen Moment später entdeckte er sie jenseits der Lichtung neben Glory. Der kleine Nachtflügler beobachtete die Königin mit weit aufgerissenen Augen und hoch erhobenem Kopf. Aber seine Gefühle für sie und seine Gefühle für Sunny … nein, das konnte einfach nicht dasselbe sein.
»Und ich musste es dir einfach sagen«, redete er hastig weiter, »für den Fall, dass heute einem von uns etwas passiert, aber wenn dir etwas passiert, weiß ich gar nicht, ob ich noch atmen oder denken oder jemals noch irgendetwas tun könnte.«
»Du meine Güte, Starflight, hör auf«, bat Sunny schnell. »Das … jetzt … wie soll ich denn etwas sagen, geschweige denn das Richtige, wenn wir … wenn alles …« Sie breitete hilflos die Flügel aus und zeigte auf die vielen Regenflügler um sie herum.
»Schon in Ordnung«, erwiderte Starflight, und ihm wurde klar, dass er es auch so meinte. »Sag nichts. Du brauchst nichts zu sagen. Ich wollte nur, dass du es weißt, nur für den Fall.«
Sie runzelte die Schnauze, als würde sie ihm widersprechen wollen, doch er schlang schnell den Schwanz um ihren und starrte angestrengt auf ihre Klauen, die im Schlamm der Uferböschung versanken.
»Versprich mir nur, dass dir nichts passiert«, sagte er.
»Ich werde in dieser Schlacht fast nichts zu tun haben«, stellte sie energisch fest. »Du versprichst mir, dass dir nichts passiert.«
Starflight machte das Maul auf und gleich wieder zu, während er wünschte, er könnte es versprechen und sein Versprechen auch halten.
»Eben«, meinte Sunny. »Also hör auf, wie eine Schriftrolle zu reden, und sag einfach, dass wir uns bald wiedersehen, okay?«
»Wir sehen uns bald wieder«, sagte er, und für einen Moment glaubte er das auch, weil sie sich so sicher war.
»Viel Glück. Tritt einem Nachtflügler von mir in den Hintern«, rief sie, als Starflight gehen wollte. Dann zog sie ihn für eine schnelle Umarmung an sich, und einen Moment später wurde ihm wie durch einen Nebel klar, dass er dabei war, zu Glory zu laufen.
Ich habe es getan. Ich habe es ihr gesagt. Und die Welt dreht sich weiter.
Die Königin der Regenflügler breitete noch einmal ihre Flügel aus und dieses Mal wurde es tatsächlich still auf der Lichtung.
»Ihr wisst, dass ich nicht gerne Reden halte«, sagte Glory, »daher werde ich mich kurz fassen. Wir werden die gefangenen Regenflügler retten und wir werden den Regenwald beschützen. Das werden wir wie echte Regenflügler tun. Und versucht um der Monde willen, weder zu reden noch zu niesen noch einzuschlafen, wenn wir im Tunnel sind, okay?«
Sie drehte sich zu dem Drachen, der neben ihr stand. Es dauerte einen Moment, bis Starflight Glorys Bruder Jambu erkannte; seine Schuppen leuchteten nicht wie sonst in einem kräftigen Rosa, sondern zeigten ein fleckiges Schwarz, das ihn vor den Tunnelwänden fast unsichtbar machen würde. Er war offenbar einer der besten Blasrohrschützen und hatte sich freiwillig dafür gemeldet, als Erster durch das Loch zu gehen. Starflight war sich nicht sicher, ob Jambu mutig war oder einfach nicht wusste, auf was er sich da einließ, aber das spielte jetzt sowieso keine Rolle.
Jambu hüpfte zu dem Loch nach oben und kletterte hinein; unmittelbar hinter ihm folgte Glory, dann kamen Mangrove, Liana, Grandeur und drei weitere mit Blasrohren bewaffnete Regenflügler.
Der Plan sah vor, dass Starflight und Fatespeaker als Nächste den Tunnel betraten, damit sie die Regenflügler zu den Gefängnishöhlen und der Festung führen konnten, wenn die Wachen bewusstlos waren. Er holte tief Luft und sah nach hinten, weil er hoffte, Blickkontakt mit Sunny herstellen zu können.
Sie stand da und starrte ihn an, während ihre Schuppen im Licht der untergehenden Sonne leuchteten.
Ich schaffe das.
Starflight kletterte in das Loch, und Fatespeaker folgte ihm so schnell, dass sie ihm fast auf den Schwanz getreten wäre. Keiner von beiden sagte etwas, aber er fühlte sich ein wenig sicherer, weil er wusste, dass sie hinter ihm war.
Es war drückend heiß im Tunnel und gespenstisch still. Die Regenflügler vor ihm waren leiser, als er es erwartet hatte. Er wusste nicht genau, wie weit sie ihm voraus waren, denn obwohl Starflight im Dunkeln sehr gut sah, konnte er die vielen Schatten vor sich nicht voneinander unterscheiden. Der Tunnel verlief leicht abschüssig, und er schlich sich so schnell weiter, wie er es wagte, während er darauf achtete, dass er die Flügel angelegt hatte, um die silbernen Schuppen auf der Unterseite zu verstecken.
Er hörte ein leises Surren vor sich und dann noch eines und dann schnell nacheinander noch sieben weitere. Schlafpfeile, die aus Blasrohren abgefeuert wurden, direkt aus den dunklen Schatten heraus, und hoffentlich sämtliche Wachen vor dem Loch bewusstlos werden ließen, bevor eine von ihnen Alarm schlagen konnte.
Als Nächstes nahm Starflight dumpfe Schläge wahr, als ein Regenflügler nach dem anderen in die Höhle sprang. Und dann sah er flackerndes Licht. Einen Moment später kletterte er aus dem Tunnel und spürte warme Felsbrocken unter den Klauen.
In der Höhle lagen neun Nachtflügler, die alle so aussahen, als wären sie von einem Moment zum anderen eingeschlafen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig; die Speere lagen nutzlos auf dem Boden neben ihnen.
Glory wandte sich an Mangrove und deutete auf die Speere. Sie gab eine Art Signal, das Starflight nicht verstand, aber Mangrove wusste offenbar, was gemeint war. Er begann, sämtliche Waffen in der Höhle einzusammeln, und gab sie an die Drachen weiter, die hinter ihnen durch den Tunnel kamen. Sie wurden von Klaue zu Klaue weitergereicht, bis sie schließlich im Regenwald waren, unerreichbar für die Nachtflügler.
Die Nachtflügler sind trotzdem noch gefährlich. Klauen, Zähne und Feuer können wir ihnen nicht nehmen. Aber eine Waffe weniger in den Klauen eines Nachtflüglers ist sicher nicht verkehrt.
Jambu und Grandeur waren bereits weitergeschlichen. Als Starflight angestrengt lauschte, konnte er das Surren der Blaspfeile hören, mit denen die Wachen am Höhleneingang ausgeschaltet wurden.
Wie lange wird das gut gehen? Wie viele Nachtflügler werden wir wohl schlafen legen können, bevor es jemandem auffällt? Und wenn jemand Alarm schlägt, wie lange wird es dauern, bis der erste Regenflügler stirbt?
»Alles klar.« Grandeurs flüsternde Stimme drang so leise wie Blätterrauschen durch den Tunnel.
Glorys Schuppen hatten die Farbe gewechselt und waren jetzt grau, rot und schwarz, um zur Umgebung der Höhle zu passen. Starflight konnte sie nicht sehen, aber er spürte, wie er von ihren Flügeln gestreift wurde. Jetzt musste er den anderen den Weg zeigen und vorangehen.
Er warf einen Blick auf das Loch, das zum Regenwald führte. Tsunami, Clay und Sunny sollten während der ersten Angriffswelle außer Sicht bleiben – wenn jemand blaue, braune oder goldene Schuppen auf der Insel sah, würde er wissen, dass der Tunnel nicht mehr sicher war. Und dann würden die Nachtflügler sofort losschlagen. Daher mussten die drei sich versteckt halten, bis die Tarnung der Regenflügler aufgeflogen war und es zu einer richtigen Schlacht kam.
Einerseits war Starflight erleichtert, dass er sich um Sunny keine Sorgen machen brauchte, andererseits hätte er sich entschieden besser gefühlt, wenn an seiner Stelle Clay und Tsunami die Regenflügler angeführt hätten.
Aber diese Art des Angriffs ist viel intelligenter – und die einzige Möglichkeit.
Starflight tappte mit Fatespeaker neben sich durch die Höhle und stieg über die schlafenden Nachtflüglerwachen. Er konnte das Rauschen der Meereswellen hören, die an den schwarzen Sandstrand am Fuß der Klippe schlugen. Der Himmel draußen war sogar noch grauer und bedrohlicher als vorher, mit düsteren, tief hängenden Wolken, in denen grelle Blitze zuckten. Das rote Glühen des Vulkans tauchte alles in ein gespenstisches Halbdunkel.
Nach dem Licht und der Wärme des Regenwaldes kam Starflight die Luft auf der Insel noch erdrückender und verrauchter vor. Als er auf den Felsvorsprung vor der Höhle trat, spürte er, wie der Boden unter seinen Klauen bebte. Dann war wieder alles ruhig.
Das ist höchst beunruhigend, dachte er.
»Was für ein Albtraum«, flüsterte Grandeur hinter ihm.
»Es ist noch schlimmer, als ich gedacht habe«, raunte Jambu. »Wie können sie hier leben?«
»Du trägst das da«, sagte Glory, während sie Starflight einen der Speere in die Klaue drückte. »Wir brauchen ihn vielleicht, und es wird nicht weiter auffallen, wenn er in deinen Klauen ist – wenn ich ihn festhalte, sieht das so aus, als würde er von allein durch die Luft fliegen.«
Starflight nickte, obwohl sich das Gewicht des Speers außerordentlich seltsam in seinen Klauen anfühlte. Es war wahrscheinlicher, dass er sich damit aus Versehen selbst ein Auge ausstach, als dass er die Waffe im Kampf einsetzen konnte. Er versuchte, sie so weit wie möglich von sich wegzuhalten, als er losflog.
»Bring uns zuerst zu den Gefängnishöhlen«, sagte Glorys Stimme aus der Luft neben ihm. »Wenn Mangrove und die anderen dort sind und anfangen, die Gefangenen zu befreien, kannst du mit mir zusammen zur Festung weiterfliegen.«
»Mit dir zusammen?«, wunderte sich Starflight. Es war wirklich eigenartig, Glory nicht sehen zu können; er kam sich vor, als würde er mit Luft reden. »Das ist der gefährlichste Teil der Operation. Solltest du als Königin nicht auf deine Sicherheit achten? Du kannst doch jemand anderen schicken, um Splendor zu holen.« Er ging in Schräglage und steuerte auf die Gefängnishöhlen und den Lavafluss zu.
Starflight konnte spüren, wie die Luftströmung sich veränderte, als sich mehrere unsichtbare Drachen zu ihm gesellten. Er wusste nicht genau, wie viele Regenflügler ihm folgten, hoffte aber, dass keiner der Nachtflügler die Flügelschläge hören und misstrauisch werden würde. Es waren nur wenige Nachtflügler zu sehen – ein oder zwei auf den Balkonen der Festung, dazu kamen noch die Wachen in den Höhleneingängen. Starflight vermutete, dass sich der Rest der schwarzen Drachen irgendwo versammelt hatte, um den für die Nacht geplanten Angriff vorzubereiten.
»Ich werde nicht die Art von Königin sein, die andere Drachen einem Risiko aussetzt, das ich selbst nicht eingehen will«, erwiderte Glory. »Und selbst wenn ich jemanden schicken könnte, um Splendor zu befreien – Königin Battlewinner muss ich persönlich gegenübertreten.«
Starflight schnappte überrascht nach Luft und sah sie entsetzt an. »Battlewinner? Hältst du das für eine gute Idee?«
»Warst du nicht der Drache, der Diplomatie vorgeschlagen hat?«, fragte Glory mit einem belustigten Unterton in der Stimme.
Ja, aber damals kannte ich die Nachtflügler noch nicht.
»Die Rettung der Gefangenen hat oberste Priorität«, fuhr sie fort, »aber wenn ich Königin Battlewinner irgendwie drohen kann, wenn ich ihr zum Beispiel sage, dass ich ihr Geheimnis verraten werde, wird sie uns und den Regenwald von jetzt an vielleicht in Ruhe lassen.«
»Das bezweifle ich«, warf Fatespeaker ein. »Die Nachtflügler wollen euren Regenwald unbedingt haben.«
»Dann haben sie Pech gehabt«, fuhr Glory sie an.
»Schhh«, warnte Starflight. Sie näherten sich der ersten Gefängnishöhle. Er wies mit dem Kopf in deren Richtung und spürte einen Luftzug, als ein Regenflügler an ihm vorbeischoss. Einen Moment später griffen die beiden Wachen im Eingang der Höhle nach ihrem Hals, warfen sich einen fragenden Blick zu und sanken dann wie in Zeitlupe in sich zusammen.
»Wir haben Glück, dass die Höhlen am Fluss liegen«, sagte Starflight, während er weite Kreise am Himmel zog. »Die Wachen in den Eingängen können nicht sehen, wie die anderen zu Boden gehen.«
Er sah, wie die Wachen in der nächsten Höhle zusammenbrachen, dann in der daneben und so weiter. Die Regenflügler schwärmten aus und folgten damit den Anweisungen, die Glory ihnen vor dem Aufbruch aus dem Regenwald gegeben hatte. Hier und da sah er Schuppen und Zähne schimmern, als die Regenflügler immer paarweise landeten, die Farbe änderten und in die Gefängnishöhlen rannten.
»Du sagtest, du hättest Orchid in einer dieser Höhlen gesehen«, sagte Glory zu Fatespeaker. »Kannst du dich noch daran erinnern, welche das war?«
Fatespeaker nickte und ging in einen Sturzflug über. Ihr Ziel war eine der Höhlen, die dicht neben der Festung lagen. Als sie sich näherten, sahen die beiden Wachen im Eingang nach oben. Obwohl zwei Drachlinge alles waren, was sie sehen konnten, runzelte einer der beiden die Schnauze, als würde er spüren, dass hier etwas nicht stimmte. Starflights Magen krampfte sich zusammen, als die Wache nach dem Gong griff, der den Rest des Stammes herbeirufen würde.
Dann surrte die Luft neben Starflights Ohr zweimal und gleich darauf schwankten die beiden Wachen ein paarmal hin und her und gingen zu Boden.
»Das war knapp«, meinte Starflight, doch nach einem Moment wurde ihm klar, dass er tatsächlich mit leerer Luft redete. Unter ihm wurden gerade die beiden Wachen zur Seite geschleift, und als er landete, hörte er das dumpfe Geräusch von Klauen, die in den hinteren Teil der Höhle eilten.
»Das muss ich sehen«, flüsterte Fatespeaker, während sie den beiden Regenflüglern nachrannte. Starflight folgte ihr gerade noch rechtzeitig, um mitzuerleben, wie Mangrove vor Orchid sichtbar wurde. Die Schuppen des Drachen änderten sofort ihre Farbe, von Grau und Schwarz zu einem glücklichen Rosa, in das sich stellenweise besorgtes Grün mischte.
Orchid stieß einen Freudenschrei aus, der von dem eisernen Maulkorb um ihre Schnauze erstickt wurde. Sie streckte die Klauen nach Mangrove aus, der einen Satz auf sie zumachte, seine Flügel um sie wickelte und den Schwanz um ihren schlang.
»Ich bin hier«, sagte er. »Ich wollte nicht aufgeben. Ich hätte nie aufgegeben.«
Orchid konnte nicht sprechen, doch das Rosa in ihren Schuppen sagte alles.
»Bringt sie so schnell wie möglich hier raus«, befahl Glory. »Wenn sie alle auf diese Art an die Wand gekettet sind, brauchen wir mehr Zeit, um sie zu befreien. Starflight, gib mir den Speer.«
Starflight hielt den Speer hoch, der ihm plötzlich aus der Klaue gerissen wurde. Ein Schatten in Form von Glory näherte sich Orchid und steckte die Spitzen des Speers vorsichtig in das Schloss an dem Maulkorb.
»Liana, Grandeur, seht ihr mir zu?«, fragte Glory.
»Ja«, sagten zwei Stimmen aus der Luft. Starflight zuckte zusammen. Er hatte gar nicht bemerkt, dass die beiden anderen Regenflügler hier waren.
»So öffnet ihr die Schlösser«, erklärte Glory, während sie den Speer drehte. Der Maulkorb fiel mit einem Klirren zu Boden, dann nahm sich Glory die Ketten vor, mit denen Orchid an die Wand gefesselt war.
»Ich hatte schon befürchtet, dass dir egal ist, wo ich bin«, sagte Orchid zu Mangrove. »Ich dachte, du würdest mich vergessen und jemand anderen finden …«
»Niemals«, erwiderte Mangrove bestimmt.
»Spürt ihr, wie die Erde bebt?«, fragte Orchid.
»Ich glaube, das bin ich.« Mangrove streckte seine zitternden Klauen aus. »Als würde das Glücksgefühl versuchen auszubrechen.«
Ich bin ziemlich sicher, dass das eben ein richtiges Erdbeben war, dachte Starflight. Er hatte das Beben ebenfalls bis in die Klauen gespürt, bevor es aufgehört hatte.
»Fertig«, sagte Glory. Der Speer bewegte sich durch die Luft, als sie ihn an einen der beiden anderen Regenflügler übergab. Orchid schüttelte die Ketten von sich ab und breitete die Flügel aus, wobei sie wie rosafarbener Sonnenschein strahlte und leuchtete.
»Orchid, das ist Glory, unsere neue Königin«, erklärte Mangrove. »Sie ist der Grund, warum wir dich gefunden haben, und sie ist auch der Drache, der die anderen dazu überredet hat, dich zu befreien.«
»Genau genommen ist es Mangrove zu verdanken«, wehrte Glory ab. »Er hat gewusst, dass du verschwunden bist, und wollte einfach nicht das Maul halten. Wenn wir keine Armee mitgebracht hätten, um dich zu retten, wäre er trotzdem hergekommen und hätte es ganz allein gemacht.«
»Danke, Eure Majestät«, sagte Orchid mit einer leichten Verbeugung.
»Das ist einfach zu schräg«, flüsterte Starflight der neben ihm stehenden Fatespeaker zu. »Meine Freundin wird ›Eure Majestät‹ genannt.«
»Ich wette, ihr dabei zuzusehen, wie sie eine Invasion anführt, ist auch ziemlich seltsam«, flüsterte Fatespeaker zurück.
»Grandeur, Liana, tarnt euch als Nachtflügler, nehmt die Speere der Wachen mit und fliegt zu den anderen Höhlen«, befahl Glory. »Zeigt allen, wie man die Gefangenen befreit. Bewegt euch so schnell und leise, wie ihr nur könnt. Dann bringt alle in den Tunnel zurück. Das Wichtigste ist jetzt, dass wir alle vierzehn Gefangenen gesund nach Hause schaffen. Mangrove, du und Orchid lasst euch etwas Zeit, damit sich eure Schuppen wieder beruhigen, und dann macht ihr euch auch auf den Weg zurück in den Regenwald.«
»Ich sollte mit dir mitkommen«, wandte Mangrove ein. »Wenn du in die Festung gehst, brauchst du Verstärkung.«
»Die werde ich haben«, erwiderte Glory.
Ich hoffe, sie meint nicht mich, dachte Starflight nervös.
»Wir haben uns eine Menge Mühe gemacht, um dich und Orchid wiederzuvereinen, daher solltest du erst einmal eine Weile ihre Gesellschaft genießen. Wir werden es dich wissen lassen, wenn wir dich brauchen.«
Mangrove und Orchid verbeugten sich beide.
Als Starflight von einem Flügel an der Schulter gestreift wurde, zuckte er kurz zurück, bevor ihm klar wurde, dass es Glory war, die in den Tunnel zum Lavafluss flog.
»Komm schon, Starflight«, drang ihre Stimme aus der Dunkelheit zu ihm. »Wir wollen uns mit der Königin der Nachtflügler unterhalten.«