Siebenundfünfzig

Brandvlei Road. Mira Yavari schaltete das Licht im Fahrzeuginnenraum an und hielt Vickis Handy hoch. Sie sagte: »Sie müssen Ihren Betreuer anrufen. Halten Sie es einfach. Nichts über die Schießerei. Nichts über mich. Nur das Übliche: wo Sie gerade stecken, wo sich das Zielobjekt befindet. Damit alle glücklich und zufrieden sind.«

Der Pritschenwagen parkte neben der Straße, etwa zweihundert Meter von der Abzweigung zur Atommülldeponie entfernt. Nach der Ebene mit dem niedrigen Gestrüpp befanden sie sich jetzt in einer Region mit zahlreichen Koppies, die in der dunklen Kälte zu lauern schienen. Über ihnen schwarze Weite. Die Deponie lag noch hinter einer Reihe von Hügeln und war nicht zu sehen.

Vicki nahm das Handy. Sehr schwacher Empfang. »Ich muss zwei Anrufe machen.«

Mira Yavari hielt einen Zeigefinger hoch. »Nur Ihren Betreuer. Ihr Freund wird daran gewöhnt sein, dass Sie sich nicht melden. Und bedenken Sie: Ich höre mit. Sobald etwas seltsam klingt, werde ich Ihnen wehtun. Versprochen.« Sie lächelte ohne die leiseste Andeutung eines Funkelns in ihren Augen. »Ich halte meine Versprechen. Schalten Sie auf laut.«

Vicki sagte nichts. Sie wählte Henry Davidsons Nummer.

»Ich habe mich schon gefragt, wann ich von Ihnen hören würde, Miss Vicki Kahn. Genießen Sie noch immer den Ausflug aufs Land? Muss inzwischen kalt und dunkel geworden sein. Brrr. Sicher nicht angenehm. Nun ja, so sind eben die Freuden des Außenmitarbeiters. Wie geht es der kleinen fleißigen Biene?«

»Kalt. Ansonsten gut. Ich stehe knapp vor der Abbiegung. Unsere Freunde sind bereits in der Deponie.«

»Sie klingen seltsam«, meinte Henry Davidson. »Es hallt so wider. Haben Sie auf laut gestellt?«

»Ja«, erwiderte Vicki und bemerkte den warnenden Blick von Mira Yavari. »Damit ich mir eine Tasse Kaffee einschenken kann.«

»Aha. Zweifelsohne eine gute Idee. Das wird ziemlich schwierig für Sie werden, was? In der Dunkelheit folgen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es viel Verkehr in dieser verlassenen Ecke unseres schönen Landes gibt.«

»Gar keinen.«

»Mmm. So werden Ihre Fähigkeiten zum Test gebracht. Natürlich könnten Sie auch bis zum nächsten Ort fahren. Und ihnen von dort aus folgen. Es sei denn, Sie haben ein Nachtsichtgerät dabei.«

»Habe ich nicht.«

»Dann fahren Sie weiter, Vicki. Ich rate Ihnen weiterzufahren.«

»Und wenn Sie sich irren?«

»Zehn zu eins, dass ich mich nicht irre. Zehn zu eins, Vicki. Welcher Spieler kann das ignorieren? Ernsthaft: Diese Leute werden nicht nach Kapstadt zurückkehren. Die fahren nach Johannesburg. Glauben Sie mir.«

»Und warum friere ich hier mitten im Nirgendwo?«

»Weil die Welt ein unsicherer Ort ist, wie Alice wiederholt herausfindet. Alles auf eine Karte zu setzen ist riskant, Vicki. Also. Bleiben Sie wach. Und lassen Sie sich nicht von einem Pack Karten attackieren. Au revoir.«

Vicki legte auf.

»Geben Sie her. Ich nehme das«, sagte Mira Yavari und wedelte mit den Fingern, um das Handy zurückzuverlangen. »Ihr Betreuer klingt sehr urban. Erinnert mich an jemanden, den ich mal kennengelernt habe. Die Jungs der alten Schule. Das Lauern in den dunklen Gassen von Berlin. Ob westlich oder östlich der Mauer war egal. Oh, wie die das liebten.« Mira Yavari spielte mit dem Handy. »Kein Vergleich zu der Welt, in der wir heute leben. Jetzt erklären Sie mir, was es heißen soll, wenn er meint, Sie sollen sich nicht von einem Pack Karten attackieren lassen.«

»Nichts. Keine Ahnung. Er redet gerne solchen Unsinn. Wahrscheinlich hat es mit Alice im Wunderland zu tun.«

Mira Yavari zeigte ihr übliches Lächeln. »Ja, das habe ich auch kapiert. Aber ich will wissen, was diese Geheimsprache für Sie und Ihren Mann mit dem Fedora bedeutet.«

Vicki zuckte die Achseln. Man musste es Henry lassen. Er war schnell im Erfassen von Situationen und hatte genau gewusst, dass derjenige, der dem Gespräch zuhörte, exakt das wissen wollen würde. »Nur seine Version von Smileys Moskauer Regeln

»Dachte ich mir. Und die lauten?«

»Was Sie erwarten würden.«

Mira Yavari hörte zu lächeln auf. »Ich bin freundlich, okay? Meistens bin ich freundlich. Reizen Sie mich nicht. Was bedeutet dieses Fedora-Gerede?«

»Was Sie erwarten würden«, fuhr Vicki sie an. »Alle sechs Stunden ein Anruf. Handy eingeschaltet lassen.«

»Das wird aber nicht passieren. Nehmen Sie den Akku raus.«

»Dann weiß er, dass es ein Problem gibt.«

»Und was wird er tun? Die Kavallerie schicken? Wohl eher kaum.« Mira Yavari winkte wieder mit den Fingern. »Handy, Akku. Los, machen Sie schon.«

Vicki zögerte.

»Hören Sie, ich will Ihnen echt nicht wehtun. Tun Sie’s einfach. Benehmen wir uns wie nette Mädels. Bitte, bitte, bitte.«

Vicki dachte: Nein, lass uns uns nicht so benehmen. Sie hörte, wie Mira Yavari seufzte. Dann erhielt sie einen Schlag gegen die Schläfe, dass ihr Kopf an die Scheibe knallte. Einen Moment lang wurde alles schwarz. Benommen versuchte sie durch Blinzeln ihre Schmerzen einzudämmen. Ihre Augen brannten. Vicki wollte mit einem Handkantenschlag kontern, aber die Frau erwischte sofort ihr Handgelenk und drückte die Hand nach hinten.

»Worum habe ich Sie gebeten?«, fragte Mira Yavari. »Wenn Sie angenehm bleiben, tue ich es auch. Ganz einfach. Handy, bitte.«

Vicki gab auf. Das war wie Blackjack: Ein frühes Aufgeben ließ einen zwar etwas verlieren, aber man blieb im Spiel. Sie hatte schon Schlimmeres überlebt.

Mira Yavari schaltete das Licht aus. »Schwamm drüber. Ein Mädel muss sich zu wehren wissen. Ich hätt’s an Ihrer Stelle auch probiert, keine Frage.« Sie stieg aus dem Pritschenwagen aus und fügte, ehe sie die Tür zuschlug, noch hinzu: »Bedenken Sie immer eines: Wenn es an der Zeit ist, alle Fesseln abzuwerfen, sollte man sich auf keinen Fall zurückhalten.«

Vicki beobachtete, wie sie vor das Auto trat und einen Fuß auf die Frontschutzbügel stellte, ihr erleuchtetes Handy am Ohr. Sie sprach nicht viel. Hörte auch nicht lange zu, ehe sie wieder auflegte.

Es war ihr erster Anruf in all den Stunden, die sie zusammen verbracht hatten. Es war auch keiner eingegangen. Mira Yavari schien tatsächlich alle Fesseln abgeworfen zu haben.