Vierundfünfzig

Brandvlei Road. Vicki öffnete die Augen. Wolken. Weißes Licht. Das Gesicht eines Engels sah sie an. Sagte etwas. Musik. Choir of Young Believers. Laut: »Have I ever truly been here.«

Mein Gott!

Die Sache war die: Wenn sie die Musik des Choir of Young Believers nicht in der Serie Die Brücke gehört hätte, wäre sie niemals über deren Musik gestolpert. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie die Musik mochte. Und sie war sich nicht sicher, warum sie diese gerade jetzt hörte.

»He, he! Können Sie mich hören?«

Der Engel schlug gegen die Windschutzscheibe. Ein Engel mit einem Heiligenschein aus schwarzen Haaren.

»Können Sie sich bewegen?«

Langsam begann Vicki zu begreifen. Der Kerl hatte auf sie geschossen. Die Angst in Wainwrights Gesicht. Wie sie seitlich auf das Veld abgekommen war. Die Stöße. Der Lärm. Der Wagen, der sich überschlug. Wie es schwarz um sie wurde.

Jetzt lag das Auto auf der Seite. Der Himmel durch das Beifahrerfenster sah blau aus. Von irgendwoher klingelte ihr Handy.

Der Engel rief erneut: »Sind Sie verletzt? Ich kann Sie nicht erreichen. Haben Sie Schmerzen?«

Vicki ballte ihre Finger zu Fäusten. Bewegte ihre Füße. Sie war kaum in der Lage, sich zu rühren, da ihr Körper durch den Gurt und die teilweise schon schlaffen Airbags festgehalten wurde. Sie stellte fest, dass sie zumindest den Kopf problemlos schütteln konnte.

Diese seltsame Musik war viel zu laut.

»Ich glaube, es geht mir gut«, sagte sie.

»Was? Wiederholen Sie das noch mal.«

Diese verdammte Musik. Vicki streckte die Hand aus und drückte einen Knopf an der Stereoanlage. Eine wunderbare Stille breitete sich aus. Wenn da nicht der schrille Laut in ihren Ohren gewesen wäre. Das Klingeln ihres Handys.

Die Frau, die vor der Windschutzscheibe hockte, erklärte ihr: »Ich schubse jetzt Ihr Auto wieder auf die Räder. Verstehen Sie, was ich sage? Das gibt einen ziemlichen Stoß. Aber keine Sorge. Es wird klappen. Einer der Vorteile meines Allradantriebs.« Das Gesicht der Frau verschwand.

Vicki hörte, wie eine Tür zugeschlagen wurde. Das Aufheulen eines Motors. Ihr Handy hörte auf zu klingeln. Fish. Zumindest gab es hier offenbar Empfang.

Dann das Reiben von Metall, als der andere Wagen das Mietauto anstieß. Dieses schaukelte und schien sich einen Moment lang in die falsche Richtung zu neigen, als ob es auf das Dach fallen würde. Der hintere Teil schwenkte herum, dann kippte das Fahrzeug und landete auf seinen Rädern. Staub und Kies wirbelten hoch. Ihre Knochen wurden derart erschüttert, als wären sie alle losgelöst.

Die Frau stand nun neben ihrer Tür. Fluchte über den Griff. Eilte zur Beifahrertür und riss diese auf. Sagte: »Verdammt, Sie haben ein Riesenglück, dass Sie noch am Leben sind.«

»Vermutlich«, erwiderte Vicki. Sie versuchte mit der rechten Hand, den Schmerz in ihrem Schoß zu verringern. Etwas Hartes steckte dort. Es war die Pistole, die zwischen ihre Schenkel gerammt war. Langsam zog Vicki sie heraus. Es würde seltsam aussehen, diese Waffe auf ihrem Schoß. Dann fand sie oberhalb des Beifahrersitzes ein Einschussloch in der Windschutzscheibe. Alles würde für jemand anderen verdammt seltsam aussehen.

Die Frau hatte es bereits bemerkt. Und lächelte. »Holen wir Sie mal aus dem Wagen.« Sie fasste ins Innere des Autos, öffnete den Sicherheitsgurt und schob die Airbags beiseite. Schnappte sich die Waffe, ehe sich Vicki bewegen konnte. »Die nehme besser ich an mich.«

Vicki zog die Beine hoch, drehte sich auf ihrem Sitz und kletterte dann über den Schalthebel und die Mittelkonsole. Die Frau half ihr.

»Gewöhnlich verfehlt er nie sein Ziel«, sagte sie. »Sie hatten also doppelt Glück. Dieser Muhammed hat eigentlich den Ruf, mit einem Schuss zu treffen. Willkommen im Paradies. Wie geht es Ihnen?«

»Schmerzhaft«, meinte Vicki. Die Spur des Sicherheitsgurts brannte auf ihrer Brust und an der Seite. Sie ließ ihre Schultern kreisen und rieb sich den Nacken.

Die Frau fasste in ihren Pritschenwagen und holte eine Dose Cola heraus.

»Hier.« Sie machte sie auf. »Nicht die beste Medizin, aber so kriegen Sie zumindest etwas Zucker.«

Vicki nahm die Dose, trank einen großen Schluck und bemerkte auf einmal ihren Durst. Der trockene Geschmack von Adrenalin in ihrem Mund. Sie betrachtete das zusammengedrückte, zerkratzte Wrack ihres Mietautos. Die Frau umrundete es. »Zwei Einschüsse in der hinteren Tür. Einer im Kofferraum, einer in der Windschutzscheibe. Das ist alles, was ich so auf den ersten Blick sehen kann. Schlampige Arbeit. Wird den beiden zu Hause nicht gerade Extrapunkte einbringen. Na ja, wahrscheinlich stehen sie unter Zeitdruck.«

Vicki musterte den weißen Pritschenwagen und die Frau in ihrer engen Jeans, einem offenen Hemd über einem Tanktop, die Ärmel zurückgerollt, braune Boots aus Segeltuch. Ihre Haare zu einem Bob geschnitten, der ihr Gesicht einrahmte. Markante Gesichtszüge. Eine durchtrainierte Frau etwa in ihrem Alter, vermutete Vicki.

»Wo ist Ihr Handy?«, fragte die Frau. »Am besten nehme ich das auch an mich.« Beugte sich ins Autowrack hinein, ehe sie sich kurz zu Vicki umdrehte und sie breit angrinste, als wäre das alles ein großer Spaß. »Versuchen Sie aber nicht, mich auszutricksen. Okay? Nicht vergessen, ich habe Ihre Pistole.«

»Wer sind Sie?«, wollte Vicki wissen und beobachtete, wie sie ihr Handy aus dem Fußraum holte. Sie vermutete, dass der seltsame Akzent der Frau ein amerikanischer sein konnte. Andererseits gab es Leute, die nur kurz nach New York fuhren und schon mit einem amerikanischen Zungenschlag zurückkamen. Bei dieser Frau spielte jedenfalls noch etwas anderes mit hinein. Es konnte alles sein – von Portugiesisch über Arabisch bis Hebräisch.

»Die Frage lautet eher: Wer sind Sie?«, sagte die Frau.

Vicki stützte sich auf die Frontschutzbügel des Pritschenwagens und überlegte, wie sie antworten sollte. Sie richtete den Blick auf die Frau.

Diese meinte: »Hören Sie, am besten reden wir im Auto weiter. Wir wollen schließlich nicht, dass die Jungs einen zu großen Vorsprung bekommen.« Sie zeigte auf den Mietwagen. »Haben Sie noch was im Kofferraum? Eine Kühlbox? Einen Koffer oder so?«

Vicki schüttelte den Kopf und zerrte ihre Übernachtungstasche vom Rücksitz. Unter den Sitzen fanden sich ein eingeschweißtes Sandwich, Bananen und zwei Wasserflaschen.

»Ist das alles?«, erkundigte sich die Frau. »Nicht gerade üppig. Keine Schokolade? Keine Süßigkeiten? Wo bleibt der Spaß?« Sie nahm die Tasche. »Lassen Sie mich mal sehen.« Durchwühlte die Kleidung. »Für den Fall, dass Sie hier noch weitere Waffen oder ein Handy haben sollten.« Dann stellte sie die Tasche vor Vickis Füße. »Ich würde denken, eine Frau wie Sie hat zwei Handys. Wo ist es?« Sie durchwühlte mit dem Pistolenlauf den Kulturbeutel. »Keine Kondome. Diese Frau ist offenbar nicht in Spiellaune. Kein Ehering. Sie muss also einen Freund haben. Mit dem sie aber nicht zusammenlebt. Schwierig, bei einem solchen Job eine richtige Beziehung zu führen.« Sie schüttete die Toilettenartikel in die Tasche. »Also, wo ist das zweite Handy?«

»Es gibt keines.«

Die Frau lächelte. Das schien ihr nicht schwerzufallen. »Ich würde Ihnen gerne glauben. Tu ich zwar nicht, aber ich will auch nicht unangenehm werden. Männer würden das jetzt. Männer würden Ihnen Ihre Fingernägel ausreißen. So arbeiten wir nicht, nicht wahr? Wir sind mehr für Vertrauen. Wenn das Handy klingelt, werde ich allerdings sehr enttäuscht sein. Und Sie wollen nicht wissen, wie enttäuscht ich sein kann. Kommen Sie.« Die Frau winkte mit der Waffe und zeigte auf den Pritschenwagen. »Steigen Sie ein. Wir haben heute noch einiges vor.«

Habe ich eine Wahl, dachte Vicki und schwang sich auf den hohen Beifahrersitz.

Die Frau fuhr den Pritschenwagen rückwärts vom Veld auf die Straße zurück. Dann gab sie Gas, um dem BMW zu folgen. Fragte: »Wie heißen Sie?«

Vicki nannte ihren Namen.

»Richtig. Vicki Kahn. Ich bin Mira, Mira Yavari. Ich glaube, Sie sind weder Crime Intelligence noch Hawks noch Militär. Sie sind von der SSA und sollen unauffällig observieren. Ohne sich einzumischen. Nur beobachten. Wie mache ich mich?«

Vicki zuckte mit den Achseln.

»Ich verstehe das jetzt mal als ein Ja. Was bedeutet, dass Ihre Bosse nichts gegen ein Nukleargeschäft mit dem Iran haben. Um den Ayatollahs ein bisschen magische Kräfte zu verleihen, damit sie doch noch an ihre Bombe kommen. Nicht sonderlich nett. Aber hey, wenn man schon mal Gewinne einstreichen kann – warum nicht? So ist die Welt. Oder geht’s um was anderes? Um ein kleines lukratives Nebengeschäft? Einen privaten Deal? Wie ich so höre, ist das generell Ihr Ding hier.«

Vicki dachte, dass der Name israelisch klang. Vermutlich war es allerdings gar nicht ihr Name. Diese Frau war jedenfalls die Vorreiterin gewesen. Sie wusste über die Iraner Bescheid. Wusste, wer sie, Vicki, war. Aber es konnte nicht sie gewesen sein, die diese beiden auf ihre Spur gebracht hatte. Dann würde die Frau sie garantiert jetzt nicht mitnehmen. Was immer noch nicht die Frage beantwortete, woher sie von Henry Davidsons Arrangement wusste. So weit zu einer Geheimoperation. Es sei denn, sie hatte alles nur erraten. Das wäre dann allerdings verdammt klug gewesen.

Die Frau, Mira Yavari, sagte: »So vermute ich das jedenfalls. Wie mache ich mich?«

Vicki bemerkte ihren raschen Blick zu ihr hinüber. Das amüsierte Funkeln in ihren Augen. Erwiderte: »Sagen Sie es mir.«

Mira Yavari nahm eine Hand vom Steuer und schlug sich damit gegen die Stirn. »Oh, wow, jetzt kapiere ich. Sie haben keine Ahnung. Sie tappen total im Dunkeln. Das ist aber nicht angenehm. Das ist das Schlimmste. Um meine Frage selbst zu beantworten: Ich finde, ich mache mich nicht schlecht. Sogar ziemlich gut.« Sie warf Vicki einen weiteren Blick zu. »Jetzt sind Sie dran.«

»Womit?«

»Wer bin ich? Wie passe ich in das Ganze? Warum habe ich Sie mitgenommen? Puzzleteile.«

»Ich spiele nicht«, entgegnete Vicki.

»Wie wäre es dann mit ›Ich sehe was, was du nicht siehst‹? Kommen Sie, Vicki Kahn. Vor uns liegt eine lange, langweilige Strecke. Entspannen Sie sich. Ich sehe was, was du nicht siehst, und das beginnt mit M.«

»Mossad«, meinte Vicki. »Oder CIA

»Beginnt nicht mit M.«

»Mossad schon.«

»Also, es stimmt insoweit, als ich früher für die gearbeitet habe. Aber nicht in diesem Fall. In diesem Fall habe ich den Mossad bisher auch nirgendwo entdeckt.« Mira Yavari streckte die Hand aus und schaltete die Stereoanlage ein. »Mögen Sie die Rolling Stones? Ich liebe die alten Sachen der Stones.« Sie stellte You Can’t Always Get What You Want ein. »Das beste Album überhaupt. Finden Sie nicht?«

Vicki dachte: Und wenn Mira Yavari doch nichts von ihr gewusst hatte? Wenn sie einfach den Iranern gefolgt war und sie auf dem Weg bemerkt hatte? So wie auch sie Mira Yavaris Pritschenwagen entdeckt hatte.

»Amerikanerin«, sagte Vicki über die Musik hinweg. »Observation. Und an einem bestimmten Punkt greifen Sie ein. Vielleicht still und leise. Vielleicht auch nicht. Das hängt von irgendwelchen politischen Arrangements ab, schätze ich.«

»Ziemlich gut.« Mira Yavari bewegte sich im Rhythmus der Musik auf ihrem Sitz vor und zurück.

Heißt nicht viel, dachte Vicki. Sie vermutete, dass Mira Yavari die Welt jeweils so darstellte, wie sie diese gerade brauchte.