Zwei

Wembley Square. Vicki Kahn erwachte durch das Sonnenlicht. Lag still da, die Augen geschlossen, und lauschte. Ihre Ausbildung: auf Geräusche achten. Alles, was anders als sonst erscheint. Hörte Stimmen von der Straße unten. Eine Wagentür wurde geschlossen, ein Mann lachte, ein Auto fuhr fort. Dahinter das Surren der Stadt. Samstagmorgen. Die Welt so, wie sie sein sollte.

Sie erinnerte sich an ihren Gewinn. Fünftausend. Ein Spiel, an dem sie immer wieder mal teilnahm. Wirklich praktisch. Fand in einer der Hintergassen von Gardens statt, wo ein Hippietyp zwei, drei Abende die Woche ein paar Leute zusammenbrachte. Gestern hatten die Karten zu ihr gesprochen, und sie hatte ihre Schulden dort um die Hälfte verringert.

Vicki Kahn lächelte und öffnete die Augen. Das Zimmer lag in einem schummrigen Grün. Ein Sonnenstrahl drang durch die Vorhänge herein. Der Luxus, spät aufwachen zu können. Wahrscheinlich war es schon nach halb acht. Sie streckte die Hand nach ihrem Handy auf dem Nachttischchen neben ihr aus. Acht Uhr vierzig. Wann war das zum letzten Mal möglich gewesen? Vicki stützte sich auf ihren Ellbogen ab, richtete sich auf und dachte an den vor ihr liegenden Tag. Es gab nichts, woran sie denken musste – nur an sich selbst. Ein perfekter Tag also.

Ein Croissant und eine Latte im Vida E auf dem Platz. Dann zur Biscuit Mill hinüber, dort eine Weile über den Markt schlendern, ein paar Baguettes und einige Époisses besorgen. In einem Spirituosengeschäft zwei Viererpacks Ale für Fish und für sich eine Flasche Philip Jonker, den Brut: eine klassische Mischung aus Chardonnay und Pinottrauben. Danach wollte sie einen Spar suchen und zwanzig Rand im Lotto setzen. Schließlich zu Rose Farm, um dort mit ein paar Freundinnen zu Mittag zu essen. Dort konnte man gut auf der Terrasse sitzen und ins Tal hinunterschauen. Endlich ihr altes Leben wieder zurückhaben.

Damit kam sie zurecht. Nachmittags wollte sie irgendwann bei Fish aufschlagen. Vielleicht würde er zur Abwechslung sogar mal was gefangen haben. Ein Gelbschwanz wäre gut. Gebraten. Das würde ihr schmecken. Auf frischem Rahmspinat. Und Kartoffelstampf. Darüber etwas Petersilie und Salbei gestreut. Ein Schnitz Zitrone. Danach Mousse au Chocolat von Woolworths. Zum Abschluss Stinkekäse mit Baguette.

Damit konnte sie leben. Mit dem prickelnden Sekt in einem Glas. Fish, der seine typische Musik auflegte. Wen noch mal? Bruce Springsteen? Irgend so was. Jedenfalls nichts Subtiles. Klang trotzdem cool. Interessante Texte.

Genau.

Vicki duschte und nahm sich beim Auswählen ihrer Klamotten nicht viel Zeit: Jeggings, ein langärmeliges Oberteil mit Rundausschnitt und eine lederne Fliegerjacke, die sie schon seit Ewigkeiten besaß. Jedenfalls lange genug, dass der Kragen glänzte und der Reißverschluss nicht mehr funktionierte. Fish nannte das ihre Fetenjacke, die sie vor allem dann anzog, wenn sie in Partylaune war. Sie verließ ihre Wohnung nur mit einer kleinen Handtasche über der Schulter. Bei Fish lagen ein paar ihrer Klamotten, das würde fürs Wochenende reichen.

Im Vida E setzte sie sich an einen Tisch am Rand. Viele Leute waren nicht da. Zwei Einzelne, die auf ihre Handys starrten. Mama und Papa mit Baby in einem Tragebettchen zwischen sich. Vicki hatte immer noch die Angewohnheit, sich ihre Umgebung genau anzusehen. Sie scrollte gerade durch die Nachrichten auf ihrem Handy, als eine Hand sanft ihre Schulter drückte.

»Na, das ist ja toll.«

Eine bekannte Stimme. Vicki dachte: Nein. Nicht du. Bloß nicht du. Blickte mit Pokergesicht auf. Sagte: »Welche Überraschung, Henry.«

»Wohl wahr. Wohl wahr.« Er setzte sich zu ihr. »Ziemlich nett, muss schon sagen. Es ist keine Lokalität, die ich bisher häufiger besucht habe.«

Jedenfalls nicht in den zwei Jahren, seitdem sie ihn kannte.

»Ich darf doch?« Er stellte seinen Filterkaffee und seinen Kleiemuffin auf ihren Tisch, ohne ihre Antwort abzuwarten. »Sie wohnen hier in der Gegend, soweit ich mich noch erinnere. Irgendwo recht nahe.« Er schnitt seinen Muffin in vier Teile und halbierte die Viertel. Auf jedes Stück strich er eine Schicht Butter und legte die Stücke dann aufeinander. Schob den Muffin wieder zusammen. »So.« Sah sie an. »Ist es hier in der Nähe? Ich habe doch recht, oder? Eine der Wohnungen über uns. Oder? Sehr schön. Eine schöne Ecke, Wembley Square. Ideal für Menschen wie Sie. Jung und berufstätig. Wissen Sie, ich kannte diesen Ort noch, als er einer Druckerei gehörte. Der Typ verstand es, Feste zu geben. Du meine Güte. Das waren Zeiten. Wundervoll. Aber die Dinge ändern sich, nicht wahr?« Ein Lächeln. »Wie geht es Ihnen, Vicki? Genießen Sie Ihr neues Leben? Es wirkt jedenfalls so. Hübsch wie immer. Entspannt. Wundervoll. Freut mich. Freut mich.« Er tätschelte ihren Arm.

Vicki beobachtete, wie er ein Muffinviertel in die Hand nahm und elegant davon abbiss.

»Das tue ich, Henry. Danke.«

»Fehlen wir Ihnen?«

»Seltsamerweise …« Sie lächelte. »Gar nicht.«

»Hmm. Ob das stimmt. Sagen Sie das nicht vielleicht nur so? Die Zeit wird es zeigen, glauben Sie mir.« Henry Davidson schluckte und tupfte sich den Mund mit einer Serviette ab. Sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Sie kennen den alten Spruch: einmal Agent, immer Agent. Ist leider so. Da gibt es kein Entkommen.«

»Ach, ich weiß nicht. Ich komme gut zurecht.«

»Es liegt einem dann im Blut.« Henry hörte nicht auf sie. »Unmöglich, das loszuwerden. Im Grunde sogar unmöglich, ein anderes Leben zu führen. Wo sonst kriegt man diesen Kick? Wenn das Adrenalin durch die Adern rauscht, während man still seinen Triumph genießt. So wie Sie das taten, Vicki. So wie Sie das taten. Schafften es, den Kinderhandel zu unterbinden. Das war ein Aufwand, der sich wahrlich gelohnt hat. Können Sie sich auf die Fahnen schreiben. Zeigte, dass nicht einmal der Sohn des Präsidenten über dem Gesetz steht. Darauf kann unsere Demokratie stolz sein, würde ich behaupten. Wir sind für solche Dinge nötig, Sie und ich.«

»Paranoid. Verschlossen. Immer auf der Hut. Sie mögen sein, was Sie wollen, Henry, aber ich bin nicht so. Deshalb habe ich auch gekündigt. Ich will nicht, dass Leute meine Wohnung abhören.«

»Tut das jemand? Das tut doch niemand, oder?«

»Soweit ich weiß, nicht.«

»Gut, gut. Sie erledigen also Ihre Hausarbeit. Nach den kleinen Widerlingen suchen. Eine nützliche Angewohnheit. Sollten Sie beibehalten, Vicki. Beruhigend zu wissen, dass man Sie vom Radar verschwinden ließ.«

»Man?«

»Man. Sie wissen schon …«

»Ich weiß nichts.«

»So eine Ausdrucksweise.«

»Ich bin raus, Henry. Ich habe gekündigt. Schon vergessen? Und Sie haben meine Kündigung akzeptiert. Ich arbeite nicht mehr für den Staat. Nie mehr. Ich will nicht mehr mit Gangstern und Verbrechern konspirieren.«

»Gangster und Verbrecher. Das ist etwas heftig, meine liebe Vicki. Nennen wir sie doch lieber einfach Politiker.« Henry Davidson aß das Viertel Muffin zu Ende. »Dieser Muffin ist wirklich ausgezeichnet. Auch der Kaffee lässt sich trinken. Obwohl die Baristas hier für meinen Geschmack zu laut sind. Und diese ganzen modischen Begriffe sind nervtötend. Aber erzählen Sie mir von Ihrem Leben als Anwältin. Für Legal Aid, nicht wahr? Sehr lobenswert, wirklich sehr lobenswert.«

»Es gefällt mir.« Vicki nippte an ihrer Latte. »Da kann ich Menschen helfen.«

»Darin sind Sie ja auch gut. Und Ihr Lebensgefährte? Wie hieß er noch mal? Dieser Surfer?«

»Fish.«

»Stimmt. Fish.« Henry Davidson schüttelte den Kopf. »Ein törichter Name. Sie sind also immer noch ein Pärchen, wie es heutzutage heißt?«

»Das sind wir.«

»Toller Fang für ihn. Sie könnten allerdings mehr erreichen. Viel mehr. Andererseits ist das menschliche Herz ja oft unerklärlich. Wie Alice so schön sagt: ›Ich bin schon in vielen Gärten gewesen, aber niemals haben die Blumen sprechen können.‹ Und in dem einen Garten können sie es auf einmal. Erstaunlich, nicht wahr? Das Leben ist unglaublich irrational.«

Vicki brach ein Stück Croissant ab und schob es sich in den Mund. Betrachtete Henry Davidson: sein Gesicht mit den braunen Altersflecken, sein Toupet, sein Halstuch, seine Wildlederjacke. Der Meisterspion. Der Doppelagent. Ein kommunistischer Maulwurf im Geheimdienst der Apartheid. Henry Davidson gab es schon sehr lange. Er hatte das Kesseltreiben nach dem fehlgeschlagenen Attentat auf den Präsidenten überlebt. Andere Agenten ganz weit oben auf der Leiter waren gestürzt, doch Henry hatte sich behauptet. Samt Toupet.

»Warum sind Sie hier, Henry?« Vicki schluckte das Croissant mit einem Schluck Latte hinunter.

»Ich erkunde gerne alle Ecken meiner Stadt.«

»Bullshit.«

Er lachte. »Es stimmt. Ehrlich. Sie kennen mich. Ich bin immer auf der Suche nach geeigneten Orten. Für ein ruhiges Treffen unter vier Augen.«

Wie jetzt, dachte Vicki. Ihr Handy klingelte. Fishs Name auf dem Display. »Ich muss da ran.«

»Natürlich.« Henry Davidson senkte den Kopf. Er hatte offenbar nicht vor, sie ungestört telefonieren zu lassen.