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Ella kniete nieder, nahm die Lampe wieder zwischen die Zähne und öffnete den Notfallkoffer. Hoffentlich war die Tür nicht abgesperrt. Sie leuchtete in die Tasche, suchte das Aqua Gel. Sie öffnete eine Ampulle und spritzte das Gleitmittel in das Schloss und zwischen Türfüllung und Rahmen, dorthin, wo sie die Eisenzunge vermutete. Sie nahm eins der einzeln verpackten Einmalskalpelle aus der sterilen Verpackung und schob die Klinge in den Spalt, in den sie das Gel gespritzt hatte, bis sie Widerstand spürte.

Langsam gab die Eisenzunge nach, erst nur zäh, aber als das Gel darüberglitt, ging es leichter. Ella stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür, setzte ihr ganzes Körpergewicht ein. Das Schloss hakte einen Moment, dann löste sich eine Sperre, und die Eisentür schwang nach innen, ohne dass Licht herausfiel. Ein warmer Luftzug strich ihr über das Gesicht, und plötzlich zog sich ihre Kopfhaut zusammen. Ella ließ das Skalpell fallen.

Was ist das für ein Geruch?

Sie nahm die Lampe wieder aus dem Mund, schloss den Notfallkoffer und hob ihn auf. »Rettungsdienst!« Sie hinderte die Tür mit der Schulter am Zufallen, richtete den Strahl der Taschenlampe auf den Boden vor sich und trat über die Schwelle in die Dunkelheit dahinter. »Hallo?!«

Der Lichtkegel geisterte über schwarz gebeizte Holzbohlen, durch einen weitläufigen Flur, an hellgrau gestrichenen Wänden hinauf, erfasste ein gerahmtes Gemälde, Pastellfarben, und glitt wieder hinunter. Ein Schleier winziger roter Punkte, wie mit einer Sprühpistole aufgetragen, zog sich über eine der Wände.

Was ist das bloß für ein scheußlicher Geruch?

»Max? Wenn du mich hören kannst, ich brauche Hilfe hier oben!«

Sie suchte nach einem Lichtschalter und drückte ihn. Es blieb dunkel. Vorsichtig ging sie weiter, tiefer in die Wohnung hinein. Der Strahl der Lampe huschte über die besprühten Wände, über wertvoll aussehende Möbel und Teppiche, alle mit roten Punkten übersät. Ella achtete nicht darauf, wohin sie trat, und auf einmal spürte sie, wie die Sohle ihres rechten Turnschuhs den Halt verlor. Sie rutschte aus, fing sich aber, bevor sie stürzen konnte.

Sie richtete den Strahl wieder auf den Boden. Glassplitter blinkten, als hätte jemand die Lampen zerschlagen. Glänzende Wasserlachen bedeckten die Ebenholzbohlen. Etwas weiter in den Salon hinein wurden sie rot, und da begriff Ella; endlich begriff sie, dass es gar keine rote Farbe war überall vor ihr in der Wohnung.

Genau in diesem Moment hörte sie ein unheimliches Wimmern. Langsam ging sie weiter. Sie richtete den Strahl der Taschenlampe erst auf die Glassplitter in den Blutlachen auf dem Boden und dann auf ein rot glitzerndes Bündel in der Mitte des großen Raums gleich vor ihr, aus dem das Wimmern zu dringen schien.

Kehr um! Warte auf Hilfe!

Ihre Schuhe quietschten auf dem nassen Boden. Mit jedem Schritt sah sie mehr von dem Raum und dem wimmernden Bündel, und erst als sie schon ganz nah war, erkannte sie, dass es sich bei dem Bündel um einen Menschen handelte. Er oder sie lag auf dem Rücken, und dort, wo die Brust sein musste, die nackte Brust, hob und senkte sich etwas in unregelmäßigen Abständen. Die Arme und Beine zitterten, und das entstellte, blutüberströmte Gesicht wandte sich nun fast bedächtig Ella und dem Licht zu.

O Gott, dachte Ella. O Gott. Etwas Fürchterliches war mit diesem Gesicht geschehen. Ich bin Ärztin, sagte sie. Dann sagte sie es noch einmal, »Ich bin Ärztin«, denn beim ersten Mal war kein Ton herausgekommen. »Ich bin hier, um Ihnen zu helfen. « Sie stellte Defi und Koffer ab und beugte sich über die wimmernde Frau – es ist doch eine Frau, sie haben gesagt, dass es eine Frau ist –, und dabei versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen. Sie sah die Hand mit den fehlenden Fingernägeln in der Blutlache, in der die Frau lag, und sie sah die Wunden, die nackte, in Streifen geschnittene Haut, und sie versuchte immer noch, sich nichts anmerken zu lassen.

»Wie ist das passiert?«, fragte sie. In ihrem Verstand formte sich ein Bild, das sie sofort wieder verdrängte. »Können Sie sprechen?«

Die Frau sah zu ihr auf und öffnete die entstellten Lippen, aber sie brachte nur ein Röcheln zustande, denn auch der ganze Mund war voller Blut. Trotzdem versuchte sie weiter, ihr etwas zu sagen, jetzt mit den Augen. Ella kniete sich hin, neben den Oberkörper der Frau. Sie öffnete den Koffer, holte ein Paar sterile Handschuhe heraus und streifte sie über. Behutsam drehte sie den Kopf der Verletzten auf die Seite, damit sie nicht erstickte.

Sie muss Unmengen von Blut verloren haben. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Wo soll ich bloß anfangen?

Sie legte die Taschenlampe auf den Boden, wo sie sacht hin und her rollte. Sie tastete über der Halsschlagader der Frau nach einem Puls, der so schwach war, dass sie ihn kaum fühlen konnte, aber schnell, rasend schnell. Sie beugte sich über den Mund der Frau, und da bemerkte sie hinter ihrem Kopf die großen, glitzernden Glasscherben in dem schwankenden Lichtkegel und dazwischen seltsame, wimmelnde Bewegungen. Etwas zuckte, zappelte und hüpfte in der roten Nässe auf den Holzbohlen.

Fische.

Der ganze Boden war voll davon, kleine und große Zierfische in schimmernden Farben, Rot, Türkis, Hellblau, Gelb, Farben wie tropische Sonnenuntergänge mit irisierenden Schuppen, die leuchteten, erloschen und wieder aufleuchteten. Zitternde Körper mit starren, glimmenden Augen und breiten, nach Sauerstoff schnappenden Mäulern.

Ella hörte ein Knistern im Ohrstöpsel. Doch ehe sie antworten konnte, vernahm sie noch etwas anderes, ein Geräusch, das nicht von der verletzten Frau und auch nicht von den Fischen herrührte. Es klang, wie wenn jemand, der lange still gestanden hatte, sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte.

Die Atmung der verletzten Frau beschleunigte sich, das Zittern ihrer Beine wurde stärker. Sie versuchte den Kopf zu heben, nackte Panik in den Augen. »… est là«, flüsterte sie röchelnd, »… est là …«

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte Ella und beugte sich noch weiter vor, bis ihr Ohr fast die zerfetzten Lippen der Frau berührten.

»… ist noch da … ist noch da …«

»Was?«, fragte Ella.

»… ist noch da …«

Ella spürte, wie die Atmosphäre in dem Zimmer sich veränderte. Ein eiskalter Fleck bildete sich zwischen ihren Schulterblättern. Auf einmal hörte sie Laute, die ihr vorher nicht aufgefallen waren. Zu dem leisen Klatschen der erstickenden Fische in dem ausgelaufenen Wasser und dem winselnden, röchelnden Atmen der blutenden Frau gesellte sich das flüsternde Ablaufen der letzten Regentropfen aus der Rinne draußen vor den Fenstern, der ferne Partylärm in einem der Hinterhöfe, das Rascheln der Plastikplanen an dem Gerüst, mit dem das Haus verkleidet war.

Aber das war nicht alles, es gab noch mehr, kein Geräusch, etwas, in einem der anderen Räume.

Wir sind nicht allein. Etwas ist in der Wohnung. Jemand.

Ella spürte das Kräftefeld eines menschlichen Wesens, das sich näherte. Gleichzeitig schälten sich mehr und mehr Einzelheiten aus der Dunkelheit: ein wuchtiger Schreibtisch, eine lederbezogene, dreiteilige Sitzgruppe, ein großer Flachbildfernseher an der Wand vor der Couch. Ein Kamin, ein deckenhohes Bücherregal, eine Stehlampe neben dem Gang, der tiefer in das offenbar weitläufige Penthouse führte. Die zersprungenen und verbogenen Trümmer eines Aquariums auf dem Boden vor dem Fenster. Halb zugezogene Vorhänge. Eine Stereoanlage auf einer Kommode unter dem Fernsehschirm. Bilder an den Wänden und noch mehr Bücher in Stapeln auf dem Boden. Das Fenster stand offen.

Plötzlich geschah etwas mit der Zeit, ein Teil von ihr verlangsamte sich, der Teil, in dem Ella sich befand. Während um sie herum alles weiter mit der üblichen Geschwindigkeit passierte, verlangsamte sich ihr eigenes Leben, ihr Herzschlag, ihr Atem, ihre Bewegungen, sogar ihre Gedanken.

Sie dachte, ich muss die Frau intubieren, wahrscheinlich ist die Sauerstoffsättigung schon unter 80, sie braucht Sauerstoff, sonst erstickt sie.

Sie dachte, ich muss sie ans EKG anschließen, einen Zugang legen und ins Koma versetzen, ihr Kochsalz geben, sonst stirbt sie am Blutverlust.

Sie dachte, ich muss sie stabilisieren, ihren Kreislauf stützen, sonst erleidet sie einen Herzstillstand.

Sie dachte, ich muss ihr Morphium spritzen gegen die Schmerzen.

Aber vor allem dachte sie, er ist noch hier. Der Jemand, der das getan hat, ist noch hier, und er ist noch nicht fertig.

Sie hörte seine Schritte. Die Haut in ihrem Nacken kribbelte. Schweiß rann ihr über den Rücken, zwischen die Beine. Sie hörte, wie er näher kam; leise, langsam, kaum wahrnehmbar. Ein Rascheln von Stoff, das Knistern von Plastik. Gedämpftes Atmen, wieder ein Knacken, ein anderes diesmal, als versuchte jemand, eine Verspannung zu lösen, indem er den Kopf hin und her drehte.

Sie dachte, wir haben ihn gestört, bevor er fertig war. Er kann nicht zulassen, dass wir sie mitnehmen, dass wir sie retten, dass sie redet. Sie hat ihn erkannt.

Sie dachte, du bist keine Ärztin mehr. Du bist das nächste Opfer.

»Max!«, rief sie. Die beiden Zeitebenen verschmolzen wieder, und sie rief noch einmal: »Max, ich brauche dich hier!«, damit der Mann, der fast geräuschlos durch den dunklen Flur näher kam, wusste, dass sie nicht allein war. Sie griff nach der Lampe und leuchtete in den Flur, in dem sie das Rascheln gehört hatte. Der Lichtkegel glitt über die zappelnden Fische, verlor sich in der Finsternis. Unvermittelt schnappte die verletzte Frau mehrmals nach Luft, dann hörte sie auf zu atmen; sie zitterte auch nicht mehr.

Ella brauchte Hilfe, allein konnte sie die Frau nicht versorgen. Aber ich muss es versuchen, selbst wenn im Lehrbuch was anderes steht. Ich muss es wenigstens versuchen. Bloß wo sollte sie eine Vene finden, um die Injektionsnadel zu setzen? Die Frau hatte keine fühlbare Venenspannung mehr, weil es kaum noch Blut in ihrem Körper gab. Man musste erst ein Stauband anlegen, aber wo?

Es hat keinen Sinn, lauf weg! Lauf weg und warte auf Hilfe.

Nein, ich kann sie nicht alleinlassen.

Warum nicht, verdammt? Warum kannst du sie nicht einfach hier liegen lassen? Sie stirbt wahrscheinlich sowieso.

Nein.

Denk an das Kaninchen. Denk an den Habicht.

Wenn du jetzt wegläufst, wird der Habicht zurückkommen und seine Arbeit beenden.

Ella richtete den Strahl der Lampe auf das zerstörte Gesicht, sah nur Blut und aufgerissenes Fleich und weite, lichtstarre Pupillen. Rasch tastete sie nach der Arteria carotis communis, suchte einen Puls und fand keinen mehr, nicht den geringsten. Alles stand still, Herz, Kreislauf, die Frau starb. Verdammt, ich verliere sie, ich brauche den Defi. Aber das Risiko war zu groß: Die Brust der Frau war nass, sie lag in einer Lache aus Blut und Wasser.

Ella nahm die Lampe zwischen die Zähne, richtete sich halb auf und stemmte sich mit beiden Händen auf die Brust der Frau, auf das zerschnittene Fleisch. Als sie auf den gebrochenen Rippen Halt gefunden hatte, drückte sie und ließ nach, drückte und ließ nach und drückte, drückte, drückte. Komm schon, atme, atme! Sie ließ die Augen nicht vom Gesicht der Frau, aber nichts geschah, die Augen blieben leblos, die Atmung setzte nicht wieder ein.

Sie hob beide Hände, verschränkte die Finger und schlug mit aller Kraft auf die Brust, keine Sorge mehr wegen der Rippen, sie ist ja schon tot. Der Körper der Frau hüpfte ein wenig, und als Ella noch einmal zuschlug, so heftig, wie sie konnte, hüpfte er wieder, und das war alles. Die Atmung blieb weg, der Puls kehrte nicht zurück.

Ella kauerte sich auf die Fersen, zog hastig den Koffer heran und holte eine Injektionsnadel und eine Phiole mit Noradrenalin heraus. Dazu brauchte sie die Taschenlampe nicht, das konnte sie blind, die Spritze auspacken, die Phiolenkappe abbrechen, die Spritze aufziehen, die Luft rausdrücken und die Nadel zwischen den Rippen ins Herz stoßen, um den Inhalt hineinzupumpen. Sie konnte spüren, wie der Herzmuskel zündete und ansprang; fast wurde ihr die Spritze aus der Hand geprellt.

Ein Ruck lief durch den Körper der Frau. Sie schnappte wieder nach Luft, verschluckte sich, und auf einen Schlag kehrte das Leben in ihre Augen zurück. Jählings schrie sie vor Schmerz. Ein endloser Schrei entrang sich ihrer Kehle. Sie schrie und hörte nicht wieder auf.

Ella fuhr entsetzt zurück, ihr Blick irrte Hilfe suchend durch den Raum. Da sah sie ihn. Dort, wo der Flur zu den hinteren Räumen begann, veränderte sich die Dunkelheit, schien sich zu verdichten, nahm Kanten und Konturen an, die Gestalt eines Mannes. Der Mann stand völlig bewegungslos da und starrte sie an. Wie ein Raubtier, dem der Wind ihre Witterung zugetragen hatte. Wie der Habicht.

Sein Gesicht blieb im Schatten, nur die Augen glänzten wie schwarzer Quartz, und noch etwas glänzte, etwas, das er in der Hand hielt. Ein Messer. Ella spürte, wie ihre Brust sich zusammenzog, alles in ihr erstarrte. Ihre Nerven, zu dünnen Saiten gespannt, rissen mit einem Schlag.

»Max«, schrie sie, »Max, Max, Max – «

»Wo bist du?« Das war er, das war Max, ächzend stemmte er die Tür zum Treppenhaus auf, Gott sei Dank, Gott sei Dank, und Ella rief: »Hier, hier, bin ich!« Sie suchte die Taschenlampe, packte sie und schwenkte sie hin und her, bevor sie den Strahl auf den Flur richtete, auf die Stelle, wo sie für Sekunden die Gestalt des Mannes gesehen hatte. Aber jetzt war die Stelle leer, und der Vorhang an dem Fenster zum Hinterhof schlug sacht hin und her. Das Gerüst vor dem Fenster erbebte unter hallenden Schritten, die schnell leiser wurden.

»Du meine Güte, was ist denn hier los«, sagte Max leise, während er sich humpelnd an der Korridorwand entlangtastete.

Ellas Stimme überschlug sich. »Die Patientin muss sofort ins Koma versetzt werden. Komm, hilf mir den Zugang zu legen, wir müssen eine Vene finden, die noch nicht schlappgemacht hat. Such die Medis raus, Kochsalz, Morphium. Ich schließe das EKG an. Sie braucht Sauerstoff, wir müssen intubieren. Sie war schon klinisch tot, ich habe sie zurückgeholt, aber wenn wir nicht – «

Max stützte sich mit einer Hand an der Wand ab. »Ach, du Scheiße …« Er balancierte auf dem unversehrten Bein, drehte den Kopf und begann zu würgen. Er schluckte und schluckte.

Von der Tür her fiel ein weiterer Lichtstrahl in die Wohnung. Eine Männerstimme rief: »Hallo? Waren Sie das im Treppenhaus? Ich habe Ihnen aufgemacht, zwoter Stock! Brauchen Sie Hilfe?«

»Ja.« Ella stand auf und warf Max einen Blick zu. »Ich hole die Trage. Ist die Feuerwehr da?«

Max sagte nichts.

»Max, ich geh runter. Bleib solange bei ihr.«

Max nickte. Er sagte noch immer nichts. Er starrte sie nur an, und als sie zur Tür kam, starrte der Nachbar aus dem zweiten Stock sie genauso an. Ihre Handschuhe waren voll Blut, und ihr hellblaues Hemd war schweißnass. »Laufen Sie runter zum Rettungswagen und holen Sie die Trage«, bat sie den Mann, der nicht mehr jung, aber kräftig wirkte. »Die Hecktür ist unverschlossen. Sie müssen mir helfen, die Verletzte nach unten zu tragen.«

»Was ist denn hier passiert?«, fragte der Mann. Er versuchte, an Ella vorbei in die Wohnung zu spähen. »Sieht das schnieke aus hier! Sind wohl feine Leute, die hier wohnen, was? Und uns im zweiten Stock drehn se den Strom ab und – «

»Jetzt gehen Sie schon die Trage holen!«, sagte Ella, und ihr selbst kam ihre Stimme gar nicht so laut vor, aber der Mann wich zurück, die Hände erhoben, als hätte sie ihn bedroht. »Ist ja gut, bin schon unten …«

Ella sah ihn noch die Treppe hinunterlaufen, dann gaben ihre Beine nach. Sie kippte gegen die Wand und rutschte daran zu Boden. Einen Moment lang saß sie nur da und zitterte, und ihre Knie schlugen gegeneinander wie Kastagnetten.