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Zum ersten Mal bemerkte sie den grauen Audi Quattro im Rückspiegel, als sie von der Yorckstraße auf den Mehringdamm bog, und etwas später wieder kurz vor der Brücke. Obwohl sie schnell fuhr, über hundert, folgte er ihr, ohne zurückzufallen. An der ersten roten Ampel hinter dem Kanal musste er aber stehen bleiben, und als sie ihn danach nicht mehr entdeckte, dachte sie, dass sie sich wahrscheinlich getäuscht hatte. Mit Blaulicht und Sirene steuerte sie den Sprinter über die Wilhelmstraße, und die ganze Zeit betete sie, lass sie nicht sterben, bitte, lieber Gott, lass sie nicht sterben.

Sie nahm den Fuß kaum vom Gaspedal, obwohl die Straße hier noch nass war, und das Licht der Scheinwerfer auf dem glitzernden Asphalt sie blendete. Ihre Augen brannten; sie war gleichzeitig todmüde und hellwach.

Durch das Überwachungsfenster konnte sie Max und die Trage mit der verletzten Frau hinter sich unter Beobachtung halten. Sie blickte in den Innenspiegel und sah das Blut und manchmal Max, wenn er sich von seinem Platz auf der Seitenbank vorbeugte, um den Sauerstoff zu regulieren oder eine neue IV-Einheit anzuschließen. Die Frau regte sich nicht. Sie hatten sie ins künstliche Koma versetzt und einen Trachealtubus gelegt, weil die Sauerstoffmaske auf dem zerstörten Gesicht keinen Halt fand. Dann war der Nachbar aus dem zweiten Stock mit der Trage gekommen und hatte ihr geholfen, die Frau und den Sauerstoff auf die Trage zu legen und nach unten zu tragen.

Max war hinter ihnen hergehumpelt, eine Hand am Treppengeländer, EKG und Infusionsbeutel in der anderen. Unten hatten sie die Frau in den Wagen gehoben, und danach war sie noch einmal nach oben gegangen, um Defi und Notfallkoffer zu holen. Max hatte sich zu der Verletzten gesetzt, um die Instrumente im Auge zu behalten und die Herzaktivität zu überwachen. Von dem Mann, der in der Wohnung gewesen war, hatte Ella nichts gesagt; einen Moment lang war sie nicht einmal mehr sicher gewesen, ob sie ihn überhaupt gesehen hatte.

Vielleicht hast du ihn dir nur eingebildet, eine Halluzination.

Sie war hinters Steuer geklettert und hatte Funkkontakt mit der Leitstelle aufgenommen. »NAW 4305 an Florian Berlin. Wir sind noch in der Benno-Ohnesorg-Straße und fahren jetzt los. Wir bringen die Patientin in die Rettung der Charité Campus Mitte. Die sollen einen OP und ein Bett auf der Intensivstation vorbereiten. Die Frau hat viel Blut verloren und steht unter Schock. Sie war schon klinisch tot.«

Sie hatte den Motor gestartet, das Martinshorn eingeschaltet und den Sprinter wieder auf die Yorckstraße gesteuert. An der Ecke zum Mehringdamm war ihr dann endlich die Feuerwehr entgegengekommen, viel zu spät. Der Leiterwagen fuhr vorbei, aber im Rückspiegel sah Ella, dass er plötzlich bremste und wendete, und da hatte sie auch den Audi Quattro entdeckt, der abbog, wenn sie abbog, und beschleunigte, wenn sie beschleunigte.

Und da dachte sie, das ist er, er ist nicht weggelaufen, er hat gewartet.

Sie trat das Gas voll durch. Das Licht der Straßenlampen wischte über ihre mit getrocknetem Blut verklebten Hände, die das Lenkrad fest umklammerten. Sie war plötzlich müde, und als der Audi hinter dem Kanal nicht wieder auftauchte, dachte sie, du spinnst, und musste lachen, einen winzigen Augenblick lang.

Die Currybude an der Yorckstraße war noch offen, der Tutti Frutti Club lockte weiter mit Frauen, die an Stangen tanzten. Aber die meisten Streuner waren verschwunden, genauso wie die Raver, die Türken und Araber. Auch die Skins, die Punker und die letzten Prostituierten hatten sich mit der Dunkelheit aufgelöst wie Gestalten im bunten Geflitze eines Videoclips.

Die Leitstelle meldete sich, und als Ella den Empfang bestätigte, sagte der Disponent: »Hör zu, Ella, ihr müsst eure Patientin in die Charité nach Wedding bringen, in Mitte ist alles voll – «

»Geht nicht«, sagte Ella. »Ist zu weit.«

»Dann nimm ein anderes Krankenhaus in der Nähe, bring sie ins Urban«, beharrte der Disponent. »Es hat ein Feuer in einer Diskothek gegeben, fünfzehn Tote und über fünfzig Verletzte. Die meisten werden in die Notaufnahme von Mitte gebracht, und die Intensivstation hat kein Bett mehr frei!«

»Sie stirbt, wenn ich sie woanders hinbringe«, erklärte Ella. »Sie hat praktisch kein Gesicht mehr, jemand hat ihr ein paar Zähne ausgeschlagen, mehrere Rippen gebrochen, die Haut von Oberkörper und Gesicht in Streifen geschnitten und sämtliche Fingernägel der rechten Hand ausgerissen.«

Einige Sekunden lang herrschte Schweigen am anderen Ende, nur Rauschen und Knistern und Stimmen im Hintergrund. »Jemand? Wovon sprichst du?«, fragte der Disponent endlich.

»Von einem Wahnsinnigen«, sagte Ella erschöpft, »einem Monster. Kannst du bitte die Polizei anrufen? Die Kripo sollen sich das mal ansehen …«

»Wie ist der Name des Opfers?«

»Wir haben keinen Namen.«

»Was stand denn an der Tür?«

»Da stand nichts. Ich mache jetzt Schluss.«

»Ella«, der Disponent hob die Stimme, »du musst eine andere Notaufnahme ansteuern, in der Luisenstraße stauen sich die Rettungsfahrzeuge – «

»Ich bin gleich da«, sagte Ella. »Ich sorge dafür, dass sie drankommt. Sie ist meine Patientin, und ich bringe sie durch.«

Der Wind blies einen Schwall Wasser von der S-Bahn-Überführung auf ihre Windschutzscheibe herunter. An der Kreuzung dahinter schaltete eine Ampel auf Rot. Das Wasser auf der Scheibe glühte auf, wurde von den Wischerblättern beiseitegefegt. Ella trat kurz auf die Bremse und blickte in den Innenspiegel. Max hielt die Trage mit der Verletzten fest. Die Kreuzung war leer. Ella trat das Gaspedal wieder durch. Sie spürte die Kraft des Motors in ihrem Bein, dann in der Brust. Der Mehrklang des Martinshorns auf dem Dach höhlte sie aus, legte sich wie ein Druck auf die Ohren. Sie neigte den Kopf nach vorn, rieb sich die Augen, die trockenen Lider.

Bitte, lass sie nicht sterben, ich habe doch getan, was ich konnte, was ich konnte, was ich –

Sie riss die Augen auf. Plötzlich wieder hellwach, sah sie einen Hund nur wenige Meter vor dem Sprinter auf einem Zebrastreifen. Im letzten Moment konnte sie den Wagen nach rechts ziehen, und einige Sekunden lang hatte sie das Gefühl, die Gewalt über den Sprinter zu verlieren. Es war, als schwebte sie. Der Sanka, Max, die Verletzte und sie selbst – wie losgelöst von der Straße trieben sie in den Morgen hinein, schwerelos, und sie hörte nichts mehr, keinen anderen Laut außer ihrem langsam pochenden Herzschlag.

Mit einem Krachen landete der Zauberteppich wieder auf allen vier Rädern, und sie beschleunigte noch mehr. Der Himmel über der Stadt veränderte seine Farbe, schien sich von den Häusern zu lösen. Die Nacht war nicht mehr tintenblau, die Spree bereits heller als das Ufer. Die Straßenlaternen und die Scheinwerfer der Autos verblassten, und das ARD-Blau nahm einen schmutzigen Farbton an. Die deutsche Fahne vor dem Reichstag bewegte sich im staubigen Wind, und es würde wieder ein heißer Tag werden, heiß und windig. Ella tippte ein paarmal auf die Bremse, denn auf der anderen Seite der S-Bahn-Überführung ragte das Bettenhochhaus der Klinik in den Himmel, einundzwanzig Stockwerke, mit dem leuchtenden Schild auf dem Dach, Charité. Die Fenster in den unteren Stockwerken waren noch erleuchtet, während ganz oben schon das Grau des Morgens die aufgehende Sonne ahnen ließ. Ein kurzes Glücksgefühl stieg in Ella auf, du hast es geschafft! Dann hörte sie die anderen Sirenen, und gleich darauf sah sie das blaue Flackern vor sich. Schon auf der Höhe des dreistöckigen Verbindungstraktes zwischen den Gebäuden ging es nicht mehr weiter, und als sie in den Außenspiegel blickte, blitzte auch hinter ihr ein dichter Schwarm von blauen Lichtern: weitere Rettungsfahrzeuge, Streifenwagen und Feuerwehrautos, immer mehr, die aus Richtung des Tiergartentunnels und vom Kappeleufer heranrasten und sich an ihre Stoßstange hängten.

Sie fuhr so weit sie kam, und als es nicht mehr weiterging, stieg sie aus und rannte die Rampe zum Eingang der Notaufnahme hinauf. Hinter dem grünen Glasschutz der Rampe schoben gehetzte Sanitäter Rolltragen mit Schwerverletzten durch die automatischen Türen, reichten Sauerstoffflaschen und IV-Beutel an Pfleger und Schwestern weiter und liefen wieder hinaus, um die nächsten Opfer zu holen. Der Widerschein der Blaulichtleisten auf den in der Zufahrt haltenden Rettungswagen zuckte über die Gebäudefassaden. Ärzte und Verwundete schrien durcheinander. Ella hielt einen Pfleger am Ärmel fest. »Kommen Sie mit, ich brauche draußen Ihre Hilfe!«

»Jetzt nicht«, der Pfleger schüttelte heftig den Kopf, »Sie sehen doch, wie’s hier zugeht!«, aber sie ließ ihn nicht los. »Ich habe eine sterbende Frau im Wagen«, sagte sie, »die verblutet mir, wenn ihr nicht sofort geholfen wird.«

»Hier sterben noch mehr«, antwortete der Pfleger. Sie hielt ihn weiter fest und stand ihm einfach im Weg, bis er aufgab. Max hatte schon die Hintertüren geöffnet und alles vorbereitet, damit die Trage mit der Frau aus dem Sanka gerollt werden konnte, und als der Pfleger die Patientin sah, wurde er blass und packte mit an. Sie hievten die Trage von der Ladefläche und rollten sie in die Klinik. Die ganze Zeit konnte der Pfleger die Augen nicht von der Frau lösen. Sie bahnten sich einen Weg durch die anderen Rettungsteams in der Notaufnahme, und hier war die Frau plötzlich nur einer von vielen verstümmelten Körpern.

Ein Arzt in einem blutbefleckten grünen Kittel lief ihnen entgegen und wedelte abwehrend mit einem Clipboard. Er schüttelte den Kopf. »Wir können niemand mehr aufnehmen.«

»Sie stirbt«, sagte Ella. »Sie muss sofort versorgt werden!«

»Wir haben keinen Platz«, sagte der Arzt. »Sie müssen sie woanders hinbringen!«

»Noch eine Fahrt überlebt sie nicht!«

Für einen Moment gelang es dem Arzt, sie festzuhalten, aber dann sah er ihr in die Augen, und was immer er da sah, veranlasste ihn, zur Seite zu treten. »Bringt sie da hinten hin, ich kümmere mich gleich um sie.« Er schwenkte das Clipboard in Richtung des Gangs zur Intensivstation.

Ella und der Pfleger rollten die Trage durch eine weitere Tür, vorbei an der Notaufnahme, in der alle Bänke und auch die durch Vorhänge voneinander getrennten Pritschen belegt waren. Die Räder der Trage quietschten, eins blockierte immer wieder. Im Laufen beugte Ella sich über die verletzte Frau. Das Blut in ihrem Gesicht war jetzt bräunlich, aber die Haut klaffte wachsbleich, und der Körper wirkte wie geschrumpft unter dem grünen Tuch. Der Trachealtubus, der aus ihrem Mund zum Beatmungsgerät führte, wirkte nicht wie ein Luftschlauch, sondern wie ein Kanal für die Seele, ein Weg, ihren Körper zu verlassen.

»War die auch in der Disko?«, fragte der Pfleger.

»Nein.«

»Was ist denn dann mit ihr passiert?«, fragte der Pfleger. »Sind das Schnittwunden? Sieht aus, als wäre sie durch eine Glasscheibe gefallen.«

»Ja«, sagte Ella, »so sieht es aus.« Nur schemenhaft nahm sie Chirurgen und Pfleger in grünen Kitteln wahr, Rettungssanis in Rot, Notärzte in Blau, Feuerwehrleute mit gelben Helmen und Polizisten in Uniform, die neben oder vor ihnen auftauchten und verschwanden. Im Laufen schob sie das linke Augenlid der Frau hoch. Die Pupille war mittelweit, reagierte aber nicht.

»Sie scheint kaum noch Blut im Körper zu haben«, sagte der Pfleger. Er warf einen Blick auf das unleserliche Krankenblatt, das Max ausgefüllt und an die Trage geklemmte hatte. »Wie viel haben Sie ihr gegeben?«

»Alles, was wir hatten.« Ella kontrollierte den Druckmesser. »90 zu 60. Blutdruck fällt schnell! Sie hat praktisch keinen Puls mehr, von 100 auf 57 seit eben. Ich habe ihr Noradrenalin direkt ins Herz gespritzt, sonst wäre sie jetzt schon – «

»Wie heißt sie? Hier steht kein Name.«

»Sie ist noch nicht dazu gekommen, das Aufnahmeformular auszufüllen«, sagte Ella. Das blockierende Rad klapperte jetzt hin und her.

»Kein Grund, kiebig zu werden«, sagte der Pfleger. »Ich brauche einen Namen.«

»Dann geben Sie ihr einen.«

Ella sah ihn nicht an, sie hatte nur Augen für die Frau auf der Trage. Sie bogen um eine Ecke in einen Korridor, schlugen die Flügel einer durchsichtigen Plastikschwingtür zur Seite und rollten weiter einen langen Korridor entlang, an dessen Ende ein Fahrstuhlschacht lag. »Wie sieht’s auf der Intensiv aus?«, fragte Ella.

»Platzt aus allen Nähten.«

»Ich will ein Bett, egal wie.«

»Keine Chance.«

Die Pieptöne des Herzmonitors wurden schneller. »Druck 70 zu 40«, rief der Pfleger, »Scheiße, das sieht nicht gut aus – «

Ella drehte das Sauerstoffventil weiter auf, und warum hören die Räder nicht auf zu quietschen, und »Dr. Carsten in die Kardiologie«, rief eine Frauenstimme über die Lautsprecheranlage, »Dr. Carsten, bitte sofort in die Kardiologie!«, und ein weiterer Arzt tauchte auf und lief neben ihnen her. Er trug einen Mundschutz, aber trotzdem konnte sie erkennen, dass es ein anderer war als der, der ihr versprochen hatte, sich um die Frau zu kümmern. »Ich übernehme jetzt!«, rief er und lief voraus zum Fahrstuhl. Er drückte auf den Rufknopf, und sie hatten Glück, die Tür öffnete sich sofort.

Die Kabine war leer bis auf einen Jungen mit kahl rasiertem Schädel in einem Klinikhemd.

»Wo bringen Sie sie hin?«, fragte Ella.

»Nach oben, da ist mehr Platz«, antwortete der Arzt, und später, als sie sich alles noch einmal in Erinnerung rief, suchte sie nach einem Anzeichen, das ihr hätte auffallen müssen, einem Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Aber alles, was ihr wieder einfiel, war der Junge mit dem kahl rasierten Schädel in dem Fahrstuhl, dieser kleine bleiche Junge, höchstens sieben Jahre alt, der allein und barfuß in dem grellen Licht des edelstahlverkleideten Lifts stand, in einem knielangen, weißen Klinikhemd, sich ein Auge zuhielt und mit dem anderen herausschaute, als wäre der Lift ein Raumschiff von einem anderen Planeten, in dem er gerade auf der Erde gelandet war, umgeben von außerirdischem Glanz.

»Dr. Carsten, melden Sie sich umgehend in der Kardiologie! «, rief die Stimme in der Lautsprecheranlage.

»Wie heißen Sie?«, fragte Ella den Arzt. »Sagen Sie mir Ihren Namen.« Der Arzt antwortete, nannte vielleicht seinen Namen, bloß dass sie ihn wegen des Mundschutzes nicht verstand, dann schob er die Trage mit der Frau und die Geräte in den Fahrstuhl. Er drückte einen Knopf. Der Junge sah erst die Patientin an, dann den Arzt und schließlich Ella. Die Fahrstuhltür schloss sich vor dem Arzt und dem Jungen und der Frau.

Auf einmal spürte Ella ihre Müdigkeit wiederkehren, eine Erschöpfung, in der sie versank wie in Treibsand. Sie ging den Korridor zurück, durch den sie noch nie vorher gegangen war. »Gute Nacht«, sagte der Pfleger, aber das hörte sie kaum noch. Nur mit Mühe konnte sie die Augen offen halten; es kam ihr vor, als hätte sie zerstoßenes Glas unter den Lidern. Sie war so durstig, dass die Zunge am Gaumen klebte. Sie ging durch die Plastiktür mit den transparenten Flügeln, und hinter der nächsten Tür trat sie erneut ins Chaos.

»Können Sie mal mit anpacken?«, rief eine Schwester. Sie drückte Ella eine Sauerstoffmaske in die Hand und beugte sich über einen jungen Mann, der in Silberfolie gepackt auf einer Trage lag und verzweifelt nach Luft rang. Ella half ihr, den Mann zu halten, während eine zweite Schwester den Körper festschnallte. Ein beißender Geruch nach Rauch, verbrannter Haut und Urin stieg von dem Körper auf.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Raums scharte sich ein Notfallteam um einen anderen Körper auf einer weiteren Trage. Es war ein sehr schmaler Körper, und hinter den Ärzten und Sanitätern stand eine türkische Frau mit angesengtem Kopftuch wie erstarrt, beide Hände vors Gesicht geschlagen. Ein Junge in rußiger Freizeitkleidung versuchte, sie von den Ärzten wegzuziehen. »Mama, komm, Mama …«

Für einen Moment gelang es ihm, sie festzuhalten, dann riss sie sich los und schrie, »Ayshe, meine Ayshe, oh Allah!« Ihre Augen waren gerötet und von Rauch und Tränen fast zugeschwollen. Immer wieder schrie sie, »Oh Allah, Allah, Herr Doktor, meine Ayshe!« und gerade als das Team die Trage wegrollen wollte, warf sie sich über den schmalen Körper. Hilflos zuckte der Junge in der Freizeitkleidung mit den Schultern. Dann fasste er sie wieder bei den Armen und zog sie zurück. Behutsam aber fest schloss er sie in seine Arme, drückte ihr Gesicht gegen seine Brust und sagte leise: »Alles wird gut, Mama, alles wird gut, ja? Alles wird gut …«

Der junge Mann unter Ellas Händen bäumte sich auf. Sie bobachtete die flatternden Lider oberhalb der Sauerstoffmaske und wusste plötzlich, dass er sterben würde. Zusammen mit der Schwester schob sie die Trage in einen Korridor, auf dem noch mehr Rolltragen standen, eine hinter der anderen. Der Gang war erfüllt vom Fauchen der Respiratoren, die Luft in die Lungen der Opfer auf diesen Tragen pumpten. So viele, dachte Ella, so viele, für die es um vier Uhr morgens keinen Platz auf der Intensivstation mehr gab.

Sie befestigte die Maske mit dem Gummizug im Nacken des alten Mannes, dann ging sie zur nächsten Trage, um zu sehen, ob sie dort etwas tun konnte.

Ein Jugendlicher, bewusstlos, die Haare weggebrannt bis auf die Kopfhaut. Sie ging weiter zur übernächsten: eine Frau, vielleicht in ihrem Alter, die Lider zuckten, Brandsalbe glänzte auf dem dunkelroten Gesicht. Einige Sekunden lang flimmerte die Luft vor Ella, und wieder drohten ihre Beine nachzugeben. Doch das Gefühl ging vorüber, und als sie in die Gesichter der Menschen sah, der Männer, Frauen und Kinder, verspürte sie kein Entsetzen mehr, nur Mitleid, das sich ihr schwer aufs Herz legte.

Sie hörte ein leises Klirren hinter sich, erst unregelmäßig, dann so präzise wie ein Metronom. Sie drehte sich um. Der sterbende junge Mann hatte ihr das Gesicht mit der Sauerstoffmaske zugewandt und klopfte mit einem Ring an der rechten Hand gegen das Metallgestell der Trage, als wollte er ihr eine Botschaft morsen. Dabei sah er sie unverwandt an. Sie kannte diesen Blick, der kein Ziel hatte, der durch sie hindurchging, weiter und weiter. Im nächsten Moment fiel der Mann zurück und lag still. In seine Miene trat ein Ausdruck, der vorher nicht da gewesen war. Erlösung.

Ella ergriff seine Hand und legte sie ihm auf die Brust. Sie nahm ihm die Sauerstoffmaske ab und zog das grüne Tuch, das ihn bedeckte, bis zur Stirn hoch. Dann wandte sie sich ab und ging zurück zum Ausgang der Notaufnahme.

»Dr. Carsten, melden Sie sich umgehend in der Kardiologie«, sagte die Frauenstimme in der Lautsprecheranlage.

Ella entdeckte den Pfleger, der ihr mit ihrer Patientin geholfen hatte. »Haben Sie Max gesehen?«

»Wen?«

»Max Jansen, meinen Rettungsassistenten. Der sich den Fußknöchel verstaucht hat.«

»Sie suchen jemanden, der sich den Knöchel verstaucht hat?«

Sie fand Max draußen im Rettungswagen. Er saß bei offenen Türen hinten auf der Kante der Transportfläche und rauchte einen Zigarillo. Der rechte Fuß war in einen Stützverband gewickelt. »Ist das schon geröntgt worden?«, fragte sie.

»Na klar«, sagte Max. »In der Radiologie hatten sie gerade nichts zu tun.«

Sie merkte, dass sie lächelte, aber es tat weh. »Komm, ich fahre dich in eine andere Klinik.«

»Nein, fahr mich nach Hause.«