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Die Leitstelle meldete sich um 02:47, gerade als Max fand, dass es Zeit für einen Kaffee wäre. »Blitz für NAW 4305 von Florian Berlin, bitte kommen!« Die Funkleitung knackte und rauschte. »NAW 4305, meldet euch!« Ella hatte das Fenster heruntergekurbelt, um die frische Nachtluft in den Wagen zu lassen. Jetzt drückte sie die Sprechtaste und sagte: »Hier NAW 4305.«

»Wo seid ihr gerade?«

»Luisenstraße, auf Höhe der S-Bahn-Überführung. Was gibt’s?«

»Starke Blutung in Kreuzberg«, sagte der Disponent in der Feuerwache durch das knisternde Rauschen. »Vielleicht Schock. Ihr seid am nächsten dran.«

»Adresse?«, fragte Ella.

»Benno-Ohnesorg-Straße 7, Ecke Möckernstraße, oberster Stock. Eine Frau.«

Auf dem Navidisplay am Armaturenbrett erschien die Route vom Standort des Rettungswagens zum Ziel.

»Weitere Angaben?«, fragte Ella, und auf einmal brauchte sie keinen Kaffee mehr.

»Keine weiteren Angaben.«

»Ist jemand bei der Frau?«

»Unbekannt.«

»Wer hat uns gerufen?«

»Ein Mann. Anonym. Er hat nur gesagt, gegenüber stirbt eine Frau. Mehr war nicht, dann hat er aufgelegt.«

Max, der Rettungsassistent, schaltete das Blaulicht des NAW ein, warf einen Blick in den Außenspiegel und sagte: »Schnall dich an, Bambi!« Ella legte den Sicherheitsgurt um. Der Daimler Sprinter schoss mit einem Satz vorwärts, beschleunigte schnell auf siebzig, dann auf neunzig. Die Straße war leer, die Fahrbahn schien ihnen entgegenzufliegen. Der warme Asphalt schimmerte silbergrau im Licht der Straßenlampen. Windböen von der Spree trieben Papier und Staubwirbel durch die Scheinwerferkegel, aber als der Wagen über die Marschallbrücke raste, lag das Wasser ganz ruhig im Mondlicht. Der Fluss blieb zurück, gleich darauf glitt der Reichstag vorbei, die Glaskuppel schwach erleuchtet.

Hinter der mit blauem Neon protzenden ARD-Sendezentrale sprang die Ampel auf Rot, und jetzt schaltete Max auch die Sirene an. Bevor er in die Kreuzung einfuhr, trat er kurz auf die Bremse, beugte sich vor, kein Verkehr von rechts oder links, sodass er wieder Vollgas geben konnte. »Zwei Minuten«, sagte er.

Vor ihnen lag Unter den Linden zwischen grünen Bäumen, Lichterketten, Neon und Schaufensterglanz. Auf der anderen Seite die angestrahlte Fassade des Hotel Adlon, daneben Polizisten mit Maschinenpistolen, die vor der Britischen Botschaft Wache standen. Über den weißen Säulen des Brandenburger Tors der Mond mit einem hellen Hof im tiefen Sommernachtblau.

Max drosselte das Tempo nicht, fuhr geradewegs auf die mit roten Leuchtstreifen gekennzeichneten Eisenpoller zu. »Bremsen! «, rief Ella, aber er dachte nicht daran, und in letzter Sekunden versenkten die Polizisten die beweglichen Eisenpoller im Straßenbelag, gaben die Durchfahrt in die Wilhelmstraße frei.

Ella spürte, wie der scharfe Klang der Sirene über ihrem Kopf auf ihr Zwerchfell drückte. »Drei Minuten«, sagte Max. Ein Doppeldeckerbus, leer bis auf den Fahrer, hielt am Rinnstein, damit sie vorbeikonnten, jetzt noch schneller, hundert, hundertzwanzig unter den blassen, windgeschüttelten Lampen, und die ganze Zeit dachte Ella an die verletzte Frau und dass sie vielleicht zu spät kamen; dass sie gerade starb. Das war ihre größte Angst, zu spät zu kommen, nichts mehr für die Frau oder den Mann oder das Kind tun zu können, zu dem sie gerufen wurden. Sie spürte, wie auch ihr Puls nach oben schoss, auf hundertvierzig, hundertsechzig. Das Blut schien durch ihre Adern zu rasen, schnell und heiß an den Handgelenken, den Schläfen.

Die Kreuzung Leipziger Straße tauchte auf, verwaist und groß wie ein Tennisplatz aus Asphalt, behütet von roten Ampeln im Schatten des Finanzministeriums, früher die Treuhand, und niemand von rechts, niemand von links, nur die schimmernden Hochhäuser des Potsdamer Platzes, und hinter der Kreuzung wieder einsame, breite Fahrbahnen, leer bis auf eine schwarze Luxus-Limousine mit getönten Scheiben und arabischem Nummernschild.

Ella hielt sich am Türgriff fest. Ihr rechter Fuß trat die Fußmatte gegen den Boden, bis die Zehen schmerzten, gib Gas, dachte sie, gib Gas, weg da, Araber, weg da, Taxi, Ampel, werd grün! Plötzlich scherte ein Skoda aus einer Reihe geparkter Fahrzeuge, ohne auf Blaulicht oder Sirene zu achten.

Max drückte auf die Lichthupe und versuchte auszuweichen. Der Sprinter geriet aus der Spur, aber Max steuerte gegen, und der Skoda bremste, und jetzt prallte der Sprinter mit dem rechten Vorderreifen an den Bordstein, schrammte daran entlang und wurde auf die Fahrbahn zurückgeschleudert. Max kuppelte, schaltete und brachte ihn wieder auf Kurs. Mit kreischenden Reifen schoß der Wagen in eine Biegung, auch diesmal behielt Max die Kontrolle über das Fahrzeug und jagte es dicht an der nächsten Kolonne parkender Autos entlang. Ella beugte sich vor, über das Armaturenbrett, als könnte sie den Sprinter so noch schneller machen. Sie starrte auf das Navidisplay, das ihr die ganze Route anzeigte, der Wagen ein roter Punkt, der sich ruckend vorwärtsbewegte, noch ein Stück die Wilhelmstraße entlang, über den Landwehrkanal, dann weiter den Mehringdamm hoch, bis rechts die Yorckstraße kam und gleich wieder links die Möckernstraße.

»Vier Minuten«, sagte Max. Er war nie aufgeregt, nicht äußerlich. Gelassen saß er hinter dem Lenkrad in seinem hellblauen, kurzärmeligen Hemd, kaute Kaugummi und blickte starr nach vorn, ganz selten zur Seite, höchstens mal kurz in den Außenspiegel, außer wenn er in eine Kreuzung einfuhr. Seine Bewegungen waren sparsam, er lenkte, kuppelte, schaltete, gab Gas oder bremste so beiläufig, als säßen sie in einem Autoscooter. Seine Beine in der feuerwehrblauen Hose mit den reflektierenden Streifen schienen Impulsen zu gehorchen, die vom Wagen ausgingen, nicht von ihm. Ella war immer froh, wenn er die Schicht mit ihr teilte. Er war ein guter Rettungsassistent, und er war ein guter Freund, und zwischendurch war er eine Zeit lang ein guter Liebhaber gewesen. Außerdem stand ihm Blau besser als ihr, besonders im Sommer.

»Warum ruft jemand anonym die Rettung an?«, fragte Ella. »Warum meldet ein Mann eine sterbende Frau, ohne die Hausnummer zu nennen, wo wir die Frau finden können? Warum sagt er, oberste Wohnung, und nicht, in welchem Haus? Was bedeutet ›Sie stirbt‹? Das kann alles bedeuten. Und wenn er nicht bei ihr ist, woher weiß er dann, dass die Frau stirbt?«

»Vielleicht hat er sie durchs Fenster gesehen«, sagte Max. Sein Gesicht leuchtete auf und erlosch im Widerschein der Peitschenlampen, leuchtete und erlosch, ein Flackern in Zeitlupe.

Ella schwieg, versuchte sich die Situation vorzustellen, die sie vorfinden könnten. Dann fragte sie: »Hast du den Koffer aufgefüllt? «

Eigentlich eine überflüssige Frage. Das war das Erste, was sie taten, wenn sie einen Patienten abgeliefert hatten: Sie ersetzten die verbrauchten Medikamente, die benutzten Spritzen und geleerten Ampullen. Sie tauschten halb leere Sauerstoffflaschen gegen frische aus und überprüften die Batterien des Monitor-Defibrilator-Systems.

»Vielleicht habe ich den Wodka vergessen«, sagte Max. »Wir haben aber Wein und Bier, Eis ist in der Kühlbox. Ich musste den Defi und den Sauerstoff rauswerfen, damit noch etwas kaltes Huhn reinging.«

»Jetzt weiß ich wieder, warum ich dich mal geliebt habe.«

»Warum hast du aufgehört, mich zu lieben?«

Sie antwortete nicht, sah ihn nur an und dachte, warum hört man auf, jemanden zu lieben?

Rechts huschte eine beleuchtete Kebabbude vorbei, im Fenster drehte sich ein Dönerspieß. »Hast du Hunger?«, fragte Max. »Ich habe Hunger.« Nach einer Minute ein Imbiss – Halbes Hähnchen, Fritten und Cola 2,60 Euro, unschlagbar – und ein 24-Stunden-Kiosk. »Ich komme um vor Hunger!« Max raste auf die Kreuzung zu, ohne vom Gas zu gehen, trotz roter Ampel. »Achtung, rechts!«, rief Ella, denn auf der Anhalter Straße näherte sich ein Taxi. Der Wagen fuhr schnell, bremste aber in letzter Sekunde, denn Max bremste nicht. Eine schwarz verschleierte Frau mit einem Fahrrad voller Tüten blieb gerade noch rechtzeitig am Bordstein stehen, und Max sagte: »Was hat die denn jetzt noch hier zu suchen?!«, und Ella rief: »Paß auf!«, denn der Wagen geriet wieder mit zwei Rädern auf den Bürgersteig, rammte beinahe eine Litfaßsäule, aber nur beinahe, und jetzt war die Straße frei, fast bis zur S-Bahn-Überführung. »Fünf Minuten«, verkündete Max und sah Ella zum ersten Mal an, seit sie losgefahren waren. »Wo wir gerade von Liebe reden: Ich bin Silvan begegnet, auf dem Gang vor der Kardiologie. Er sah aus, als würde er am offenen Herzen operiert, live vor meinen Augen und bei vollem Bewusstsein.«

»Ich habe ihn vor die Tür gesetzt«, sagte Ella.

»Und er ist tatsächlich gegangen?«

»Nein. Deswegen habe ich seine Sachen gepackt und an seiner Stelle rausgeschmissen.«

»Wenn du willst, kannst du bei mir bleiben, bis ihr alles geklärt habt«, sagte Max.

»Es ist schon alles geklärt.« Der Sprinter raste auf die Mehringbrücke zu und gerade, als er die sechsspurige Brücke über den Landwehrkanal erreichte, schaltete die Ampel die Hallesche Straße für den Gegenverkehr frei. Die Sirene reichte Max nicht mehr, er drückte auch noch auf die Hupe, hupte und schaltete, niemand rechts, niemand links, und dann waren sie auf der Brücke, und vor dem nachtblauen Himmel über ihnen ratterten die gelb leuchenden Fenster eines S-Bahn-Zugs von Stahlträger zu Stahlträger.

»Sechs Minuten«, sagte Max. »Diesmal schaffen wir es nicht unter acht.«

Hinter dem Kanal fing es auf einmal an zu regnen, ein dichter Sommerregen, schwere Tropfen, silberne Lamettafäden, die hart auf den warmen Asphalt schlugen und zu kleinen Fontänen zerplatzten. Die Scheibenwischer klappten hin und her, schabten zwei Halbkreise auf die Windschutzscheibe, um die herum die Nacht in schimmernden Bächen zerlief.

Auf einem kleinen Asphaltplatz rechts vor einem Club neben dem Tanz Palast stand ein Pulk Raver am Rinnstein, feierte eine Freiluftparty, in den Händen Red Bull-Dosen, Handys und brennende Zigaretten. Etwas weiter lärmte ein halbes Dutzend junger Türken oder Araber in weißen Trainingsanzügen, taten so, als gehörte der Bürgersteig ihnen. Unter dem Vordach eines Biomarktes lungerte eine Horde Punker, Bierflaschen zwischen den Füßen, bunte Frisuren, Lederjacken, alle betrunken, nur die Hunde nicht.

Eine Ampel blitzte vorbei, noch mehr Lichter, die Ecke Yorckstraße, ein Imbiss, Tag-und-Nacht-Betrieb, hungrige Streuner am Straßenrand. »Festhalten!« Max riss das Steuer nach rechts, mitten auf der Fahrbahn, die Reifen jaulten, schmierten Gummi auf den Asphalt. Der Wagen neigte sich, schien zu kippen und kippte doch nicht. Max gab wieder Gas, schlug das Lenkrad leicht nach links ein, jagte den Wagen über einen Riss in der Straße, und der Sprinter hob ab, schoss durch die Luft, ein paar Millisekunden Zauberteppich auf Speed, dann die Landung und noch einmal links rein und runter vom Gas, mehrmals kurz bremsen, endlich rechts die Benno-Ohnesorg-Straße. »Sieben Minuten.«

Es war eine schmale Straße, gesäumt von ein paar Bäumen, einem Gewerbehof und ein paar kleinen Läden in einer Häuserzeile aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Die Bäume waren dicht belaubt, und die Blätter schimmerten nach dem Regen, der genauso plötzlich wieder aufgehört hatte. Die nasse Fahrbahn dampfte im Licht der Scheinwerfer. Die Wischer quietschten auf der schnell trocknenden Scheibe, und Max stellte sie ab.

Das Flackern der Blaulichtleiste auf dem Dach huschte über die Gebäudefassaden und die Straße. Max schaltete auch das Martinshorn aus. Langsam steuerte er den Sprinter die Straße hinauf, an den rechts und links geparkten Fahrzeugen entlang. Der rote Punkt auf dem Display des Navis blieb stehen. »Da vorn muss es sein, das vierte Haus«, sagte Ella, und jetzt konnte sie ihren rasenden Herzschlag in ihrer Stimme vibrieren hören. »Das mit dem Gerüst.«

»Ich kann kein Licht sehen«, sagte Max.

Auf der anderen Straßenseite lag ein Park, die schwarzen Kronen der Bäume rauschten im Wind. Die Bürgersteige waren verwaist. Die Laternen spendeten nur wenig Helligkeit, und die Fenster der Häuser waren dunkel. Max hielt vor dem Haus mit dem Gerüst und schaltete zusätzlich zum Blaulicht noch die Warnblinkanlage ein.

»Hoffentlich macht einer auf«, sagte er. »Wo bleibt die Feuerwehr? «

»Ist wahrscheinlich jeden Moment da«, sagte Ella. »Wir gehen schon mal rauf.«

Sie stöpselte den Ohrhörer ein, stieß die Tür auf und sprang aus dem Wagen. Sie griff nach dem tragbaren Defibrilator, Max nahm den großen Notfallkoffer. »Bestimmt gibt es wieder keinen Fahrstuhl«, sagte er. »Es gibt nie einen Fahrstuhl, wenn wir in den obersten Stock müssen.«

Aus einem der Hinterhöfe drang Partylärm, Musik und Gelächter. Die nassen Plastikplanen, die das Haus verhüllten, schlugen knatternd gegen das Gerüstgestänge. Ella lief zur Eingangstür und drückte gegen den Türknopf. Die Tür gab nicht nach. Ella sah an der verhüllten Fassade hoch; nirgendwo im Haus brannte Licht. Unter dem Gerüst war die Dunkelheit so dicht, dass sie die Klingelknöpfe nicht sehen konnte. Sie holte eine Stablampe aus ihrer Jackentasche und richtete den Leuchtstrahl auf das Schloss, dann auf die Klingeltafel neben der Tür. Fünf Stockwerke mit je zwei Klingeln, nur eine für die oberste Etage, einige Namensschilder fehlten. Eine Gegensprechanlage gab es nicht. Die Hausnummer war unleserlich, verschwunden unter weißer Malerfarbe.

Ella drückte erst den obersten Klingelknopf und dann alle anderen so lange, bis der Türöffner schnarrte. Sie lehnte sich gegen die massive Holztür. Ein kühler, feuchter Hauch schlug ihr entgegen, vermischt mit der Ausdünstung von Farbe. Sie stieg über die Schwelle und rief: »Rettungsdienst!«

Im Treppenhaus suchte sie den Lichtschalter mit dem Strahl ihrer Lampe. Es war ein alter schwarzer Drehknopf, und als sie ihn betätigte, ging weit oben eine Behelfslampe in einem Drahtkorb an, die einen kaum sichtbaren Lichtschimmer in den Stiegenschacht warf. Noch einmal rief sie: »Hallo?! Hat hier jemand den Notarzt gerufen?!« Ihre Stimme hallte im Treppenhaus. Auch diesmal gab es keine Antwort, nur das Geräusch einer Tür, die geöffnet und gleich wieder geschlossen wurde.

»Also los«, sagte Max und lief schnell voran, die schmale Treppe hinauf. Seine weißen Turnschuhe und die reflektierenden Streifen an den Hosenbeinen schimmerten silbrig. Auf den Holzstufen lag Bauschutt, ein Presslufthammer. Stromkabel schlängelten sich über Teerpappe. Ella versuchte mit Max Schritt zu halten, in der einen Hand den schweren Defi, in der anderen die Lampe. Sie hörte ein Krachen über sich, dann einen unterdrückten Fluch, gefolgt von einem Stöhnen. »Verdammter Mist! Bambi?«

»Was ist?«

»Ich glaube, ich hab’ mir den Knöchel verstaucht!«

Sie erreichte den Absatz auf dem zweiten Stock, richtete die Lampe auf Max, auf sein schmerzverzerrtes Gesicht. »Das Scheißding lag unter der Pappe!« Er betastete sein linkes Fußgelenk, das bereits anzuschwellen begann. Daneben ragte ein Schraubenzieher ein Stück unter einem Streifen Teerpappe hervor. »Mach schon, warte nicht auf mich!«

»Bist du sicher?«

»Klar, ich komme gleich nach.«

»Nein, ruf lieber Hilfe. Sorg dafür, dass sie noch einen Notarztwagen oder ein Einsatzfahrzeug schicken.«

Ella nahm die Stablampe in den Mund, hielt sie mit den Zähnen. Sie griff nach dem Notfallkoffer und stieg weiter die Treppe hinauf, folgte dem Lichtstrahl über die Stufen, ließ sich vom Adrenalin nach oben tragen. Sie erreichte die oberste Etage, auf der es nur eine Tür gab, mit gehämmertem Aluminium beschlagen, kein Namensschild, keine Klinke über dem Schloss, aber ein Klingelknopf. Einen Moment lang war ihr schwindlig, und sie spürte einen stechenden Druck hinter den Augen.

Sie stellte Koffer und Defibrillator ab und nahm die Taschenlampe aus dem Mund. Sie klingelte. Sie konnte die Klingel nicht hören. »Hallo?! Können Sie aufmachen?! Rettungsdienst!« Sie schlug mit der Faust gegen die Tür und klingelte noch einmal, und wieder geschah nichts. »Brauchen Sie da drinnen einen Notarzt?«

Weit unten auf der Treppe hörte sie Max stöhnen. Gleich darauf erklang ein Scharren, als versuchte er, sich die Stufen hochzuziehen. Guter Max, gab niemals auf, ein Assistent, auf den man sich verlassen konnte. Warum musste er sich ausgerechnet jetzt den Knöchel verstauchen? Verdammt, wie soll ich in die Wohnung kommen ohne Feuerwehr? Was ist, wenn die Patientin stirbt, weil wir nicht rechtzeitig –

Plötzlich ertönte ein Schrei. Es war ein lang gezogener Schrei von jenseits der Tür. Noch nie hatte Ella jemanden so schreien hören, keine Frau, keinen Mann, überhaupt kein lebendes Wesen. Mein Gott, was ist das?! Gerade als sie glaubte, der Schrei werde niemals enden, verstummte er abrupt, und da war nur noch Stille.

»Max?«, sagte Ella leise, den Mund dicht am Schultermikro des Sprechfunks, »hörst du mich? Hast du die Feuerwehr erreicht? «

Es knisterte in ihrem Ohrstöpsel, aber Max antwortete nicht. Vielleicht ist sein Mikro bei dem Sturz kaputtgegangen, vielleicht kann er mich hören, nur nicht antworten.

»Max, hier stimmt was nicht. Kannst du mich hören?«

Noch immer keine Antwort, nur das tote Knistern.