Sechsundachtzig

Vergenoegd Farm. Robert Wainwrights Keuchen in der Dunkelheit. Vicki Kahn in ihrem Schmerz gefangen – das ständige Brennen ihrer offenen Knöchelhaut. Den Rücken lehnt sie an die Steinmauer, die Beine sind ausgestreckt, die mit Blasen übersäte Fessel liegt auf ihrem unverletzten Bein. Sie hat die Augen geschlossen und bemüht sich um eine Art Bewusstseinskontrolle. Eine Technik, die sie in ihrer Agentenausbildung gelernt hat.

Henry Davidsons kluge Worte: »Es gibt immer ein Kaninchen mit rosa Augen, Vicki.«

Vor Vickis innerem Auge sieht sie sich als junges Mädchen in einem Sari. Sie trug nie Saris außer dieses eine Mal. Warum? Warum nicht?

Vicki, hört sie die Stimme ihrer Mutter. Vicki, lächle.

Vielleicht bei einer Hochzeit? In den Arderne Gardens für ein paar offizielle Fotos? Damals sind alle bei solchen Gelegenheiten immer dorthin gegangen.

Vicki, lächle.

Aber das tat sie nicht. Auf der Aufnahme sieht man sie mit finsterer Miene. Ein wütendes kleines Mädchen. Als ob sie in die Zukunft blicken könnte. Eine Woche später waren sie fort, ihre Mutter und ihr Vater. Weggebracht. Kurz darauf war ihre Mutter tot. Ihren Vater sah sie wieder. Dann war auch er tot.

Vicki, lächle.

Sie tat es damals nicht und tut es jetzt nicht. Der wiederkehrende Schmerz ist so heftig, dass sie leise aufstöhnen muss.

»Was ist?« Robert Wainwright rutscht neben sie und fasst nach ihrem Arm. »Reden Sie mit mir, Vicki. Sie dürfen nicht sterben.«

»Ich sterbe nicht, Robert.«

»Sie werden zurückkehren. Sie werden uns gehen lassen. Ich weiß es. Sie werden uns gehen lassen. Jetzt, nachdem sie bekommen haben, was sie wollten.« Seine Hand um ihren Arm verkrampfte sich. »Oh, Gott, vergib mir.«

Sie sind im Keller. Sie spürt, wie er zittert. Sein Gesicht kann sie nicht erkennen.

»Ich musste es tun. Ich musste mitmachen. Sie haben so geschrien.«

Sie löst seine Finger von ihrem Arm. Die Bewegung, jede Bewegung, lässt die Schmerzen an ihrem Knöchel unerträglich aufflackern. Wieder ächzt sie.

»Hilfe kommt. Sie werden wieder ganz gesund.«

»Robert«, sagt sie. »Versuchen Sie, ob Sie die Tür öffnen können.«

Die Tür ist von einem grauen Licht umrandet. Wie lange dauert es noch bis Sonnenaufgang? Sie hat kein Zeitgefühl mehr. Es war dunkel, als man sie hierherbrachte. Dieser Muhammed bohrte ihr seine Pistole in den Rücken. Robert stützte sie. Jeder humpelnde Schritt ein stechender Schmerz.

Mira Yavari sagte: »Ach, kommen Sie schon, Vicki. Seien Sie ein großes Mädchen, so schlimm ist das nun auch wieder nicht.«

Es war schlimmer als schlimm. Eine Kugel in den Eingeweiden war leichter zu ertragen.

Die Taschenlampe leuchtete die Treppe hinunter. »Sie dürfen uns nicht hierlassen.«

»Na, ich weiß nicht«, erwiderte Mira Yavari. »Sie sind beide ziemliche Nervensägen.«

»Sie haben, was Sie wollten.«

»Das stimmt. Es hat sich gut gefügt. Wir können uns glücklich schätzen, Sie weniger.«

Ende der Diskussion. Ein Stoß, ein Stürzen auf den Steinboden, eine Tür, die ins Schloss fiel. Danach totale Dunkelheit.

»Sie haben zugesperrt.« Robert gibt sich sofort geschlagen.

Vicki holt tief Luft, hält sie, um den pochenden Schmerz zu lindern, und atmet dann aus. »Vielleicht können Sie das Schloss aufbrechen.«

»Womit?«

»Ich weiß es nicht, Robert.« Sie saugt Luft ein. »Ich weiß es nicht. Ihrer Gürtelschnalle, Ihrem Schuh. Benutzen Sie den Absatz als Hammer. Versuchen Sie einfach irgendwas.«

Er steht auf und steigt über sie, um zur Tür zu gelangen. »Ich muss pinkeln.«

»Dann tun Sie es.«

»Wo?«

»Irgendwo. In einer Ecke.«

Kurz darauf hört sie das leise Plätschern seines Urinstrahls.

Was erwartet er von ihr? Bestärkung. Er scheint jegliche Eigeninitiative, jeglichen Willen verloren zu haben. Andererseits gehört er zu ihrem Verantwortungsbereich. Sie ist die Agentin. Die widerstrebende Agentin, aber dennoch die Agentin. Und sie müssen hier rauskommen. Um Henry Davidson über die schmutzige Bombe zu informieren.

»Wird sie funktionieren, Robert?«

»Was?«

»Die Bombe. Wird sie funktionieren?«

»Ja.«

Er klingt völlig sicher.

»Sie haben ihr erklärt, dass sie nicht funktionieren wird.«

»Sie wird explodieren, jedenfalls der Teil mit dem Semtex.«

»Und das Uran?«

»Es ist nicht viel. Vielleicht zweihundert Gramm.«

»Und der Rest?«

»Den haben sie noch.«

Was Vicki nachdenklich stimmt. Natürlich – die Bombe soll als Ablenkungsmanöver dienen. Während sie sich mit dem Rest des HEU aus dem Staub machen. Was Vicki wieder zu Wainwrights Bombe zurückbringt. »Was wird bei einer Explosion genau passieren?«

»Das HEU teilt sich vielleicht.«

»Was bedeutet …?«

»Dass kleine Pellets von HEU herumliegen. Vielleicht gibt es auch etwas strahlenden Staub.«

»Wie gefährlich ist das?«

»Es wird entsorgt werden müssen.«

»Was bedeutet, dass es ein Problem ist.«

»Ja. Aber im Grunde ist es nur eine Bombe.«

»Im Grunde? Nur? Wie viel kann diese Bombe in die Luft jagen?«

»Das hängt ganz davon ab. Canal Walk. Die Waterfront. Vielleicht ein kleines Einkaufszentrum …« Er spricht nicht weiter.

»Mein Gott. Robert.«

Schweigen breitet sich aus. Vicki denkt: Das ist volle Punktzahl. Wenn man diese Bombe an den richtigen Ort bringt, kann das Hunderte von Toten bedeuten. Wenn man die richtige Warnung herausgibt und erklärt, es sei eine schmutzige Bombe, kann man Kapstadt gleich evakuieren lassen. Und zwar für mehrere Tage.

Sie sagt: »Holen Sie uns hier raus, okay? Holen Sie uns einfach hier raus.«

Sie hört, wie Robert Wainwright mit dem Schuh gegen das Schloss schlägt. Seine Verzweiflung.

»Das wird nie klappen.«

»Nein«, meint auch Vicki. »Das wird es nicht. Sie müssen versuchen, das Schloss herauszustemmen. Benutzen Sie dafür den Dorn Ihres Gürtels, um ins Holz zu kommen. Am besten langsam und gründlich, damit der Dorn nicht abbricht.«

Sie hört, wie er seinen Gürtel löst und mit dem Kratzen am Türrahmen beginnt. Das wird ewig dauern.

Vicki schließt die Augen. Sie wartet auf das kleine Mädchen im Sari. Aber es kehrt nicht zurück. Stattdessen ist da der brennende Schmerz, als ob Mira Yavari wieder kochendes Wasser über ihre Fessel gießen würde. Sie hat Angst vor einer Infektion. Verbrennungen infizieren sich schnell. Bei unbehandelten Verbrennungen, schlimmen Verbrennungen dritten Grades oder noch stärker, kann es tatsächlich zu einer Amputation kommen. Daran will sie lieber gar nicht denken. Also wendet sie sich innerlich Mira Yavari zu. Sie hörte den Pritschenwagen nicht davonfahren. Was nicht bedeuten muss, dass sie noch hier sind. Andererseits wird man sie garantiert nicht am Leben lassen wollen. Vielleicht sollen sie ja im Keller verhungern. Es gibt zu viele unbekannte Größen in diesem Spiel.

»Ich schaff’s nicht«, sagt Robert Wainwright. Vicki hört, wie die Gürtelschnalle auf den Steinboden fällt. »Es wird nicht funktionieren. Ich kann nicht erkennen, was ich tue. Wenn ich nicht sehe, was ich tue, ist es völlig sinnlos.«

Vicki denkt: Verdammt, wo hat der Kerl seine Eier? Versucht es mit ihrer beruhigenden Stimme: »Sie müssen weitermachen, Robert. Nehmen Sie wieder Ihren Gürtel. Kratzen Sie weiter. Vielleicht benutzen Sie auch Ihren Schuh, um den Dorn ins Holz zu treiben. Damit es besser splittert.«

»Behandeln Sie mich nicht so von oben herab.«

»Das tue ich gar nicht.«

»Das ist nicht meine Art Leben.« Seine Stimme wird lauter. »Ich sehe normalerweise nicht dabei zu, wie Menschen erschossen werden. Ich sehe auch nicht, wie man andere foltert. Ich baue keine Bomben.«

Er steht kurz vor dem Kippen – das weiß sie. Jeden Moment könnte er völlig durchdrehen. Wenn Wainwright durchdreht, haben sie nicht mehr die geringste Chance, hier herauszukommen. Es gibt also nur eine Möglichkeit: ihn zum Helden machen.

»Robert, bitte. Versuchen Sie es noch einmal. Ich brauche dringend einen Arzt. Ich verliere sonst meinen Fuß. Ich flehe Sie an.«

Sie hört, wie er wieder ruhiger atmet.

»In den nächsten Stunden …« Sie beendet den Satz nicht, damit er ihn innerlich beendet. »Bitte, Sie können uns hier herausholen.«

Doch das ist gar nicht nötig. Ein Schlüssel kratzt im Schloss. Dann wird die Tür aufgeschoben. Vicki sieht einen Moment lang Mira Yavari, ehe sie das grelle Sonnenlicht blendet.

»Was tun Sie hier, Dr. Wainwright? Zerstören Sie etwa den Rahmen? Dieses Haus ist denkmalgeschützt, müssen Sie wissen. Es kann strafrechtlich verfolgt werden, wenn man hier etwas kaputt macht. Sie sollten sich schämen.«